Briefe, die man aus dem Traumreich zu senden versucht, kommen nach Jahren als unzustellbar zurück hinter den Vorhang aus Wolken. Einbildungen werden Realitäten in Perle, aber vielleicht auch deshalb, weil Realitäten immer schon Einbildungen sind.
![Alfred Kubin: Die andere Seite.](https://christian-erdmann.com/wp-content/uploads/2024/06/alfred-kubin-die-andere-seite.png)
SPIEGEL ONLINE Forum
„Literatur – was lohnt es noch, zu lesen?“
Mai 2008
Muffin Man:
Es hat übrigens diverse Bildende Künstler gegeben, die irgendwann Schriftsteller wurden…
Aljoscha der Idiot / Christian Erdmann:
Da empfehle ich „Die andere Seite“ von Alfred Kubin, 1909 erschienen, sein erster und einziger Roman.
„Patera, absoluter Herr des Traumreichs, beauftragt mich als Agenten, Ihnen die Einladung zur Übersiedelung in sein Land zu überreichen.“ Dieses Traumreich befindet sich angeblich irgendwo in Mittelasien, die Hauptstadt heißt Perle. Patera, dessen Reichtum unermeßlich zu sein scheint, kauft Häuser in ganz Europa zusammen und läßt die Baulichkeiten in sein Reich transportieren. Agenten dieses Traumreichs leben nämlich in allen Teilen der Welt. Auch diverse Kulturgüter und bedeutende Kunstwerke seien dorthin verschwunden. Reiche künstlerische Ausbeute seines Abenteuers erwartend, willigt der Erzähler ein, in dieses Traumreich zu ziehen.
Nach langer Reise gelangt man an eine im Dunstschleier liegende, ungeheure, grenzenlose Mauer, die sich unerwartet öffnet für ein gewaltiges schwarzes Loch, das Tor des Traumreiches von kolossalen Dimensionen. Nach Eintritt in dieses Gewölbe überfällt den Erzähler „ein ganz unbekanntes, gräßliches Gefühl“, er dreht sich um zu seiner Frau, die leichenblaß mit zitternder Stimme sagt: „Nie mehr komme ich da heraus.“
Was dann folgt, hat sowohl Franz Kafka als auch Gustav Meyrink in Bann geschlagen.
Ende des offiziellen Teils.
Kubin hat einen Plan der Stadt Perle angefertigt, der für jeden hochinteressant ist, der das Gefühl kennt, es gebe tatsächlich ein Traumreich mit exakt festgelegter Architektur. Ich selbst kannte eine Traumstadt aus vielen Träumen, und versuchte immer aufs Neue, in ein Areal im Nordosten zu gelangen; beim ersten Aufenthalt in dieser Stadt war ich zuvor umgekehrt, so wurde es in der Traumseelenarchitektur das geheimnisvolle Andere, Ausgesparte.
Muffin Man:
Das klingt hochinteressant! Stofflich unbedingt – aber wie steht es um die Ausführung?
Christian Erdmann:
Glaubst Du, Kafka und Meyrink ließen sich von irgendeinem literarischen Nichtsnutz beeindrucken? :) Kubin agiert mit einer Spontaneität, die keine so ziselierte Sprache produziert wie Meyrink im „Golem“, wo immer eine kalkulierte Gleichzeitigkeit herrscht zwischen dem, was diese Sprache an Beunruhigung beschwört, und den eruptiven Ausbrüchen daraus. Bei Kubin gibt es aber auch eine seltsame Gleichzeitigkeit: eine gewisse Distanziertheit im Angesicht des immer Ungeheuerlicheren. So wie Meyrink eher dem „Caligari“-Film gleicht mit seinem expressionistischen Gestus, so wäre Kubin eher mit Carl Theodor Dreyers „Vampyr – Der Traum des Allan Gray“ zu vergleichen, wo jemand zugleich im Geschehen ist und es von außen beobachtet. In der Serie der grotesken, phantastischen Bilder dann oft eine überraschend schroffe Wendung, eine surreale, vor den Kopf schlagende Unmittelbarkeit wie bei Bunuel:
„‚Die Liebe des Fleisches ist nichts als der Wille des Dings an sich, in die Zeitlichkeit einzudringen. Wie könnt ihr so vermessen sein, das Ding an sich zu zwingen? Ihr unterscheidet nicht das Ding an sich von den anderen Dingen. Vom philosophischen Standpunkt aus muß ich eure Handlungen verdammen.‘ So sprach der Friseur angesichts der Saturnalien auf den Tomassevicfeldern.
Da er mit seinen zur Feier des Tags durchaus nicht passenden Tiraden nicht aufhören wollte, warf man ihm eine Schlinge um den Hals und hing ihn an das Schild seines Barbierladens.“
Extrem reichhaltig, nicht nur philosophisch – Patera ist ja, auch, Nachfahr (des Robespierreschen Umschlagens von Menschheitsvision in Schreckensherrschaft) und Vorläufer -, aber die andere Seite bleibt Innen, und wo Meyrink näher am Horror ist, bleibt Kubin näher am Surrealismus, mit dessen Mischung des Makabren und Komischen. Und wo Horror immer zumindest zur Lösung der Rätsel drängt, das „Phantastische“ deren Unauflösbarkeit zumindest akzeptiert, sympathisiert der Surrealismus ja gerade mit dieser Unauflösbarkeit.
Geschrieben in zwölf Wochen, you get the idea.
Muffin Man:
Das mag ich an Deinen Beiträgen: Du schilderst Bücher und Filme aus der Perspektive eines „Besessenen“. Sorry, bei den von Dir genannten Filmen muß ich passen, vielleicht hab‘ ich einzelne mal in jungen Jahren gesehen, im 3. Programm des Norddeutschen Rundfunks, als das Fernsehen (jedenfalls im Wohnzimmer meiner Eltern) noch schwarz-weiß war.
Geschrieben in zwölf Wochen, you get the idea.
Zwölf Wochen hast Du für dieses Posting gebraucht?! *staun* ;-)
Ich hatte natürlich „Kubin“ und „Perle“ sofort gegoogelt – und hab‘ da was von 8 Wochen gelesen.
Christian Erdmann:
Zwölf Wochen hast Du für dieses Posting gebraucht?! *staun* ;-)
Ja, während The Lost Weekend warfen die Uhren resigniert die Zeiger ab.
„Perle“ in ewiges Grau getaucht, das war ein beherrschender Leseeindruck, dieses Grau, ähnlich wie die Omnipräsenz des Weiß in Melvilles „Moby Dick“.
8 Wochen gar nur, das Vorwort meiner Ausgabe sagt 12, aber ach.
5 Antworten auf „Alfred Kubin: Die andere Seite“
Kubin! JA! … zu dem Roman kann ich zwar nichts sagen, ABER …*waaah* … ich hatte eine Verwandte (schon lange verstorben, ich habe sie nie persönlich kennengelernt), die hatte eine Zeit lang beim Alfred Kubin als Haushälterin gearbeitet. Na ja, und ich weiß aus Erzählungen, dass der Herr Kubin manche seiner Zeichnungen, die ihm missfielen, einfach zerknüllte und in den Mistkübel warf. Diese Zeichnungen wurden dann oft zum Einheizen von ihr verwendet, manche aber nahm sie mit nach Hause und bewahrte sie dort auf. Ich habe dann eine andere, sehr nahe Verwandte, die mir das alles erzählte, danach gefragt, wo diese Zeichnungen denn nach ihrem Ableben (der Haushälterin) hingekommen wären, und es wurde mir gesagt, dass auch sie welche bekommen hätte, aber allesamt … :-/ … ja … irgendwie als sie daheim auszog, umzog etc … beim Entrümpeln … alles weg. :-((
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Du kannst es nicht sehen, aber ich starre Dich gerade entgeistert an. :) Was für eine Geschichte. Oh heilige Hölle. :) Kubinzeichnungen zum Einheizen. „Was ist zu machen!“ (Dostojewski).
Jedenfalls, „Ich hatte eine Verwandte, die hatte beim Alfred Kubin als Haushälterin gearbeitet“ ist mit Sicherheit der schönste Satz der Welt heute. :) Auf dem Schloss Zwickledt??? „Noch ein Wort und Sie haben mich hier liegen!“ (Louis de Funès) :)
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;-yes *auffang*
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„Wo er auch ‚Die andere Seite‘ geschrieben hat! Unfassbar!“ rief er aus, während sie ihn sanft zu Boden gleiten ließ. :)
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*schmunzel*
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