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Vorweihnacht

Liebespakt, Schatten des Windes, Control

What’s this?
Vorweihnacht

Liebespakt, Schatten des Windes, Control. Briefwechsel aus der Reihe "Vorweihnacht" mit Christian Erdmann und Mlle. Catherine. Bild: Alexandra Maria Lara in "Control", Regie Anton Corbijn.

Und, haben Sie vorhin „Der Liebespakt“ gesehen, „Les Amants du Flore“? Hat es Sie über Schwarzersche Impertinenz hinweggetröstet? Ich war sehr beeindruckt, warum eigentlich wird erst jetzt ein Film aus dieser Geschichte? Lorànt Deutsch sah Sartre so ähnlich, daß es fast zum Lachen war. Anna Mouglalis, halb Jane Birkin, halb Nofretete, Lagerfelds Chanel-Gesicht hat da für einen sehr strengen Glamour gesorgt, den Simone zu ihrer Zeit vielleicht ebenfalls ausstrahlte. Wunderschön, geradezu unheimlich, diese kurze Szene, dieser side view auf der Straße, als beide wohl der Sorbonne entgegenstreben, und man sieht hinter dem damenhaften, aufrechten Gang der bedeutend größeren Simone nur Sartres vorgebeugten Oberkörper, seinen Kopf, der dem Körper so energetisch voranstürmt, als zöge er ihn hinter sich her. Wunderbar auch die Meskalin-Szene: „Die Languste! Sie ist riesig! Passen Sie auf!“ – „Sie verhalten sich wie ein Dorftrottel.“

Billy Corgan: „I’m a Pisces, and Pisces have this weird inability to be completely spontaneous. We’re too conscious of our actions. I’ve always been way too sensible for my own good.“ Saturnischer Ernst ist etwas ganz anderes, hat sehr viel mehr mit Selbstdisziplin zu tun, mit einem Gefühl für Würde, und auch mit einer seltsamen Positionierung in der Zeit. Nicht nur wurde der Begriff „in the long run“ entweder von einem oder für den Capricorn erfunden, was vielleicht auch Simones Entscheidung für den Pakt beeinflußte; er hat auch einen unauslotbaren Bezug zu Vergangenheit und Zukunft, etwas seltsam Panoramisches ist darin.

Und so ist denn vielleicht des Steinbocks Idealismus aus Blei gemacht, aber seine illusionslose Stärke führt viel eher zum Ungeahnten als die Träume hochfliegender, aber seichter Geister. Auf jedem Gebiet, ich schwör’s nochmal bei Heidegger; doch Sartre drückt das in dem Moment sehr gut aus, als er beeindruckt von Simones „Le deuxième sexe“ zu ihr sagt: „Ich wollte die Welt verändern, aber Sie haben es gemacht.“

Nein, keiner weiß genau, welche Rolle er im Leben eines anderen spielt, aber zu Ihrer Rolle in meinem Leben gehört es gerade, mich an die Bedeutung dieser beiden in meinem eigenen Dasein zu erinnern. Schrieb an der Uni eine Arbeit über das Verhältnis von Sartre und SdB zu Sterben und Tod. Sartre formuliert eine Haltung mit scharfer intellektueller Kälte und hält sie durch: der Tod berührt das Leben nicht. SdB schreibt in Wellen darüber – vom „metaphysischen Ärgernis“ zum Mitleiden mit „Maman“. Das Beschreiben des Anderen – das tiefe Empfinden für den Anderen. Sartre hielt „Ein sanfter Tod“ am Ende für Simones bestes Buch.

Der Film zeigte sehr schön, wie es im Wagnis dieses Pakts nicht ohne Verletzungen, Eifersucht, Ressentiments geht. Wie auch Algren das tiefe Empfinden für den Anderen auf einer bestimmten Ebene für Simone entfesselt. Wie es plötzlich heißen muß: „Ich liebe ihn, ich habe keine Wahl.“ Und doch gab es diese Ebene, auf der diese beiden sich verstanden wie sonst niemand: als wäre einer ohne den anderen einfach nicht ganz wahr gewesen.

Ich versuche, gegen meine Natur, mich kurz zu fassen, und möchte daher nur sagen, daß Ihre Beschreibung der Geigenstunden mich sehr bewegt hat, und daß Sie darob den Roman erneut hervornahmen, ist das größte Kompliment, das Sie einem Autor machen können, der darauf besteht, in seinem Werk vollkommener Realist zu sein, auch wenn es der Realismus von wenigen sein mag. Vielleicht werden Sie einmal von dieser Zeit sagen, es sei die verwunschenste Ihres Lebens gewesen – und eine der bedeutendsten. Denken Sie daran: man hat Zukunft wie noch nie, wenn die Gegenwart bedeutsam ist wie nie.

Vielleicht waren Sie ja heute auch im Kino und haben „Control“ gesehen? Gestern war doch wohl D-Premiere?

Sic, ich werde bei den Smashing Pumpkins sein; wie es dazu kam, – ist wieder ein Fall, an dem die Ratio versagt.

„Sie ist ja emsig. Und wie Sie arbeitet – wie ein kleiner Biber.“

Oh ja, ich habe ihn gesehen, complete happiness und in meiner Kühnheit habe ich gehofft, Sie hätten ihn auch gesehen. :) Ich war sehr skeptisch, nun überzeugt. Eine bezaubernde Beauvoir und ein nerviger, aber genialer kleiner Sartre, so ähnlich kann es gewesen sein. Mich beeindruckte speziell die Szene, in der Sartre Simone in dem Café aufspürt, nachdem er sie mit der Amerikareise hintergangen hatte. Apart from all that rubbish konnten sie gar nicht anders als sich wieder gemeinsam in die Arbeit und das Reden zu stürzen, unaufhaltsam trägt der Redefluß beide mit sich fort in ihre gemeinsame Welt. Berauschend. Ja, und das, was Sie inhaltlich zu der Szene schrieben, würde ich genauso unterschreiben. Wobei Sartre selbst es war, und das wurde im Film nicht erwähnt, der sie zu dem Buch inspirierte. „Sie vergessen, dass Sie eine Frau sind, schreiben Sie darüber.“ So sagte er und daraufhin tat sie es. Dies bleibt unerwähnt und gibt dem Film etwas Filmdramatik, weil man nicht ganz leicht erkennt, warum sie einander so viel bedeuteten, meinen Sie nicht? Vor allem beeindruckte mich auch die unglaubliche Detailliebe. Kleidung, Farben, Gegenstände, Bemerkungen, Umgebungen.

Warum erst jetzt. Vielleicht hatte es etwas mit rechtlichen Besitzansprüchen zu tun, aber ich habe schon auch den Eindruck, dass es wieder eine Hinwendung zu den großen Denkern und den Denkerinnen gibt, weil der eine oder andere sich zu fragen beginnt, was man der immer absurderen Verdummungsindustrie entgegensetzen kann und muß. Kürzlich wurden sämtliche BBC-Verfilmungen von Jane Austen auf DVD veröffentlicht. Eigentlich erstaunlich, da sie seit Jahren nicht im TV liefen. Die Nachfrage ist aber da, und eine Stolz und Vorurteil-Verfilmung mit Keira Knightley mit alternativem Ende für die phantasiefreien Amerikaner kann der BBC nicht das Wasser reichen.

Es trug sicher zum Bestehen des Paktes bei, dass Simone de Beauvoir capricornish dachte und fühlte. Sie war es auch, die ihn nicht heiraten wollte. In ihren Memoiren ist es anders als im Film festgehalten, dass er sie vor Kriegsbeginn sehr wohl heiraten wollte. Sie lehnte ab. Ob sie ahnte, was sie der Zukunft, den Frauen geben würde? Sie sagt im Film: Ich liebe ihn, ich habe keine Wahl. Aber sie tut es nicht, weil sie doch eine hat. Sie geht nicht mit Algren, sie geht nicht nach Amerika, sie kann ihn nicht überreden, in Paris mit ihr zu leben. Weil es auch Rache war an Sartre, auch Eitelkeit, auch Fremdheit zwischen ihr und Algren. Die Beziehung war eigentlich schon wieder zu Ende gegangen, bevor Algren nach Paris kam. Es war zu spät. Sie war schon angekommen bei sich, ihrer Identität, ihrem Platz in der Welt. Sie war Schriftstellerin und musste diesem Ruf folgen, mehr als dem der „Liebe“, die neben dem Pakt, ihrer Position und ihren Aufgaben nicht standhalten konnte.

Doch war sie am Ende ihres Lebens nicht ganz zufrieden mit dem, was sie erduldet hatte und was sie den jeweils Dritten zugefügt hatten. So ist der Pakt ein unglaublich mutiger und revolutionärer Versuch einer anderen Zeit und ich frage mich, auf welche Weise er optimiert werden müsste, nein, streichen Sie optimiert, nein, eher, wie es gehen könnte, so etwas, ich weiß noch nicht, aber es muß anders gehen, irgendwann, mal sehen… ich denk nochmal drüber nach… 2 Uhr 58. ;)

Ich habe noch nicht die richtigen Worte für das, was ich für die Beiden empfinde. „Geistige Eltern“ wäre anmaßend, aber wünschenswert.

„Control“ entließ mich mit weit aufgerissenen Augen aus dem Abaton stolpernd in eine Nacht monotoner Bassläufe; unsichtbares Weinen über Verlorenes, Vergangenes und Verweilendes; Kerzenlicht, Bier und Joy Division; Denken an Jugend im Plattenbau, entfliehen aus Enge, Dummheit, Langeweile; der Wunsch, die Welt in schwarz-weiß zu sehen und London der späten 70er; unrettbar Sam Riley verfallen, für seine Art, Ian Curtis zu sein, sich zu bewegen, sein Blick directly into the heart. Köstlich: Grönemeyer in einer Nebenrolle. Der Film ist grandios!

Confusion in her eyes
That says it all
She’s lost control 

So war es, nichts konnte standhalten gegenüber diesem Pakt, es ist ohnehin die Zeit, in der sich diese Erkenntnis durchsetzt, Jeordie ist wieder Twiggy und zurück bei Manson. Interessant ist, wie auch Manson die Zeichen am Wegesrand deutet: der Moment, in dem Page und Plant sich in der 02-Arena bei „Stairway To Heaven“ einen Blick zuwarfen, war offenbar der trigger-Moment für MM, in dem er wußte, es muß so sein. – Ob es so sein mußte, ist eine andere Frage.

Nach Ihrem Taumeln durch eine Nacht monotoner Bassläufe bin ich noch gespannter auf „Control“.

„The turning point for me was when I went to see Led Zeppelin’s reunion show, and I saw Jimmy Page and Robert Plant look at each other for a moment, and they probably said, ‚Holy shit, we wrote ‚Stairway To Heaven‘.“ – Marilyn Manson

Just back from Control.

Manager nach Ians epileptischem Anfall auf der Bühne: „Could be worse. You could be singer of The Fall“. :)

Es scheint, als sei seit Control alles ein wenig verändert. In keinem anderen Film wurde mir vorher so deutlich, dass meine Haltung dem Leben und der Gesellschaft gegenüber unter anderem, aber vor allem auch diesen Wurzeln und dieser Musik, dieser Zeit entsprungen ist. Control kam im rechten Moment, um mich durcheinander zu wirbeln. Ihrem kurzen Satz vom 22. entnahm ich eine bei Ihnen offensichtlich ähnliche Erreichbarkeit? Das Wetter tut seinen Teil dazu, wie oft wurden Sie durchs Wasser gezogen in den letzten Tagen? Keine Winkzeit.:)

„Der Schatten des Windes“ beeindruckte mich mit geradezu genialer Technik, brillanten und humoresken Einfällen und einer großartigen Figur: die des Fermín. Wer wollte nicht so einen guten und gewitzten Freund an seiner Seite? Gewisse Teile der Handlung störten mich allerdings. Die Geschwister-Lösung schien mir unmöglich und allzu feenhafte Frauenfiguren irritieren mich immer. Ich weiß nicht mehr, wo ich es kürzlich las, aber Frauen haben sich keine solchen idealisierten Ikonenbilder von Männern geschaffen und jeder Versuch, dies nachzuholen, scheitert an der nicht vorhandenen Basis einer solchen Kultur, auf der eine männliche Sichtweise der Frau beruht. Sonst aber ein sehr spannendes Werk, das mich natürlich nicht losließ. Erinnerte mich auch ein wenig an Pascal Merciers Nachtzug nach Lissabon, den zu besteigen ich Ihnen auch unbedingt empfehle. 

Seit ich, mit 5 oder so, Michel Polnareff „Meine Puppe sagt non“ im TV singen sah, die Melodie mich in Wehmut stürzte und ich über sprechende Puppen nachdachte, besteht meine „Erreichbarkeit“ durch Musik, die immer mehr ist als nur Musik, wahrscheinlich im permanenten Durcheinandergewirbeltwerden, ein ständiger Veitstanz, den ich nur verdecke. Ich wäre nicht ich ohne Musik. Übrigens wäre auch „Aljoscha der Idiot“ nicht „Aljoscha der Idiot“ ohne Musik. Damit meine ich jetzt nicht den „griechischen Chor“. – „Control“ ging aus bestimmten Gründen fast zu sehr unter die Haut, und um dazu den Abstand zu wahren, schreibe ich Ihnen lieber, was ich im SpOn hinterließ. Gleich.

Fermin möchte man stundenlang zuhören. Ein sehr bewegender Geist der Solidarität weht durch die ganze Geschichte, von der Art, wie Daniels Vater seinen Sohn anblickt, ahnend, in welchen Bredouillen er sich herumtreibt, doch vertrauend darauf, daß sein Sohn das Richtige tun wird; über die Art, wie Nurias Vater die Tür zu der verborgenen Bibliothek öffnet, dabei zu Fermin sagt: Sie wissen wohl, daß Ihr junger Freund hier ein Verrückter ist, und dabei nichts Zärtlicheres über Daniel hätte sagen können; bis zu der Art, wie Fermin dem Alten im Asylum eine Blondine verspricht. Wie Miquel heimlich die Druckkosten bezahlt etc.

Man wünscht sich hinein in die Geschichte und, Sie sagen es, direkt an die Seite Fermins. Daniels ironischer Tonfall schien mir am Anfang etwas zu cool für sein Alter, geradezu hard-boiled, aber er wird im Lauf der Dinge derart weichgekocht, daß es sich sozusagen ausgleicht; die Geschichte hat die Macht, daß einen alles möglicherweise etwas Fragwürdige (aus den bei den systematischen Nachforschungen von Daniel und Fermin zögernd bis widerstrebend vorgetragenen Erinnerungen werden seitenlange, etwas unglaubwürdig detaillierte Nebenerzählungen) nicht die Bohne interessiert. Aber das Wichtigste ist ohnehin: der geheime Plan hinter allem. Das Buch wählt Daniel. „Niemand hatte es bemerkt, aber wie immer war das Maßgebliche bereits entschieden, bevor die Geschichte auch nur begonnen hatte.“ Kurz, bevor man mir Zafón in die Hand gab, begann ich eine Geschichte mit: „Tatsächlich ist der Augenblick, in dem eine Geschichte ihren Lauf zu nehmen scheint, nur wie das Auftauchen der Seeschlange, die schon seit Äonen durch die Ozeane gleitet.“

Auf mich regnet es sowieso aus einer mitschwebenden Privatwolke, darum ist mein Zug durchs Wasser nicht weiter der Rede wert. Erneut muß ich Ihnen aber, aufgrund Ihrer Überlegungen zu idealisierten Ikonenbildern, ganz dringend Camille Paglia empfehlen. Wie mein Freund Jörg Vollmer (10) über den Brockhaus sagte: „Da steht alles drin von der Welt.“ In den Nachtzug nach Lissabon werde ich mich vermutlich dann auch wünschen.

Now.

Wenn man Curtis auf „Isolation“ hört, das Album dann mit „Heart And Soul“ in Geisterhaftigkeit abdriftet, der ewige Kampf dieses 23jährigen schließlich in der bleakness von „The Eternal“ und „Decades“ endet, wenn man versucht, sich die „Stroszek“ / Iggy Pop „The Idiot“-Nacht vorzustellen: noch immer gibt es in der Musik wenig, was so unter die Haut geht wie „Closer“, zwei Monate vor dem Suizid aufgenommen, posthum veröffentlicht.

Corbijn hätte viel falsch machen können, aber er hat alles richtig gemacht, angefangen mit der Besetzung. Sam Riley ist großartig.

Die beiden unberührbaren Monolithen „Love Will Tear Us Apart“ und „Atmosphere“ verbleiben im Original, aber wie Riley „Dead Souls“ singt, verursacht Gänsehaut. Auf der Bühne ist er wie eine bewegte Montage aus allen Bildern, die man je von Ian Curtis sah. Das Haus in der Barton Street. Es hatte immer etwas Seltsames, daß gleich zwei der Originalmusen, die Muse der rätselhaftesten Schönheit von Songlyrics und die Muse der unausweichlichen Tragödie, in diesem Macclesfield Lower Middle Class-Bau hausten, in diesem Schauplatz der verzweifelten Sehnsucht einer jungen Frau nach dem kleinen Glück mit den schrecklichen Gardinen und der schrecklichen Vase auf der schrecklichen Kommode, und doch war es aufgehoben in der Unmöglichkeit, ein Joy Division-Stück zu beschreiben: Schauplatz der Nichtkommunizierbarkeit. Eine der bewegendsten Szenen: wie Riley / Curtis nur schweigend den Kopf senken kann vor Debbies Tränen: „Who’s Annik? Hey? How long have you been seeing her? Answer me, Ian! Don’t ignore me! I don’t deserve this… I don’t deserve this…“. Nur in der Einsamkeit der Kunst war die Antwort möglich: „Atmosphere“.

Corbijn war behutsam genug: Annäherung gelungen, das Enigma bleibt.

Na na, your own personal cloud, hm? Da ich über die staatliche Erlaubnis zur Führung der Bezeichnung Krankenschwester verfüge, verordne ich als solche Schopenhauer in hohen Dosen. Es gilt: viel hilft viel! „Für die Menge habe ich nicht geschrieben… Ich übergebe also mein Werk den einzelnen denkenden Wesen, welche als seltene Ausnahmen im Laufe der Zeit erscheinen werden und denen zu Muthe seyn wird, wie mir war, oder wie dem Schiffbrüchigen auf der unbewohnten Insel ist, dem die Spur eines früher dagewesenen Leidensgenossen viel mehr Trost giebt, als alle Kakaduen und Affen auf den Bäumen…“

Ian / Sam in seinem Zimmer mit der neuen Bowie-Platte und später, als Debbie das erste Mal in sein Leben tritt und er sagt: If you dont smoke you can’t be in my gang, Debbies I don’t want to be in your gang und Ians Me too – Control lässt diejenigen, die erreichbar sind, sprachlos zurück, ich sehe und höre es. Und wenn man die Sprache wieder findet, gibt es eigentlich niemanden, der aushalten könnte, was es zu sagen gäbe. Schon gar nicht die, denen der Film entging, obwohl sie ihn sahen. (Imaginieren Sie an dieser Stelle einen genervten Blick und schreiben Sie diesen meiner eigenen schopenschaurigen Stimmung zu.)

Andere wiederum sehen den Film gar nicht erst, aus Angst, er könnte sie zu sehr berühren, was ich wenigstens als Zeichen von Konsequenz werten kann. Zu Ihrer und Aljoschas Erreichbarkeit, erinnern Sie sich vielleicht noch daran, dass ich einmal sagte, Sie müssten die CDs eigentlich mitliefern. :) Wußten Sie, das Grönemeyer Corbijn zu dem Film überredete?

Mit 5 (oder 7) hörte ich Mireille Mathieus „Hinter den Kulissen von Paris“ hingebungsvoll und hoffte, das Leben würde eines Tages so interessant, wie sie versprach.

In Zafons Roman liegt Spanien von hier aus gesehen genau hinter diesen Kulissen. Ja, der bemerkenswerte Zusammenhalt und die Geschichte, die sich nicht nur entwickelt, sondern auch entspinnt. Und welchen Schmerz die Figuren bereit sind auf sich zu nehmen. Carax, aber auch Nuria und Miguel. (Sie schreiben es: man wünscht sich in die Geschichte. Dies schrieb ich eigentlich über Control, aber ich strich es wieder, warum auch immer.) Ob Solidarität eine spanische Kultureigenschaft ist? Undeutsch jedenfalls. (Schopenhauers Schimpfen über deutsche Dummheit belustigte mich auf befreiende Weise, außerdem seine Meinung über Hegel, aber das ist ein anderes Thema.) Im Nachtzug klingt ein gewisser Zusammenhalt auch an, vielleicht eher portugiesisch verhalten.

Lorànt Deutsch und Anna Mouglalis in "Les amants du flore".
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Literatur Musik

Iggy Pop

Iggy Pop. Artikel von Christian Erdmann: Bild: "Lust For Life" Album Cover.

Am Abend des folgenden Tages kam Hilfssheriff James Osterberg über die Eselsbrücke in die Stadt geritten. Der Mann, den sie Iggy Pop nannten, dutzendmal geteert und gefedert, der Mann, der wußte, daß man alle Ausgänge kennen muß, bevor man durch den Eingang geht. Lang hatte er Blaßgesichtern das Feld überlassen; jetzt war er zurückgekehrt, um erneut seinen existentialistischen Halsbrecher-Report über die Bretter gehen zu lassen und die Anatomie zu schinden wie kein zweiter, den sehnigen glänzenden Gauklerkörper – man konnte sagen, dieser Körper hatte Charakterstärke – versehen mit einer rituellen Zeichnung: Narben all der Wunden, die der Mann sich zugefügt hatte in Zeiten, als die Frage „Was ist das Problem, James?“ einen konvulsivischen Anfall zur Antwort bekam, begleitet vom Metallgewitter der drei bösen Stooges, weil das Problem war, daß man für das Leben ein zweites Leben als ständigen Kurort gebraucht hätte. Well, Leute. Intensität fängt irgendwann zu brennen an. Allen, die es wissen wollten, erklärte der Mann den Grund für seinen langen Rückzug: er hatte seinen Selbstrespekt verloren. Er hatte eine völlige Neuordnung seines Lebens vorgenommen. Er hatte die Selbstauflösung angehalten und im eigenen mentalen Irrenhaus die Rolle des Platzanweisers übernommen. Eine kopernikanische Wende. Wenn man sich selber ständig in die Quere kommt, hilft ein innerer Amoklauf. Sich nichts mehr vormachen und nichts mehr mitmachen, was man nur durchmacht. Siedende Wahrhaftigkeit aushalten, einem einfachen und starken Sinn zuliebe. „Ich wollte herausfinden“, sagte der Mann, der schon alles gesehen und in der Hölle die Asche zusammengefegt hatte, „ich wollte herausfinden, was ein Liter Milch kostet.“

Das hatte es in sich. Die Würde in diesem Satz! Das ließ den Spiegel der Vorspiegelung falscher Tatsachen zu Bruch gehen. Das gab Sachschaden. Das warf Scheinwelt und Fassaden in den Orkus. Ein Mantra gegen faulen Zauber und Staffage. Vordringen zum wahren Jakob. Herausfinden, was ein Liter Milch kostet. Ein Kôan war das.

Und dann sagte der Mann noch etwas. Er sagte: „Es mußte getan werden, also tat ich es.“ Gott selbst hätte es nicht besser ausdrücken können.

An einem Abend im Dezember konnten Leda und Aljoscha miterleben, was geschieht, wenn Iggy Pop ein paar Bühnenbretter vorfindet, und die Meute, der sie angehörten, wußte, was sie dem Mann schuldig war. Vier Helfershelfer schufen einen Klangwall, auf dem Pop wilde Zeichen machte wie Pierrot auf Glatteis. Er holte das letzte aus sich heraus, und so herausgeholt sah das letzte noch viel besser aus. Der Genosse Osterberg, er lebe hoch, hoch, hoch! Von diesem Schauspiel würde man noch Jahre zehren, und Aljoscha fühlte sich nach dem Konzert so erquickt wie ein Spatz nach einem Sandbad.

Christian Erdmann, „Aljoscha der Idiot“


Wie kann ein Mensch in das, was er an der Welt liebt, nicht „The Idiot“ und „Lust For Life“ inkludieren? Eine Welt, in der diese beiden Platten gar nicht vorkommen, ist das überhaupt eine Welt? „I love those records so much“, läßt Josh Homme die Katze aus dem Sack, als 2013 „… Like Clockwork“ erscheint. Schon 1995 A.D. sind es diese beiden Werke von Iggy Pop, die Homme zur Offenbarung gereichen, mit dramatischen Folgen: auf der Stelle löst er Kyuss auf und gründet die Queens of the Stone Age.

Iggy Pop wiederum erklärt 2016 die Queens of the Stone Age in ihrer Mischung aus Virtuosität, Emotionalität und Präzision zum Inbegriff von Brillanz; besonders zwei Stücke von „… Like Clockwork“, das Titelstück und „The Vampyre Of Time And Memory“, hätten ihn berührt wie seit 40 Jahren nichts.

Daß „Post Pop Depression“ die Vollendung einer Trilogie nach 39 Jahren ist, würde Gott selbst unterschreiben, wenn ihm denn sein derzeitiges Dasein als durchgeknallter Heckenschütze Zeit ließe, doch nach den erschütternden Todesfällen von Lemmy und David Bowie erschien „Post Pop Depression“ wie Ausgießung des heiligen Geistes, Rettung, Trost. Daß Iggy Pop und Josh Homme in aller Heimlichkeit zur Schöpfung schritten, und daß diese Schöpfung tatsächlich so großartig ist, wie man es sich nur hätte ausmalen können, injiziert eine Dosis unfaßbarer Richtigkeit ins zerrüttete Weltgeschehen. Homme ist ein Heiliger, und was er anfaßt, wird zu Gold. Gesegnet der Tag, an dem er begriff, daß der Absender der mittlerweile legendären SMS tatsächlich Iggy Pop mit seinem ollen Klapp-Phone war. Homme: „Mir war nur klar: Wenn mich hier jemand verarscht, werde ich ihn dafür umbringen.“

Ich war 20, als ich zwei große Lautsprecherboxen im Abstand von etwa 70 Zentimetern auf den Teppich stellte und meinen Kopf, der dazwischen lag, mit „Lust For Life“ in die Luft sprengte. Dieser donnernde Drumbeat, 72 Sekunden bis HERE COMES JOHNNY YEN AGAIN, die umwerfendsten Einstiegssekunden eines Songs ever.

UNCUT: Iggy claims ‚Lust For Life‘ was written in front of the TV in Berlin, with a rhythm copied from the tapping Morse Code beat of the Forces Network theme. Is this the case?

BOWIE: Absolutely.

Es gibt mehrere Gründe, warum der Roman „Aljoscha der Idiot“ heißt, aber ohne „The Idiot“ von Iggy Pop hätte ich ihn nie geschrieben.


SPIEGEL ONLINE Forum „Literatur – was lohnt es noch, zu lesen?“

September 2009

hans-werner degen:

Zweigs Dostojewski interessiert mich deutlich weniger als mein eigener…

Christian Erdmann:

„Dostojewski ist nichts, wenn nicht von innen erlebt.“ (Stefan Zweig)

einEi:

Stefan Zweig, der bekannte Schriftsteller, soll das gesagt oder geschrieben haben? Wann? Wo? Sie müssen schon mit Quellen arbeiten, sonst versteht hier keiner mehr, was das alles soll.

Christian Erdmann:

„Sehr schön. Wenn Sie zur Tagesordnung sprechen, gut und schön. Gut und schön, wenn Sie zur Tagesordnung sprechen. Fahren Sie fort.“ (Flann O’Brien)

KLMO:

Im Detail ist Dostojewski ein Meister der menschlichen Psychologie. Doch wie löst er die Problematik als Ganzes?

Seine Werke quellen über von Schuld und Sühne, Gott und Teufel, Paradies und Hölle, alles Metaphern, derer sich bevorzugt das Christentum bedient…

Christian Erdmann:

Iggy Pop, den die meisten nur als „Godfather of Punk“ kennen, ist ein sehr belesenes Kerlchen, was sich zuletzt darin ausdrückte, daß er sich von Houellebecqs Roman „Die Möglichkeit einer Insel“ zu einem Album inspirieren ließ. 1993 ließ er auf seiner „American Caesar“-Platte in seiner Version des Klassikers „Louie Louie“ kurz verlauten: „I’m as bent as Dostoevsky“.

Schon 1977 durfte man annehmen, daß Iggy Pop seinen Fjodor kennt: in diesem Jahr brachte er zwei Platten heraus: „The Idiot“ und „Lust For Life“. Zwei Titel, die, zusammengenommen, Dostojewski in der Nußschale ergeben.

AS BENT AS DOSTOEVSKY

Iggy Pop, The Idiot Album Cover.

zeigt sich Iggy Pop schon auf dem Cover, das sowohl von Heckels „Roquairol“

Erich Heckel, Roquairol.

(nicht umsonst schleppte Bowie Iggy in Berlin durch die Expressionismus-Sammlungen)

inspiriert ist, als auch jenen Bildern Egon Schieles gleicht, in denen die Verzerrung und Verdrehung menschlicher Gestalt wie der Ausdruck des Fehlens jeglicher inneren Ausgewogenheit wirkt. Isoliert wirkende Gestalten – die Journalistin Kerstin Bode betitelte einen Artikel über Iggy Pop mal mit „Isolierter Sprengsatz“ und spricht von seiner „grausamen Einzigartigkeit“ –; Gestalten, die Schiele in „kompromißloser Selbstentäußerung“ (Erwin Mitsch) aufs Blatt bringt, und über die Mitsch sagt: „Die organische Einheit des Körpers … wird zerrissen in einander widerstrebende und bekämpfende Teilstücke. Sie werden Spiegelbild und sichtbarer Ausdruck innerer seelischer Kräfte und Vorgänge.“

Iggy Pop „dehnt/biegt und krümmt seine Gliedmaßen zu Formen, die dem Gravitationsgesetz trotzen. Freiübungen eines Ballettänzers, der an der Starkstromleitung hängt.“ (Harald InHülsen, ca.1980).

Qual/Schmerz/Lust/Erregung.

Eines von Schieles Selbstbildnissen trägt den Titel: „Ich liebe Gegensätze“.

Werner Theurich, den Hiesigen eher als „sysop“ bekannt, schrieb nach einem Konzert von Iggy Pop in „Knopf’s Music Hall“ (heute Docks), bei dem ich auch zugegen war, über den „ewigen Märtyrer“ (Zitat Theurich): „Nicht zu reden von Iggy Pops offensiven Bühnenshows, die über das Publikum hereinbrachen, mit denen Iggy sich auslieferte, Angst machte und immer um den vollen Einsatz spielte.“

Iggy Pop im Sommer 1979:

„Ich habe gerade in der Herald Tribune eine Geschichte über den Nuklearen Endkampf gelesen; weißt du, was Bowie machen würde? Er schlägt seine Landkarte auf, sieht nach, wo die Bombe explodieren wird, steigt sofort ins Flugzeug und begibt sich an einen sicheren Ort, vielleicht Argentinien. Ich werde genau das Zentrum raussuchen, wo die Bombe aufschlägt, denn ich will es fühlen, genau da! Die Hitze spüren, den Schmerz!“

Poetische Übertreibung, vielleicht.

Brocken aus Stefan Zweig über Dostojewski:

„Von jeder seiner Gestalten führt ein Schacht hinab in die dämonischen Abgründe des Irdischen, hinter jeder Wand seines Werkes, jedem Antlitz seiner Menschen liegt die ewige Nacht und glänzt das ewige Licht … Wer viel von sich selbst weiß, weiß auch viel von ihm … die Liebe zum Leid, das unendliche Mitleiden …

…Ein unaufhörlicher Kampf ist zwischen Dostojewski und seinem Schicksal … Alle Konflikte spitzt es ihm schmerzhaft zu, alle Kontraste dehnt es ihm zum Zerreißen schmerzhaft auseinander … Amor fati, die hingegebene Liebe zum Schicksal, die Nietzsche als das fruchtbarste Gesetz des Lebens preist, läßt ihn in jeder Feindlichkeit nur die Fülle fühlen, die Heimsuchung als Heil … Gegen eine solche dämonische Verwandlungskraft des Erlebnisses verliert das äußere Schicksal gänzlich seine Herrschaft … Triumph des Menschen über sein Schicksal, eine Umwertung der äußeren Existenz durch die innere Magie … hat auch das Glück seiner Menschen nichts von einer gesteigerten Heiterkeit, sondern es flimmert und brennt wie Feuer … Nie war vor ihm die Gegensätzlichkeit des Gefühles ähnlich weit aufgerissen, nie die Welt so schmerzhaft weit gespannt wie zwischen diesem neuen Pol der Ekstase und Zernichtung, die er jenseits aller gewohnten Maße von Glück und Leiden gestellt hat … leidenschaftlicher Bejaher seines Schicksals … Dostojewski provoziert im Glücksspiel das Schicksal: … was er ihm abgewinnt, ist äußerster Nervenrausch, tödliche Schauer, Urangst, das dämonische Weltgefühl … Er will unendliches Leben. Und Leben ist ihm einzig elektrische Entladung zwischen den Polen des Kontrastes … Seine Moral geht nicht auf Klassizität, auf eine Norm, sondern einzig auf Intensität … Lust (zeugt) das Leiden und das Leiden wieder Lust. Ewig berühren sich die Gegensätze … Grenzenlose, restlose wissend-wehrlose Hingabe an sein zwiespältiges Schicksal, amor fati ist darum Dostojewskis letztes und einziges Geheimnis, der schöpferische Feuerquell seiner Ekstase. Eben weil das Leben ihm so gewaltig zugemessen war, weil es ihm Unermeßlichkeiten des Gefühles im Leiden auftat, hat er das grausam-gütige, göttlich-unverständliche, ewig unerlernbare, ewig mystische Leben geliebt … Er will nicht wie Goethe zum Kristall erstarren … sondern Flamme bleiben, selbstzerstörend, täglich sich vernichtend, um täglich sich neu aufzubauen, ewig sich wiederholend, aber immer mit gesteigerter Kraft und aus gespannterem Gegensatz. Er will nicht das Leben meistern, sondern das Leben fühlen … Und nur so, als der „Gottesknecht“, als der Hingebendste aller, konnte er der Wissendste alles Menschlichen werden … Seine Helden … sind nicht friedlich eingeordnet in unsere Welt, überall reichen sie mit ihrem Empfinden bis zu den Urproblemen hinab … Sie wollen gar nicht in die Realität hinein, sondern von allem Anfang an über sie hinaus … Sich selbst wollen sie fühlen und das Leben, aber nicht dessen Schatten und Spiegelbild, die äußere Realität, sondern das große mystische Elementare, die kosmische Macht, das Existenzgefühl … jenes ganz urhafte Gelüst, das nicht Glück will oder Leid, die schon Einzelformen des Lebens sind …, sondern die ganz einheitliche Lust …

… Sie wollen das Leben weder erlernen noch bezwingen, gleichsam nackt wollen sie es bloß fühlen und fühlen als Ekstase der Existenz.“

Wersilow und Katharina in „Der Jüngling“, kurz vor dem Ende:

„Ich weiß, ich weiß, Sie sahen, daß Sie das nicht fanden, was Sie brauchten, aber… was brauchten Sie denn? Erklären Sie mir das noch einmal…“

„Habe ich Ihnen das denn schon einmal erklärt? Was ich brauche? Ja, ich bin doch eine ganz gewöhnliche Frau; ich bin eine ruhige Frau, ich liebe… ich liebe heitere Menschen.“

„Heitere?“

Die Verständnislosigkeit, mit der Wersilow das wiederholt: „Heitere?“

Nochmals Stefan Zweig über die Figuren Dostojewskis:

„Glücklichsein ist ihnen gleichgültig, Zufriedensein ist ihnen gleichgültig, Reichsein eher verächtlich als erwünscht. Sie wollen nichts von all dem, diese Seltsamen, was unsere ganze Menschheit will. Sie haben den uncommon sense… sie wollen alles. Und alles ganz stark. Das Gute und das Böse, das Heiße und das Kalte, das Nahe und das Ferne.“

Wissen, daß man verdreht ist, verzerrt, daß man scheitert, sich in (scheinbaren) Widersprüchlichkeiten zerreißt, daß man ein Idiot ist, ewiger Märtyrer, daß man sich selbst fast zugrunderichtet mit der Empathie, dem „unendlichen Mitleiden“, mit dem Versuch, panoramisch zu sein, und bei alldem ICH LIEBE GEGENSÄTZE die Wurstmacher Wurstmacher sein lassen und dort Schätze finden, wo andere ums Verrecken nichts erkennen, wissen, daß man die Einheit noch in den vertracktesten Ambivalenzen aufspüren kann, und in alldem nichts fühlen als das Leben selbst: das, lieber KLMO, ist für mich bei Dostojewski viel wichtiger als „all die Metaphern“, weil am Ende all dessen nicht sinnlose Liebe zum Exzeß steht, sondern: Lust for Life.


Iggy Pop, David Bowie, Tony Visconti – drei der an „The Idiot“ Beteiligten hatten Dostojewskis „Der Idiot“ gelesen.

David Buckley nennt „The Idiot“ „a funky, robotic Hellhole of an album“.

Komplett abgestürzt und ausgelaugt durch die Selbstzerstörungsorgie der Stooges, die sadomasochistischen Energien ihrer Musik, die Drogenexzesse, den Nihilismus und die Torturen an Leib und Seele steht Iggy Pop schließlich vor den Türen einer Anstalt. Zu den wenigen Besuchern in der Neuropsychiatrie zählt David Bowie. Im Frühjahr 1976 nimmt er Iggy als Begleitung mit auf seine Station To Station-Tour durch Europa, surreal schöne Fotos entstehen, Bowie und Iggy in Touristenpose auf dem Roten Platz oder im Moskauer Metropol-Hotel.

Im Juli 1976, der Umzug nach Berlin läuft, beginnen Bowie und Pop im Château d’Hérouville mit den Aufnahmen zu „The Idiot“. Das sexy Höllenloch öffnet sich mit „Sister Midnight“.

Wie Bowie und Iggy Pop bei diesem Sound angekommen sind, bei dieser glorios hypnotischen strangeness, bleibt Geheimnis. „Damn, listen to what Dennis Davis is playing on ‚Sister Midnight‘ … it’s insane!“ (Iggy, 2016). Können vor Schaudern. Selbst jeder Schlag auf die crash cymbal wird von Dunkelheit verschluckt. Die brutale Insistenz, mit der das irreguläre Funk-Riff von Davis / Murray / Alomar und Iggys furchterregende Stimme Sister Midnight bearbeiten, ist betäubend. Dazu eine Gitarre, die den Mond anheult oder eine Jungfrau zersägt. Brian Eno über „The Idiot“: als würde man langsam einbetoniert.

„Calling Sister Midnight / I’m an idiot for you“. Beep.

„So as we were working on Sister Midnight, David was playing, and I was trying to tune the sound using a compressor to get a nice distortion. As I turned an equalization button on the desk, I got a sudden noise, like a ‚bip‘. I saw David, with the headphones on, startled in his chair. But he didn’t stop playing. When he came back to the control room, he asked me ‚What was that noise?‘ I told him that I made a mistake on the desk. We listened to the tape. The ‚bip‘ was clearly distinct. ‚It’s nice! We’ll keep it. ‚“ – Laurent Thibault, Schloßpächter und house engineer im Chateau d’Herouville.

Letzte Nacht unten im Labor, mit Dracula und seiner Crew. Das Album ist creepy. Kalte Dunkelheit, zwielichtige Dekadenz, expressionistische Verzerrung. Was ist, wird Obsession. „Low“ erschien zuerst, aber „The Idiot“ entstand zuerst und war Bowies Testgelände. Bowie inspiriert Iggy zu Gesang in bedrohlich tiefem Bariton, ghoulish zuweilen. Iggy: „I was working on the lyrics to ‚Funtime‘ and he said, ‚Yeah, the words are good. But don’t sing it like a rock guy. Sing it like Mae West.'“ Er entpuppt sich als verdammt guter Sänger. Iggy erhebt sich sinister majestätisch aus seiner Gebrochenheit, über postapokalyptischen Soundscapes, über Rhythmen, die, funky & robotic, einen ominösen Glamour in Bewegung bringen, und, vor allem, über all die Spuren von Verzerrung, die Bowie in die Musik legt. Zweig über Dostojewski variierend ließe sich sagen: von jedem Moment auf „The Idiot“ führt ein Schacht hinab in die dämonischen Abgründe des Irdischen. Ich meine mich zu erinnern, daß ein Journalist mal schrieb: ideale Musik für eine Auspeitschparty.

Für den Nine Inch Nails-Song „Closer“ modifiziert Trent Reznor ein Drum Machine-Sample aus „Nightclubbing“. Die sleazy cabaret-Elemente von „Nightclubbing“ verleihen das Gefühl, vampirhaft, like a ghost, durch die gespenstisch ausgeleuchteten Korridore und Hinterzimmer eines mysteriösen Etablissements zu schleichen, in dem unaussprechliche Dinge vorgehen.

Funtime:

„Almost immediately, the listener is greeted by a zombie-like, dissonant chorus: ‚All aboard for funtime‘. … The guitar on the first bridge starts with an off-note, but it’s kept as it is part of the dissonant mood. During the bridges … the listener feels helpless as if he/she is strapped into some kind of horror show carousel that is careening out of control.

This out of control feeling and ever present dissonance on this song makes the listener feel that something very UN-fun is actually happening and this is the main thrust of ‚Funtime‘. The juxtaposition of ‚Fun‘ and ‚Funtime‘ with the aggressive subject matter, monster references, leering sexual content and terrifying soundscape leaves the listener not with feelings of irony but unease.“ (Bradley Banks)

In den ersten Sekunden hört man etwas, das wie leises Schluchzen klingt, vermutlich gluckst Iggy vor dem vocal take einfach in sich hinein, aber die Atmosphäre ist von Anfang an beunruhigend. Bowies Gitarre, die vom falschen Akkord hochrutscht, lutscht sich Energie von Deinen Knochen, aber das ist Dir im Labyrinth der darkrooms jetzt ganz recht.

Eine der traurig schönen Traumpuppen da unten ist Baby, und der Sänger erklärt ihr: die Welt ist immer ungerecht. „I’ve already been down the street of chance“. Please stay clean, please stay young, Iggy singt, als wolle er alle gleichzeitig hypnotisieren, Baby und die Dämonen, die es auf die Unschuld abgesehen haben. Bei 0:47 hört man einen Lautfetzen, der sich gerade noch als Bowies Stimme identifizieren läßt, wie aus dem Nebenraum des Songs, in dem sinistre Voyeure den lullaby sardonisch kommentieren.

Zwischen „Funtime“ und „China Girl“ hat „Baby“ es nicht leicht, aber wenn man den Song, sagen wir, 10mal nacheinander hört, bekommt man ein Gespür dafür, wie er der winterlichen Schneelandschaft gleicht, in der Iggy auf dem Coverbild die „Roquairol“-Pose nachstellt. Das absteigende Motiv, das Hit The Road Jack-Sachlichkeit vortäuscht und doch nur in schiere Unheimlichkeit getaucht ist, eine Landschaft, die man grimmig durchwandert, Fäuste in den Jackentaschen.

„China Girl“, Amoklauf von Liebeslied, allesverzehrende Leidenschaft, die Bilder von eskalierender Herrschaftsphantasie und Vernichtung produziert, während Taumel und Wahnsinn sich steigern bis zu drohender Selbstentleibung. „China Girl“ fängt nicht einfach an, „China Girl“ entlädt sich, mit der Hoffnung auf escape, mit ihr, ohne sie ein Wrack, Iggy klingt verletzlich, fragil, I’d feel tragic like I was Marlon Brando, dann eskaliert der bedrohliche Unterton, wird manisch bei „It’s in the white of my eyes“, Iggys Stimme „distorting the microphone preamplifier“ (Tony Visconti), und wen zwingt das nicht auf die Knie: „And when I get excited, my little China Girl says ‚Oh Jimmy just you shut your mouth. She says, Sshhh…“ Und dann ist er tatsächlich still, und dieses unfaßbar dramatische Ende nimmt seinen Lauf, Synthesizer mit Streicher-Grandeur, Bowies Saxophon glüht durch den dichten Mix, dann die gleißenden Gitarrenlinien, dann färbt sich die Sonne blutrot.

Weihnachten 2013 war Iggy Pop zum ersten Mal mit einer eigenen Radioshow auf BBC 6 Music zu hören, seit 2015 führt er als „atmospheric bartender“ regelmäßig durch den Abend, läßt uns teilhaben an seinem Gefühl für die Schönheit und Bedeutung der Songs, die er spielt, läßt uns wissen, falls wir es vergessen hatten, daß sie so viel mehr sind als nur Songs, und das Wunderbarste daran: wie er, der Godfather of (you name it), dabei Dankbarkeit und Demut durch den Äther schickt. Mit ähnlichem Gestus erklärt er 2016, der beste Teil von „China Girl“ beginnt

„when I shut up. There is a beautiful guitar line that David wrote. I knew it was good when we did it, but I was not able to appreciate it emotionally the way I do now. Every time I hear it, I feel all these things that have to do with coming and going. Because we all come, and we all go.“

Der verzerrte fernöstliche Klang, den Bowie auf „China Girl“ produziert: ein Spielzeugklavier, das Laurent Thibaults 8jähriger Tochter gehörte. Der Text würde auch Sinn ergeben, wenn „China Girl“ eine Metapher für Heroin wäre, aber die Dame, die den Song wesentlich inspirierte, war eine Vietnamesin namens Kuelan Nguyen.

Am Ende des Songs ist mir immer, als hätte ich Abschürfungen. An der Seele. Manchmal brauche ich die Pause, die das Vinyl der LP danach gewährte, immer noch.

Für „Dum Dum Boys“ spielt Bowie sich die Finger auf der Gitarre blutig, dann läßt er das Riff, das Synapsenverbindungen im Hirn herstellt, die ziemlich sleazy sind, Note für Note von Phil Palmer nachspielen (dem Neffen von Ray & Dave Davies). 7-Minuten-Ode an Aufstieg und Fall der coolen, bösen Gang, in der Iggy die Verachtung der Stooges für den Rest der Welt beschwört und ihre Geschichte damit zum Mythos macht. Siouxsie, die Edle, die später Iggys „The Passenger“ für ein Cover-Album auswählt, beschrieb „The Idiot“ als „re-affirmation that our suspicions were true: the man is a genius.“ Tatsächlich klingt „The Idiot“ geradezu absurd anders als alles andere. „The Idiot“ steht schief zur Welt, auf Trümmern, die noch rauchen.

Der Tag bricht an und du willst nicht leben, „‚cause you can’t believe in the one you’re with“, die Tricks und die Vergangenheit, der Verlust einer Unschuld, die dann auch die junge Unschuld nicht zurückbringt. „Tiny Girls“ – ah what did you think. Über der dunklen Textur spielt Bowie das wunderschönste, coolste und zugleich wehmütigste Solo auf einem Plastiksaxofon für Kinder.

Auf die Desillusionierung von „Tiny Girls“ folgt die epische Verheerung von „Mass Production“.

„I have no idea how Bowie and Pop achieved the song’s unique sound; I suspect Alomar and a synthesizer are running the show, especially during the sublimely weird instrumental passage which makes you feel like you’re on the floor of the ocean in a doomed submarine that is sending out an SOS.“ (Michael H. Little, 2016).

Dave Catching (QOTSA, EODM, Herz des Rancho de la Luna): „It sounds like they were detuning the synths too, and it always puts me in a trance whenever I listen to it.“

8 1/2 Minuten Trance.

„The first thing you hear on ‚Mass Production‘, the eight-minute industrial horror movie that finishes off The Idiot, is a synthesizer fading in, like a machine drawing breath; it’s suddenly confined to the right channel, where it now drones a single note, like a foghorn, and it’s answered by four piping notes in the left channel, a mechanical birdsong that repeats through much of the track (though often drowned in the mix). Dennis Davis‘ drum fill kicks the song into a semblance of life, and Iggy Pop appears, sounding like a man holding a hostage.“

„Mass Production“ – „is far from any sort of triumphal Futurism; there’s no nobility of the machine found here, just a nihilistic realization that even the cold promise of machinery is a lie. If ‚Mass Production‘ has a visual analogue, it’s David Lynch’s street sets for Eraserhead: a city seemingly purged of human beings and reduced to abandoned train tracks, lifeless tenements and an encroaching darkness.“ (Pushing Ahead Of The Dame)

Leben als industrielle Massenproduktion, Lyrics, in denen ein Mädchen nach der Nummer eines Mädchenduplikats gefragt wird, Austauschbarkeit und Leere und trotzdem ein seltsamer Reiz: Iggy Pop sprach immer fasziniert von der Schönheit verfallender Industriekultur. Das fadeout von „Mass Production“ post-alles, der Song geht unter in grauer endloser Ferne und otherwordliness, letzte Atemzüge of everything, devastating und – unerklärlich schön.

G. Starostin: „Sometimes the noises get really ugly but then again it’s mass production“. „Das ist ja schrecklich! Wie das leiert!“ rief Leda eines Abends bei besagter weird instrumental passage, und es war einer dieser Momente: „Aljoscha sah, wie an einer entscheidenden Weiche ein schwerer Hebel umgelegt wurde, von einem Mann, der sein Gesicht im Schatten der Hutkrempe verbarg.“

„Though I try to die / You put me back on the line / Oh damn it to hell / Back on the line / Hell, back on the line / Again and again / I’m back on the line“.

„The Idiot“ war das letzte, das Ian Curtis in seinem Leben hörte. Für mich war in Phasen tiefster Verzweiflung, Entfremdung und Verachtung „The Idiot“ ein Teil der Mythologie, die zu Auferstehung rief. „The Idiot“ sagt: If you lived through this, you live through everything. Tief im Herzen dieser desolation liegt a new conviction.

„The Idiot“ und „Lust For Life“ bedeuteten auch: die Götter sehen diesem Mann zu in stiller Bewunderung I’M AN EASY MARK WITH MY BROKEN HEART „Ein permanenter Versuch, die Verbindung zwischen dem brodelnden Inneren, der Irrationalität / dem eigenen Irrenhaus und der (er-)wartenden Außenwelt herzustellen“ I STAND ON THE WORLD’S EDGE wer sonst ist mit mir AND I RIDE AND I RIDE smiles like a reptile HERE COMES MY FACE IT’S PLAIN BIZARRE ich fotografierte das „Lust For Life“-Cover und vergrößerte es für meine Wand, „a beaming, slightly mad-looking Iggy shot in a dressing room during the March ’77 UK tour. It’s the face of a man ready to harangue the world while he charms it“ JESUS? THIS IS IGGY ein Gesicht, aus dem man Handlungsmaximen ableiten kann THINGS GET TOO STRAIGHT I CAN’T BEAR IT selbstverständlich ist er 1977 die schönste Kreatur auf Erden I SEE THE STARS COME OUT OF THE SKY „immer auf der Suche nach der Möglichkeit, nach dem Weg, das eigene Geschick unter Kontrolle zu bekommen“ ALL OF IT WAS MADE FOR YOU AND ME „Ich weiß nichts, was ähnlich wäre wie diese Stimme. Ich denke, daß es die einsamste Stimme der Welt ist.“ (Dirk Scheuring, SPEX 1986) I’M TRYING TO BREAK IN OH I KNOW IT’S NOT FOR ME ein Märtyrer, der sich nach Liebe und Anerkennung sehnt CALLING SISTER MIDNIGHT I’M A BREAKAGE INSIDE sein Plan für später: wiedergeboren werden als schwarzer Pudel und an den Beinen der Mistress hochspringen CALLING SISTER MIDNIGHT YOU’VE GOT ME REACHING FOR THE MOON.

„I just want to say that the most provocative friend of my adult life has been David Bowie and he has absolutely opened vistas to me where I have been able to assimilate information that has allowed me to survive and also to enjoy the world I’m in a lot more…“ – 1988

1976 pflegen Bowies Tourmusiker Iggy Pop am Frühstückstisch anzutreffen, wie er beim Kaffee mit Brille auf der Nase die politischen Kommentare europäischer Zeitungen studiert. Der Mann, der am Ende einer Nacht exzessiven Konsums in Berlin von einer Telefonzelle aus, in die irgendein Witzbold ihn eingeschlossen hat, die Polizei anrufen muß, um sich befreien zu lassen, war immer einer der Intelligentesten der Delinquenten. The world’s forgotten boy ist ein Informationsassimilator mit einem enzyklopädischen Gedächtnis für Kunst und Geschichte, einer, der Bücher als Freunde betrachtet, in einem Interview 1999 zählt er als letzte Lektüre auf: Charles Dickens, Voltaire, Victor Hugo, Marquis de Sade. „The History of the Decline and Fall of the Roman Empire“ von Edward Gibbon ist eines seiner Lieblingswerke; sein leidenschaftliches Interesse an Römischer Geschichte lebt er 1993 auf dem Song „Caesar“ als „Throw them to the lions“-Imperator aus. Römisch an ihm ist vor allem die Mischung aus Primitivismus und refinement.

Geschichte als Weg aus dem gefängnishaften Zeitgenössischen. Iggy Pop sammelt Stühle. Zu seiner Kollektion gehören ein Louis Seize-Stuhl und ein normannischer Thron. Er begann ein intensives Verhältnis zu Stühlen zu entwickeln, weil ihm lange Zeit nichts gehörte – seine Plattenverkäufe standen in gotterbärmlichem Gegensatz zu seinem Ruf -, und weil es ein gutes Gefühl war, wenigstens auf einem Stuhl sitzend sagen zu können: „Das Fernsehen blökt mich an, und die Leute betonieren alles zu und treiben mich verdammt nochmal in den Wahnsinn“, aber dies ist mein Reich. Weltherrschaft ist Herrschaft über die eigene Welt, you see.

Iggy Pop, Post Pop Depression Tour, Konzert-Ticket Hamburg, 2016.

Indianischer Gesang, Schamanentrommeln, dann hebt sich der Vorhang für die Band in leuchtend roten dinner jackets im Sixties-Stil – und für den donnernden Beat. Nach einer Minute „Lust For Life“ kündigt Josh Homme ihn an: „Ladies and Gentlemen, Mister Iggy Pop!“ Die Antwort auf Iggys Erscheinen ist ungezügelte, manische Turbulenz. Sollte es die letzte Tour des Iggy Pop sein, dann ist sie ein würdiger Triumphzug. Vor diesem Abend habe ich Iggy Pop 5 x live gesehen, und es war jedes Mal nicht nur ein denkwürdiges Spektakel, sondern auch, siehe ganz oben, eine Art Anleitung zum Himmelssturm. Diese Band aber spielt / zelebriert die Songs von „The Idiot“ und „Lust For Life“ genau so, wie sie live klingen müssen, wenn man diese beiden Platten über alles liebt. Josh Homme genießt seinen Part als Hofzeremonienmeister wie ein Schneekönig, der seine süßeste Fantasie auslebt, zusammen mit Troy van Leeuwen, Dean Fertita, Matt Sweeney und Matt Helders reproduziert er den vibe all dieser Songs getreu und punktgenau, zwangsläufig schütteln sich ein paar Elemente aus dem Queens of the Stone Age-Hexensabbat aus dem Handgelenk – Killerversionen der Originale mit Queens-Stempel, ein verdammter Traum. Iggy kracht nicht mehr von allen Seiten durch die Bühnenbretter, doch der ungezähmte Genius seiner Five Foot One macht Lust For Life zum Thema dieser Nacht und aller Nächte wie noch nie zuvor. Eine so überwältigte Freude bei allen, auf der Bühne und davor, alle komplett betäubt und euphorisiert. Als wisse tatsächlich plötzlich die ganze Welt, was sie diesem Mann schuldig ist, und als wäre die Welt überglücklich, es ihn wissen zu lassen. Das Feingefühl, mit dem Josh Homme Bowies Präsenz in die Musik von „Post Pop Depression“ eingearbeitet hat, abwesende Freunde sind anwesend heute nacht, „China Girl“ wie ein ergreifender Salut. „David’s friendship was the light of my life. I never met such a brilliant person. He was the best there is.“ – Iggy Pop 11:00 AM – 11 Jan 2016.

„FUUUUCK! BLESS YOU!“, „WHOU! WHOU! FUCKING HELL!“, er winkt jeder einzelnen Seele zu, vor „Funtime“ läßt er Boxen näher an das Publikum schieben, damit er springen kann. Bei „Fall In Love With Me“ teilt er das Meer und wandert durch den ganzen Saal. Michael Ruff, 1987: „Für Iggy Pop sind Konzerte in Hamburg seit jeher ein Heimspiel – unvergessen die kaum zu kontrollierende Begeisterung bei seinem ersten Hamburg-Auftritt vor zehn Jahren.“ An diesem Abend kulminiert die gegenseitige Zuneigung in ganzer Schärfe, Schmerzlichkeit und Schönheit. He is the best there is.

Brust in Brand setzen, Instinkt, Verletzlichkeit, Scheitern, Würde, childlike flashes of excitement, Triumphieren on your own terms. Seine Musik / sein Leben war immer eine Antwort auf die Frage, wie man mit der Welt koexistiert. Die ganze Geschichte des Iggy Pop gewährt einen Blick ins Wesen des Menschseins, für den ich endlos dankbar bin. Sagte ich endlos? Auf „Post Pop Depression“ sind Sterblichkeit und Endlichkeit nichts Unwirkliches mehr. Beliebter Schreibfehler hierzulande: „Zum Todlachen“. Das Todlachen, ich hörte es auch schon. Es klingt raffelnd, rasplig, geschrotet, dann schaumig. Dann so, als hätte er glühende Kohlen mit dem Löffel gefressen, dann wieder scharfkantig, gezackt, durchbohrend, Schnitzmesser spuckend. Manchmal abgearbeitet, schachmatt. Vaterlos, mutterlos, gottverlassen. Dann dieses Lachen, das an Jahren zunimmt, während er es lacht, bis es vergreist, vereist, zerklirrt. Zum Todlachen. Nein, ich gehe vorerst nicht dahin zurück. CALLING SISTER MIDNIGHT CAN YOU HEAR ME CALL CAN YOU HEAR ME WELL CAN YOU HEAR ME AT ALL.

Setlist

Lust For Life
Sister Midnight
American Valhalla
Sixteen
In The Lobby
Some Weird Sin
Funtime
Tonight
Sunday
German Days
Gardenia
Nightclubbing
The Passenger
China Girl

Encore:

Break Into Your Heart
Fall In Love With Me
Repo Man
Baby
Chocolate Drops
Paraguay
Success

„Mass Production“ was not played due to keyboard difficulties

„It’s endearing and almost childlike, just the way he looks at the world with those big eyes.“ – Nina Alu, 2003

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Film

Buster Keaton

Buster Keaton in "Go West".
Buster Keaton, Marceline Day in "The Cameraman".
Marceline Day und Buster Keaton in "The Cameraman".

Und, liebster Buster-Keaton-Film?

Schwer zu sagen, ich weiß. Ich habe eine besondere Schwäche für „The Cameraman“.

Liebste Buster-Keaton-Szene: natürlich aus „The General“ – Marion Mack fängt während der Verfolgungsjagd an, den Boden der Lokomotive zu fegen, Keaton nimmt ihr am Rande der Verzweiflung den Besen weg und macht ihr klar, sie solle weiter Holz ins Feuer werfen. Sie nimmt ein Stöckchen und wirft es geziert hinein. Keaton sieht zu, reicht ihr einen Splitter, sie wirft auch den ins Feuer. Eine Sekunde vollkommener Fassungslosigkeit, dann würgt Keaton ihren Hals, um sie direkt danach zu küssen.
 
Ich will nicht sagen „Alles danach ist nur Fußnote“, aber ein überaus wertvoller Beitrag zur Erklärung elementarer Rätsel im Geschlechterverhältnis aus dem Jahre 1927.

Ich habe auch nie ganz die Bezeichnung „Stoneface“ verstanden. Dieses überaus schöne Gesicht empfinde ich als sehr ausdrucksstark. Woran das liegt, weiß ich nicht; entweder ist es so, oder aber, in meiner Wahrnehmung überträgt sich Keatons Körpersprache, und dieser Körper ist ja dauernd am Reden, auf sein Gesicht.

„Viele Situationen sind eigentlich erst da, wenn sie eingetreten sind“. Das Unglaubliche an Keaton ist das permanente Reagieren auf sturzbachartig eintretende Situationen. Alles, was in der Situation auftaucht, ist Teil der Bewegung, in die nächste Situation zu kommen. Alles, was sich absurd in den Weg stellt, wird nutzbar gemacht. Leben als ständiges Wegräumen des Absurden. Oder besser: ist man elastisch genug, um auf sie aufzuspringen, kann man die Überraschung selbst überraschen.

[SPIEGEL ONLINE Forum: Lieblingsfilme – was ist „großes Kino“? – 04.10.2006]

Buster Keaton in "Sidewalks of New York".
Buster Keaton und Dorothy Sebastian in "Spite Marriage".
Buster Keaton in "The Navigator".

00:51:35 ff.

Buster Keaton, Kathryn McGuire in "The Navigator".
Buster Keaton in "The Navigator".
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Musik

Queens of the Stone Age, Berlin Zitadelle 22-06-13

Queens of the Stone Age, Zitadelle Berlin 22. Juni 2013.

Eines der Newtonschen Grundgesetze der Bewegung lautet: wenn die Queens of the Stone Age in der Berliner Zitadelle spielen, erscheint am Nachthimmel ein sensationeller Vollmond. Der schwebt über der Renaissancefestung, als wolle er unbedingt in Spuckdistanz zur Größe bleiben. So war es 2010, und so ist es in dieser Nacht, in der Josh Homme sagt, daß Schluß ist, wenn Josh Homme sagt, daß Schluß ist. Und jedes Mal sagt Josh: Look at that moon. Eine reine Kausalkette. Vor „…Like Clockwork“ erklärt er: „We’ve been to a lot of places all over the world, this is one of my favourite places to play“, und man glaubt es ihm. „It’s such a beautiful night.“

Der Abend beginnt mit den Virginmarys, deren Sänger, er heißt Ally, euphorisch mitteilt, sie kämen aus Macclesfield, was, an Allys Akzent unschwer zu erkennen, nicht weit von Manchester entfernt ist. Ein echter Maxonian würde mir dafür natürlich einen Möbelladen auf den Kopf hauen. Das Trio klingt angenehm schmutzig, passend zum Staub, der sich in der Zitadelle auf die Schuhe legt.

Chris Goss, Masters of Reality, Zitadelle Berlin 2013.

Dann wollen wir niederknien, denn nun kommt der legendäre Chris Goss. Die Masters of Reality und die Queens of the Stone Age an einem Abend sehen zu dürfen, das ist so, als ob einem Hardcore-Katholiken das Papamobil über die Füße fährt. Eines der Newtonschen Grundgesetze der Bewegung lautet: wenn die Queens of the Stone Age in der Berliner Zitadelle spielen, ist Dave Catching auch da. Irgendwie. 2010 ging er mit sanftem Lächeln, ein Rucksäckchen auf dem Rücken, an uns vorbei den Weg zur Zitadelle hoch, als wir auf den Einlaß warteten, wurde dann aber nur noch in den Kulissen gesehen, wie er Photos machte von Alain Johannes und den Steinzeitköniginnen. Auch schön. Viel besser aber: nunmehr mit Hut und ZZ Top-Bart ausgestattet an der Gitarre bei den Masters of Reality. Als Intro gibt eine roboterhafte Stimme geschlagene 5 Minuten lang kryptische Outer Space-Mitteilungen von sich, und man hat an sich schon den Verstand verloren. Dann kommt Catching, und dann ER. Schwarzer Anzug, schwarzes Hemd, Satanistenbart, der Anton La Vey der Stromgitarre, der Godfather des out of whack Rock, ultracool, bad-ass, imposant, zuckersüß: „Hello children, how are you?“ John Leamy Schlagzeug, Paul Powell Bass, Mathias Schneeberger Keyboards. Tilt-a-Whirl / Swingeroo Joe, Third Man On The Moon, High Noon Amsterdam, Domino, Deep In The Hole, Doraldina’s Prophecies und Zeugs. Außerdem hebt Goss sein Glas darauf, daß „… Like Clockwork“ umgehend auf # 1 der Billboard 200 Chart geschossen ist: „That’s how you do it, Baby.“

Birgit Fuß schreibt in ihrer Besprechung von „…Like Clockwork“ über Josh Homme: wenn seine Alben nach 45 Minuten zu Ende sind, sitzt man immer verdutzt da. Verdutzte Birgit sitzt hübsch im Je ne sais quoi: „Das Faszinierende an Josh Hommes Musik war schon immer, dass man nie genau weiß, was er da eigentlich macht.“ Eine „kaleidoskopische Wundertüte, unfassbar und unberechenbar“, in der sie unter anderem „zappeligen Surrealismus“ erkennt. Einem Rezensenten bei amazon fällt für die Musik der Queens of the Stone Age ein Gleichnis ein: das edelste Hotel am Platz, aber mit halsbrecherischer Drehtür.

„… Like Clockwork“ ist, wie ja nun bekannt, „die Audio-Dokumentation eines manischen Jahres“ (JH) und überhaupt all der Wirren und Tiefschläge seit „Era Vulgaris“, diesem Ungeheuer, das komplex ist sexy zischt. Nach extensivem Touren bis zum Sommer 2008 folgt down time für QOTSA; Josh Homme reaktiviert die Supergroup-Idee mit Dave Grohl und John Paul Jones als Them Crooked Vultures für Album und Tour, Troy van Leeuwen gründet (mit seiner hinreißenden Herzensdame Serrina Sims) Sweethead, Michael Shuman die Mini Mansions, Joey Castillo schließt sich den Eagles of Death Metal an, Dean Fertita kommt bei Jack Whites The Dead Weather unter.

Die Erschütterungen beginnen mit dem Tod von Natasha Shneider im Juli 2008. Zwar geben QOTSA auch 2010 und 2011 Konzerte im Zuge der Neu-Editionen von „Rated R“ und des Debutalbums von 1998, aber der Schnitter bittet nochmals zum Stelldichein. Eine Knie-Operation, ein Herzstillstand im Oktober 2010. Josh Homme ist kurzzeitig tot. „I woke up and there was a doctor going, ‚Shit, we lost you.‘ I couldn’t get up for four months. When I did, I hadn’t got a clue what was going on.“

Dunkelheit breitet sich aus, Homme versinkt in tiefe Depression. „I would never say, ‚I’m probably not gonna make it out of here.‘ But back then, I would definitely think it.“ Das Gefühl, ein Teil von ihm ist noch nicht wieder anwesend, verschiebt alle Wahrnehmungen.

Van Leeuwen, Castillo, Shuman und Fertita ermutigen Homme, zur Band zurückzukehren und ein sechstes Studioalbum in Angriff zu nehmen, aber der Weg führt durch dichten Nebel: „I had to ask them, ‚If you want to make a record with me right now, in the state I’m in, come into the fog. It’s the only chance you got.‘ It brought us much closer, because you never really know someone till everything goes wrong.“

Der erste Song, den Josh Homme aus dem Dunkel holt, ist „The Vampire Of Time And Memory“: „I hated it. I thought, ‚Who wants to hear this?‘ Then Brody reminded me, ‚Who fucking cares?‘ You got to start somewhere and the bottom can be a really great place.“

Die Genesis von „… Like Clockwork“ bleibt jedoch, vorsichtig ausgedrückt, schwierig; der ironische Albumtitel verweist auf Schiefgehen wie geschmiert.  Während der Aufnahmen kommt es zur abrupten Trennung von Joey Castillo. Gründe liegen noch im Dunkeln. Dean Fertita: „Yeah, we were maybe about a third of the way in, so there was still a lot of work to do. That was an emotional thing for us – we love Joey to death.“

Mit den Konzerten von 2011 hatte Homme versucht, Muse und Mission wiederzufinden: „I really wanted to make almost like a trance blues James Brown record, but that just wasn’t there for me. I was hoping that playing the first record would really inspire me and make me fall in love with music again. But I think I was just lost, looking for something in the dark. In that dark I found this record.“

„But in all honesty, the last couple of years of failure and anguish have been the best thing to ever happen to me. It gave me a chance to figure out what’s really important to me.“

„The undercurrent of the record is just be honest, and if something is scary, walk toward it, not away from it. There’s no other way I could have said any of what it says.“

„… Like Clockwork“ kann sich anfühlen wie ein dunkles Labyrinth. Was zählt, ist, daß man sich bewegt im Labyrinth. Eines der Newtonschen Grundgesetze der Bewegung lautet: safety equals death. Und was die „Dunkelheit“ betrifft: Troy van Leeuwen, nicht nur der bestangezogenste Gitarrist des Planeten, fand eine Parallele in da Vincis berühmtester Tat: „We went to the Louvre the other day and none of us had ever seen the Mona Lisa. There was a huge crowd around it and the tour guide was saying that the sort of smile she has depends on your mood: if you’re in a good mood, you see her mouth curling up, but if you’re in a bad mood, it turns down. That’s the way we see our record: some people think it’s dark and others think it isn’t. I welcome that; that’s what art is about. But to us, [the album is] a reflection of trying to say something that’s really difficult, and turning and facing it…“

Tiefgreifende Verunsicherung schließlich doch umzuschmelzen in ein rätselhaftes Meisterwerk, das ist Alchemie.

Queens of the Stone Age, Ticket Zitadelle Berlin 2013.

Wir stehen vorne links, kurz vor Troy. Mit explodierendem Glas auf der LED-Wand geht es ins wundertütische Kaleidoskop: „Keep Your Eyes Peeled“, das erste Stück von „… Like Clockwork“, das so tut, als wäre hier alles creepy as hell. „Can one so lost be found“, singt Josh. Aber er ist schon mit einem Lächeln auf die Bühne gekommen, mit den ersten Takten von „You Think I Ain’t Worth A Dollar, But I Feel Like A Millionaire“ schießen die Flüssigkeiten aus allen Bechern, bei keiner anderen Band, so die Gazetten am Tag danach, kommt der Mob so schnell von Null auf Hundert, und nach dem Break von „No One Knows“, als nur Shumans Bass zu hören ist, zeigt Homme auf seinen Arm: „You’re makin‘ the hairs on my arms stand up straight!“ Nach dem Song gelingt ihm ein nahezu perfektes ö in „Dankeschön!“ Nagelneues wie „My God Is The Sun“ wird bejubelt wie Rückkehr des Königs. „Burn The Witch“, „Sick, Sick, Sick“ und „First It Giveth“, bis sich das Gehirn im Schädel dreht. Als man sich gerade fühlt wie eine in Blut ersoffene Fledermaus, wird das Piano für Josh zurechtgerückt: „The Vampire Of Time And Memory“. Intimer Moment und vier Minuten panoramisches Bewußtsein über das Scheißglück, daß wir alle noch da sind und hier sind.

Dann folgt, was Josh Homme zur Tanznummer erklärt. Damit meint er Sachen wie das allen sittlichen Halt zerstörende „Misfit Love“ oder, heute, „Turnin‘ On The Screw“. „If I Had A Tail“ mit THE END IS REALLY FUCKING NIGH-Clip im Hintergrund, der Gassenhauer „Little Sister“, immer noch ein bißchen heißgeliebter als gedacht. „I Sat By The Ocean“ („Silence is closer / We’re passing ships in the night / Closer and closer / We’re crashing ships in the night“), das 4 Sekunden lang wie Blurs „Coffee & TV“ klingt, bis die Slidegitarre des Betrunkenen Roboters bestätigt, daß die Queens of the Stone Age wie niemand sonst klingen. Der Song, nach dem David Letterman in seiner Late Show sagte: „Holy crap, that was great.“ Michael Shumans Bass so delicious.

Als das Volk beim lasziven Geschlängel von „Make It Wit Chu“ den Refrain anstimmt, teilt Homme die Menge ein: „Just the Ladies, let me hear you Ladies!“ Als die Mädels ihm ihr „I wanna make it, I wanna make it wit chu!“ im Chor dargebracht haben, was sonst als: „I feel the same goddamn way, I gotta tell you.“ Und als er die Jungs zum Esmitihmmachenwollenchor animiert hat, breitet er die Arme aus: „Today is Gay Pride Day.“ Er testet nochmal den Wohlfühlpegel, die Menge antwortet als Flammenmeer, abgesehen von einem Mädchen, das, wie er amüsiert feststellt, so „uhmmm“ geschaut habe gerade. „I Think I Lost My Headache“ kündigt er daher an mit: „This song goes out to the one girl who can’t stand us.“  Entführung in eeriness mit „A Song For The Deaf“ und schließlich ein episches, fast zehnmütiges „I Appear Missing“. Als Zugabe zunächst „… Like Clockwork“ – Zweifel und Introspektion, die Muse nachdenklich, Ginger Elvis in Verlorenheit und Verletzlichkeit, der Song, der den shift des neuen Albums zusammenfaßt.

Es ist 22:54 und Josh Homme klärt die Verhältnisse: „They told us we have to stop playing but fuck that shit, man. It’s you and us, fuck everybody else, man. We’re done when I say we’re done.“ Und los geht’s mit „A Song For The Dead“.

Boneface, der junge englische Künstler, der für das Artwork rund um „… Like Clockwork“ (das Albumcover dürfte von Bela Lugosis 1931er-Dracula inspiriert sein) verantwortlich ist, zusammen mit Liam Brazier auch für die Alptraumlogik der animated short films, hat zweifellos das große Los gezogen, als Josh Homme ihn zu kontaktieren wünschte. Was auch während des gesamten Konzerts auf der LED-Wand abläuft, ist durchweg phantastisch. Aber der endlose Schwarm schwarzer Vögel, der von der LED-Wand auf uns zufliegt, zu diesem Song, ist einfach nur noch mind-blowing.

Summa summarum ekstatische Stimmung, und die Band hocherfreut darüber, Gänsehaut auf beiden Seiten. My favourite Wackelclip: der Beginn von „A Song For The Dead“. Die Kamera, die sich aus Seitenlage zurechtkippt, als wäre auch The Ever Watchful Eye außer Kontrolle, das Mädchenkreischen von 0:05 – 0:07, das ganze Inferno als -> 33-Sekunden-Geniestreich.

[Edit: ich schrieb dies im Juni 2013 für Antirat; 2021 taucht plötzlich dieser Mitschnitt von 6 Songs auf, „an incomplete, unedited wide shot perspective“ aus der Konzertphase vor Sonnenuntergang, für den Film „Lo Sound Desert“ von Joerg Steineck.]

Auf theskinny.co.uk hat Josh Homme angedeutet,

…that another Queens album might arrive sooner than we think, referencing the dark before the dawn of Iggy Pop’s first two ‚Berlin period‘ solo albums, written, recorded and released in swift succession within the same year. „Part of me thinks it would be great if this was the point-counterpoint that The Idiot and Lust For Life are, y’know? I love those records so much; they came out in a quick period of time. The Idiot is very dark and Lust For Life is sorta like ‚Tah-daaah‘. I would love to answer this album with a ‚Tah-dah!‘ at some point.“

„Turns out waiting around for something to change is the wrong way to change.“

„The real man pushes himself and is totally vulnerable.“

„If it’s really easy, it’s not worth it. My grandpa used to say, ‚Life is hard because it’s worth it.‘ It’s simplifying it but it’s fucking true. The struggle is just how far you’re willing to go to chase fucking vapour.“

„I’m gonna bleed for this shit until all the blood’s gone“.

Josh Homme

Verlauf der Soirée:

Keep Your Eyes Peeled
You Think I Ain’t Worth A Dollar, But I Feel Like A Millionaire
No One Knows
My God Is The Sun
Burn The Witch
Sick, Sick, Sick
First It Giveth
The Vampyre Of Time And Memory
Turnin‘ On The Screw
If I Had A Tail
Little Sister
I Sat By The Ocean
Make It Wit Chu
I Think I Lost My Headache
A Song For The Deaf
I Appear Missing

… Like Clockwork
A Song For The Dead

craveonline.com → „…Like Clockwork“:

[…] as the distant sounds of crashing glass grow closer in the first moments of the new Queens of the Stone Age album …Like Clockwork, that anxiety of uncertainty returns. An anticipatory snake of cold, ominous awe weaves through you as the nightmare carousel grinds back into motion.

More real, raw and direct than ever before in both production and composition, …Like Clockwork […] is the long-awaited studio return of Joshua Homme, Troy Van Leeuwen, Michael Shuman and Dean Fertita, alongside a trio of drummers – beloved departing slugger Joey Castillo, returning extended-family member Dave Grohl, and newest member Jon Theodore of The Mars Volta […] While 2007’s Era Vulgaris was a razor-sharp whipcrack in a vortex of cool, beyond the signature sexual chocolate, …Like Clockwork is a trip of honest fragility bleeding through deeply layered textures and harmonies, a pendular swing volleying between forlorn vulnerability and fire-christened renewal. The much-discussed „no trick at all“ approach to QOTSA’s typically enigmatic haunt is far more an autobiographical narrative lean than a lack of sonic trap doors.

This is not a free-balling drunk-robot sequel to Songs For The Deaf a decade later, a high-velocity ride packed with a cocksman’s banquet of caricaturized drunken narrators. The guests aren’t paraded out in traditional cameo-spotlight fashion; there are no „take it away Elton!“ moments. Yes, Queens finally have their true queen in Elton John, but the glitter-shitting rolodex of contributors on the album is a gathering of threads weaving through a tapestry, rather than ropes of highlighted selling-point rock embroidery. When a new voice rises from the collective, before an impact of presence can be established they step back into the mix, joining the chorus of the great pirate ship once more. You’ll give yourself whiplash turning to the speaker when Trent Reznor’s voice rips through the bass-driven fabric on „Kalopsia,“ but before you can lock in he’s gone. Later, near the end of the magnificently cutting „Fairweather Friends,“ the same happens with Mark Lanegan – and it’s damned delicious.

Barbed with uptempo hooks and a guitar line so perfectly addictive, „I Sat By The Ocean“ is an inevitable radio smash, which in a merciful world will offer the FM dial some relief from the relentless „Little Sister“ and „No One Knows“ rotation. Crisp, bright production makes this a guaranteed home run, but as the sunshine enema really starts to sink in, the lyrical veil is pulled and we realize we’re inside a Rock ’n‘ Roll confessional with an impaled heart. This carries dramatically into „The Vampyre of Time and Memory,“ and calling it a reflection of recent well-publicized developments in the desert family doesn’t seem a stretch […] The presence of pain is evident. Joshua seems downright despondent, warier than ever and ready to give up the ghost, over a pensive piano line: „I want God to come and take me home / ’cause I’m all alone in this crowd / Who are you to me? Who am I supposed to be? Not exactly sure, anymore.“ The hopelessness is jarring, an unsettling departure from the signature wisecracking swagger we’re so accustomed to. „Aint no confusion here, it is as I feared / The illusion that you feel is real,“ he sings in a doubled, delicate vocal. A lonely guitar solo flies briefly after the first verse, expressing a bilious, desolate sadness. „Does anyone ever get this right? I feel no love.“

Like the breaking rays of dawn, a loop of rising chimes at the onset of „If I Had a Tail“ is a warm wave of revitalizing energy, kicking into a subdued-funk Stones groove with a popped collar that flies even closer to Keef in the guitar solo. Sexy, sardonic and shameless, this is a ride in the kind of car Daddy never wants to see pull in the driveway to pick up his girl – because she’ll be walking differently when she gets back.

[…] Our first taste of new material after a six year absence, „My God Is The Sun“ is the clearest connecting thread to where the band left off, on the gloriously labyrinthian „The Fun Machine Took a Shit and Died.“ Dangerously careening, complicated and as epic as the arrival of giant warlord aliens riding rabid elephants, it’s a full flex of the gargantuan velocity the band is capable of – a testament to how hard each member works to push their own envelope. The synaptic tangle burns away to reveal double-barreled good-riddance scorn in „Fairweather Friends,“ a gorgeously finger-pointing fuck you that minces no words in a diagnosis of damnation. The body moves independently when Elton pounds the keys, a rhythmic recall of the dearly departed Natasha Shneider, as swarms of Lanegan, Reznor, the visiting piano-rock legend and more flow in a thick, bubbling choral-vocal undercurrent.

[…] New stickman Jon Theodore is featured only on the title track, a sparsely piano-driven, mourning heartbreaker that ends the album on the most somber, discouraging note possible: „It’s all downhill from here.“ As we find ourselves on the far banks of the most difficult era of Queens of The Stone Age’s existence, the spilled blood still drying, new hope springs from Homme taking off the mask and showing what’s beneath the leather. While the tone of the album’s exit is ominous, these are the sounds of fighting demons in real time – honest struggle and catharsis alchemized and tantalized by the most revered gang in Rock.

Josh was right – the best trick of all truly is no trick at all.

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The Everlasting Gaze

Shades

Maria Erdmann.
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Literatur

Žižek / Kafka – Phantasmatic Support

Franz Kafka. Zizek / Kafka - Phantasmatic Support. Gespräch im SPIEGEL ONLINE Forum mit Christian Erdmann.

SPIEGEL ONLINE Forum

„Das literarische Orchester – spielen Sie mit!“

November 2011

Jörn Bünning:

„Illusion“ klingt im Deutschen stets nach Betrug und Täuschung, die sogleich mit einer gehörigen Portion „Realität“ bestraft gehört. Wenn gutmeinende Freunde auf meine „Illusionen“ zu sprechen kommen, dann doch stets mit dem Rat, sich davon unverzüglich zu befreien und mutig den ungeschminkten Tatsachen ins Auge zu blicken. Wen wundert’s, dass Hauptmann trotz seines Plädoyers für den Angeklagten „Illusion“ letztlich auf verminderte Schuldfähigkeit setzt: als versöhnender Ehestifter zerstrittener Eheleute. Doch hat die Illusion den Vorwurf der Kuppelei von „Wahrheit“ mit „Lüge“ verdient? Ist der Kern der Illusion tatsächlich die Verdauungshilfe zur Wahrheit?

Ein gern verwendeter, doch ebenso auf Abwege führender Begriff ist die „Projektion“ (in der Psychonanalyse). Indem er in den anderen hineinschaut, entdeckt der Mensch sich selbst. Doch geht es hier vor allem um Hässlichkeiten, die wir nicht bereit sind, an uns wahrzunehmen, selten um nette Dinge, die uns das Leben verschönern.

Für mein Verständnis gibt es aber noch einen anderen Begriff, der die Tücken der beiden anderen umschifft: die Imagination. Gemeinhin als ein Vermögen verstanden, sich (auch ohne äußere Sinneseindrücke) Bilder aus dem Inneren abzurufen, beinhaltet diese Fähigkeit noch viel mehr, nämlich das Hineinsehenkönnen von Inhalten in die Wahrnehmung, Dinge zu ergänzen, die sich objektiv nicht feststellen lassen, durch die sich aber ihre Bedeutung für den Betrachter erst erschließt. Dabei geht es um etwas, das uns in den „Raumabgründen des Weltalls“ jede Menge Wärme spendet, wenn wir auch bisweilen unter der imaginierten Hitze zu leiden haben, sobald die Dinge uns hässlich erscheinen.

Die Krähen behaupten / Christian Erdmann:

Sehr schön. Die Allmacht der Imagination gliedert auch den Raum der Erfahrung permanent. Das ist mehr als „Hineinsehenkönnen“, das geschieht immer. Interessant ist doch, warum Menschen so allergisch auf die Information reagieren, daß sie immer mit einem „phantasmatic support“ unterwegs sind, wie der verrückte Žižek das mal nannte.

Jörn Bünning:

Die Krähen werden den Himmel schon nicht zerstören

Nun, diese Krähenschrift ist mir doch seltsam vertraut, auch Slavoj Žižek ist mir kein ganz Unbekannter, selbst wenn ich seine Texte 2-3mal und mit großer Aufmerksamkeit und Vorsicht lese, vor allem, wenn er sich auch noch auf Lacan bezieht.

Aber es stimmt schon: Ohne den „phantasmatic support“ funktioniert keine Erotik. Imagination ist der Schlüssel zur Wahrnehmung, der Weg zu den Empfindungen und damit zur inneren Wahrheit. Wie auch bei guter Musik, z.B. „A Secret Wish“.
;)

Die Krähen behaupten / Christian Erdmann:

„Die Welt, die uns etwas angeht, ist falsch, d.h. ist kein Tatbestand, sondern eine Ausdichtung und Rundung über einer mageren Summe von Beobachtungen.“ – Nietzsche. Daß es kein Erfahrungsmaterial ohne „Ausdichtung und Rundung“ gibt, meinte vermutlich auch Kant, als er das „Ding an sich“ in die Tonne warf.
Guter Musikgeschmack, Herr Bünning. :)

Jörn Bünning:

„Kein Erfahrungsmaterial ohne Ausdichtung und Rundung“ ist gut gesagt – es gibt ja noch nicht einmal ein Begreifen ohne Interpretation, die eigentlich nur aus Imagination besteht. Darüber hatte sich Kant mit dem Philosophen David Hume seinerzeit gestritten: Der schottische Rationalist betonte das Primat der Wahrnehmung für alle geistigen Vorgänge im Menschen. Demgegenüber beschrieb Kant das (apriorische) Vorhandensein geistiger Erkenntnisstrukturen, die nicht aus der Wahrnehmung ableitbar sind, diese aber moderieren.

Dazu nur zwei kleine Beispiele:
Auch Hume musste letztlich einräumen, dass Kausalitäten sich nicht direkt beobachten lassen. Sie werden vielmehr bei einer Ereignisabfolge intuitiv „imaginiert“, sofern die Ereignisse in ausreichend enger räumlicher und zeitlicher Abfolge auftreten.

Ein anderes Beispiel ist die Imagination von Bewegungen:
Zwei benachbarte Lämpchen blinken abwechselnd – das Licht „springt“ dann scheinbar zwischen beiden hin und her. Dieser Eindruck ist so zwingend, dass er sich auch gegen besseres Wissen durchsetzt.

Doch hat auch Hume, vom Standpunkt der Evolution betrachtet, nicht unrecht. Die Kant’schen „Presets“ unserer menschlichen Wahrnehmung sind schließlich selbst das Ergebnis einer langen Schulung des Lebens auf diesem Planeten und es hat lange gedauert, bis die Bedeutung ansatzweise in die Wahrnehmung hineingefunden hat.

Ohne Imagination wäre jede Wahrnehmung ohne Verstehen, Schönheit würde es nicht geben, Musik eine komplexe Folge von Geräuschen, was wohl schade wäre, allein schon wegen Mark Lanegan. ;)

Die Krähen behaupten / Christian Erdmann:

Zwei Facetten: Erstens, die erkenntnistheoretische, das Paradox, daß unser Wahrnehmungsapparat uns Weltbeschaffenheit vermittelt, die wir aber nicht objektiv beschreiben können, weil wir eben den Wahrnehmungsapparat haben, den wir haben. Nur ein verschwindend kleiner Teil der Wirklichkeit passiert die Pforte unserer Sinne. Unsere Wahrnehmungsorgane funktionieren, indem sie vorhandene Information reduzieren. Gerade weil wir so avanciert sind, wissen wir, daß nur ein naiver Realismus noch meint, daß die Dinge so sind, wie wir sie wahrnehmen. Die Auffassung von Wahrnehmung als einer Registration des „Gegebenen“ ist überholt. „If the doors of perception were cleansed every thing would appear to man as it is, infinite.“ Sie sind aber nicht cleansed, und „infinite“ ist auch nur ein Wort: auch Sprache als Organisator der Wirklichkeit beeinflußt unsere Wahrnehmung.

Zweitens, „phantasmatic support“, der produktive Anteil der Einbildungskraft an der Wahrnehmung, der Anteil der Imagination und der Projektion an der Schönheit; an allem. Am Beispiel der Büste der Nofretete hat mal jemand dargestellt, wie der Vorstellung von Schönheit ein umfassender Prozeß des Ausschließens zugrundelag, wie ihr Antlitz aus dem Chaos (der Natur) herausgemeißelt ist. Ein Prozeß, der folgerichtig fortsetzt, daß Beobachtung ohnehin Auswahl ist, und in dem die Reduktion wiederum mit dem eigenen kreativen Überschuß versetzt wird.

Žižek hatte ja ein kurioses Beispiel für „phantasmatic support“ – italienische Männer, die es angeblich lieben, wenn ihnen die Frau beim Sex Obszönitäten ins Ohr flüstert, bevorzugt über das, was sie mit einem anderen Mann getan hat. Apart from that, ist dies einfach von Anfang an die Art und Weise, wie wir unsere Lebenswelt gestalten. In der Wahrnehmung verleihen wir. Sehen heißt Hineinsehen. Wir agieren eh von Anfang an so, als gebe es keine uninterpretierbaren Tatsachen, wir reichern jedes Erleben mit unserer Phantasie an, schießen durch imaginäre Ordnungen, ersetzen Mythen durch Mythen.

Lese gerade die Kafka-Biographie von Peter-André Alt. Erster Satz: „Franz Kafkas Wirklichkeit war ein weitläufiger Raum der Einbildungskraft.“ Gemeint ist tatsächlich, daß Kafka bewußt den Raum der Erfahrung wie eine Traumlandschaft gliedert, daß er etwa seine Furcht vor dem Vater durchaus obsessiv kultiviert, weil sie zu dem Selbstbild gehört, das Bedingung seiner schriftstellerischen Existenz ist, daß ihm sein Schreiben selbst die Erfahrungswelt in einen Raum verwandelt, in dem Phantasie und Realität nicht mehr getrennt werden können. Im „großen Schachspiel“ des Lebens, erklärt Kafka, sei er „der Bauer des Bauern, also eine Figur, die es nicht gibt“. Bei aller realen Furcht und Einsamkeit, die er erfahren haben mag, spürt er früh, daß er die Erfahrungslandschaft seines Alltags in Zonen verwandeln muß, wo er die Kunst der Beobachtung unbefangen praktizieren kann, und sie gegen die ihn umgebende Gemeinschaft verteidigen muß. Bin noch nicht weit mit dem Buch, aber so etwa der Tenor der ersten Kapitel, der letztlich auch eine Weise des „phantasmatic support“ beschreibt.

Jörn Bünning:

Vorsicht!
Ich hoffe, Du weißt, worauf der sich einlässt, der seine Dämonen füttert und seine Wirklichkeit gegen eine soziale Umgebung verteidigt. Kafka war psychisch isoliert und so fruchtbar dieser Boden für seine künstlerische Gestaltung war, so furchtbar litt er zugleich unter den Dämonen seines phantasmatic support, stets in Gefahr die Kontrolle über den letzten Bauern vollends zu verlieren.

Einen Großteil ihrer Zeit ver(sch)wendet die menschliche Spezies dazu, sich einer gemeinsamen – „der richtigen“ – Realität zu versichern, ihren phantasmatic support nach Kräften zu domestizieren, eine gewaltige kulturelle Leistung, die aber selbst größeren und sog. „aufgeklärten“ Gesellschaften nur zeitweise und unter größten Mühen gelingt. Die großen Massenhysterien der Zeit singen uns periodisch Strophen über die Vergeblichkeit all dieser Bemühungen.

Und die Sprache, die sich anbietet als ein Geländer vor den inneren Abgründen und als betretbare Brücke zum Gegenüber, wird selbst zu einer trügerischen Spur in den Nebel und ehe wir uns versehen, stehen wir mitten im grausamen Grau, ängstlich aneinander geklammert, doch ohne einen Halt.

Folge Deinem Instinkt wie ein Käfer auf dem Tellerrand, der unendliche Welten bezwingt, indem er die Angst vergisst, wo er sie lebt.

Die Krähen behaupten / Christian Erdmann:

Vorsicht! Ich hoffe, Du weißt, worauf der sich einlässt, der seine Dämonen füttert (…)

Absolut.

Wie bedrückend die Gewißheit gewesen sein muß, daß nichts im Leben ihm selbstverständlich war. Worauf Alt, meinem ersten Verständnis nach, hinauswill: natürlich scheint der Vater die personifizierte Selbstgefälligkeit im Lehnstuhl gewesen zu sein, ein Alltagsdespot, der unmißverständliche Handlungsmaximen, geronnene Lebensweisheiten und banale Gemeinplätze verkündete, aber Alt sieht trotzdem die Frage, ob der Vater tatsächlich dem hier entworfenen Bild objektiv entsprach, oder ob Kafka das Modell einer archetypischen Autorität als unumkehrbares Grundmuster von Fremdheit und Bedrohlichkeit auch beizubehalten bzw. noch zu verstärken suchte, für jenen abweichenden Selbstentwurf, der sich im Schreiben verwirklichte.

Man weiß wohl von Ottla, Kafkas Lieblingsschwester, daß sie dem Vater gegenüber einen offeneren Trotz zeigte; anderer Umgang mit dieser Figur also theoretisch möglich war. Seine Schwestern liebten Kafka, Brod scheint ein wunderbarer Freund gewesen zu sein (der, so interpretiert Alt, auch Kafkas letzten Wunsch richtig verstanden hat), Kafka konnte ein glänzender Unterhalter sein usf. Insgesamt also Ausloten der Möglichkeit, daß Kafka die Zone der Isolation, die Du beschreibst, sehr bewußt bewohnte und behauptete; all seine Kräfte in sie zusammenzog, Kräfte, die er immer als sehr bemessen ansah. Daß er, trivial gesagt, nicht nur ein „angenehmeres“ Leben der Kunst opferte, sondern daß er den phantasmatic support bewußt zur Verdunkelung seiner Umgebung benutzte; um in den Schatten bleiben zu können, die ihm Hellsicht gewährten.

Was Kafka beim Schreiben anstrebte, würden Neumodiker wohl als „flow“ bezeichnen; das glückende Schreiben als ununterbrochener Strom (die 8 Stunden von „Das Urteil“). Du kennst die Tagebucheinträge, die, wenn das nicht gelang und er abbrach, z.T. nur aus zwei Worten bestehen: „Nichts, nichts.“ Wenn man ahnt, worin Kafka Glück empfand, ahnt man auch, welche Verzweiflung in diesen zwei Worten liegt. Vielleicht eine stärkere als jene, die von den Dämonen ausging? Wage ich nicht zu beurteilen.

ray05:

[…] „Nichts, nichts.“ Wenn man ahnt, worin Kafka Glück empfand, ahnt man auch, welche Verzweiflung in diesen zwei Worten liegt. Vielleicht eine stärkere als jene, die von den Dämonen ausging? Wage ich nicht zu beurteilen.

Nun, wenn ich mir den Künstler vorstelle als jemand, der sich alles, was ihm widerfährt, zunutze macht – egal, ob das Widerfahrene „eingebildet“ ist oder nicht -, dann vermute ich, dass er jene Teile, die ihm den größten Nutzen für seine Arbeit versprechen, dementsprechend kultiviert, auch wenn’s wehtut und die Verzweiflung mit am Tisch sitzt wie so ein Farmer aus dem Mittelwesten mit zugekniffenen Augen, Strohhut und angelegter Schrotflinte. :) Denke dennoch, dass dieses „Nichts, nichts“ der größtmögliche Verzweiflungssatz ist, denn was kann schlimmer sein als das Eingeständnis vor sich selbst, nichts [mehr] zum Sprechen bringen zu können, sich nichts [mehr] zunutze machen zu können.

KLMO:

Bei Kafka spielte natürlich seine angeschlagene Konstitution eine Rolle. Kafka suchte am Anfang auch das Abenteuer, das Leben im Extrem, den Weg nach oben. Stattdessen überall unüberbrückbare Hindernisse, verbunden mit einer schon früh angeschlagenen Gesundheit. Beispiel: Meldet sich als Kriegsfreiwilliger, Vater interveniert – um dann noch einmal wegen Dienstuntauglichkeit abgelehnt zu werden. (Man beachte seine TB). Schon hier liegt der Schlüssel für sein introvertiertes Leben. Als Metapher: Den Berg auf herkömmliche Art zu besteigen, bleibt ihm verwehrt.

Gezwungenermaßen verharrt Kafka in der Ebene, aber er besitzt die Fähigkeit, den Berg zu durchschauen.

Die Krähen behaupten / Christian Erdmann:

…verharrt Kafka in der Ebene, aber er besitzt die Fähigkeit, den Berg zu durchschauen.

Klasse, der Satz.

Denke dennoch, dass dieses „Nichts, nichts“ der größtmögliche Verzweiflungssatz ist, […]

Wahrscheinlich eben: ja. Diese Fabrik im Zizkov-Bezirk, für die Kafka 1911/1912 Teilhaberschaft übernimmt, heftiger Streit mit dem Vater, der ihm Vorwürfe macht wegen seines geringen Einsatzes für das Unternehmen; Kafkas Verzweiflung ist so groß, daß er „Eine Stunde dann auf dem Kanapee über Aus-dem-Fenster-springen“ nachdenkt. Herbst 1912, als die literarische Arbeit gut voranschreitet, erneut Selbstmordgedanken, weil er die Fabrik regelmäßig besuchen muß. Seine Erklärung, warum er den Sprung aus dem Fenster nicht gewagt hat, färbt größtmögliche Verzweiflung mit der angesichts größtmöglicher Verzweiflung größtmöglichen Ironie: weil „das am Lebenbleiben mein Schreiben (…) weniger unterbricht als der Tod.“

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Aljoscha der Idiot

Geistesblitze

Rezension #8

15. Oktober 2007

Geistesblitze

Von Edda Sörensen

Nach der Lektüre dieses Buches, das ich vor einer Woche bei Euch kaufte, komme ich von Geistesblitzen geradezu illuminiert langsam wieder auf die Erde zurück, genau mit diesem (anfangs hielt ich die Anpreisung des Herausgebers auf der Rückseite des Buches für ein wenig vermessen) versprochenen Lächeln im Gesicht. Glücklich, ja, denn mit blankpolierten Augen konnte ich wie mit einem Präzisions-Fernglas Einblick in faszinierend inspirierende Gedankenwelten gewinnen, die sich wie schimmernd feiner Galaxienstaub in weiten Kreisen um die Liebe drehen bis sie am Ende, waagrecht wie senkrecht Gewissheit schaffend, auf sie treffen.

Erstaunlich, dass dieser Dichter noch nicht „entdeckt“ wurde. Ich kann dieses Buch nur wärmstens für den Gabentisch Feingeistiger empfehlen.

Amazon-Rezension für den Roman "Aljoscha der Idiot" von Christian Erdmann: "Geistesblitze", von Edda Sörensen.

Geistesblitze @amazon

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Aljoscha der Idiot

Was für ein exzellenter Gebrauch der deutschen Sprache!!!

Rezension #7

10. Juli 2007

Was für ein exzellenter Gebrauch der deutschen Sprache!!!

Von Rita Handt

Danke an Christian Erdmann für dieses wunderbare Buch. Als Kämpferin für die deutsche Sprache habe ich es mit Begeisterung gelesen. Bitte mehr davon.

Amazon-Rezension für den Roman "Aljoscha der Idiot" von Christian Erdmann: "Was für ein exzellenter Gebrauch der deutschen Sprache!!!"

Was für ein exzellenter Gebrauch der deutschen Sprache!!! @amazon

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Vorweihnacht

Sabotage sabotieren

What’s this?
Vorweihnacht

Eine Vergangenheit ist nach wie vor Gegenwart. Ich bin nicht sicher, ob ich verstehe, was Sie meinen, aber es ist wohl so, dass ich es auf eine Art bejahen würde. Manche Vergangenheiten bleiben oder werden Gegenwarten, unabhängig von Zeit und Ort des subjektiven Erlebens und Aufenthalts. Was ich meinte, war, dass ich dazu neige, mich an Unannehmlichkeiten weniger deutlich zu erinnern als an freundliche Erlebnisse, ein Prozess, den ich unter Aufbietung von Perspektivwechseln aufzuhalten suche.

Ich kann mir nur wenige Vergangenheiten vorstellen, die eine objektive Macht besäßen. Diese müssten sehr tiefe Gravuren hinterlassen haben, nicht wahr? Was mich umtreibt, ist die Auseinandersetzung mit dem Leben, das nicht gelebt ist. Otto Rank sagte, dass manche Menschen die Schuld des Todes so sehr fürchten, dass sie das Darlehen des Lebens ausschlagen.

Die Angst, das Leben aufzubrauchen. Ich habe die Wahl, ob ich das meiste aus dem Leben mache, das noch vor mir liegt, oder ob ich weiter so tue, als würde der Tod nie kommen. Verstehen Sie, das geht weiter als „Carpe diem“, es hat sich ein hohes Maß an Vermeidung eingeschlichen, war in mehrfacher Hinsicht immer da und ich werde mir mit Schrecken darüber bewusst.

Ich kenne das Gefühl, im Traum aus einem Traum zu erwachen. Die Adaption an die Realität beim wirklichen Aufwachen fühlt sich dann an wie eine schwere Wolldecke, unter der man hervorkriecht und das Staunen über die veränderte Umwelt, die genauso ist wie zuvor. An Landschaftsträume erinnere ich mich nicht, was, glauben Sie, bedeuten die Landschaften?

Cocteau Twins :). Es sollte heißen: „When Mama Was Goth“.

Ich war kryptisch und werde es bleiben müssen, vielleicht macht es ein wenig mehr Sinn, wenn Sie die verschiedenen Zeitebenen, die ich beschrieb, mit Personen und deren Präsenz (objektive Macht) identifizieren. Eine Gegenwart, die zu groß und zu bedeutend ist, um je Vergangenheit zu werden, auch wenn man daran glaubte – derzeit sitze ich auf my own personal Saturnring und frage den Vollmond, wann ich aufhören kann, ihn anzuheulen. Otto Rank? Das ist doch „Doppelgänger“-Rank? Unter besagten Schiffsladungen zum „Horror“ müßte sich das irgendwo befinden. „Besagt“ in jenem Interview, das man mit mir führte, meine ich. Gleichwie: was mir fehlt, ist eine bestimmte Art von Skrupellosigkeit. Vielleicht fehlt Ihnen eine andere? Skrupellosigkeit darin, die Schuld dem nicht gelebten Leben gegenüber zu begleichen?

Was Sie sagen, zum tiefer als „carpe diem“: keine Zeit mehr fürs Zweitbeste. In der Kunst nicht und im Leben nicht. Aber eben deshalb, weil es so viel Bestes gibt.

Grüßen Sie Ihre wundersame Prinzessin doch bitte von mir, sofern sie sich noch erinnert.

Ihre Krypten sind verständlich, überraschenderweise verstehe ich meine Position nicht als eine, in der mir etwas anderes zustünde, als zu wünschen, dass es Ihnen wohl ergehen solle.

Sie berichteten vom „Horror“ in einem Stiegenhaus. Ich erinnere mich. Und auch die Wundersame, die keine sein will. Sie nahm Ihren Gruß huldvoll entgegen, enthielt sich aber in höfischer Manier einer Antwort.

Keine Zeit mehr fürs Zweitbeste, ja, das trifft es mehr als Sie ahnen. Mit dem Unterschied, dass es auch kein Bestes gibt. Es gibt nur diese Aufgabe, die mir systemisch zuteil wurde. Die beigelegte Isolation wiegt schwer auf Schultern, die vieles tragen müssen. Der Versuch, der existentiellen Isolation zu entkommen, scheiterte jüngst an einer falschen, zweitbesten Lösung dieser unlösbaren Grundtatsache des Lebens und so beneide ich Sie fast. Nicht um den Zustand, sondern um die vermutlichen Gründe, die den Mond als Zuhörer fordern. Skrupellosigkeit, ein schönes Bild. Verpflichtung und Erfahrung rauben ihr den Atem.

Ich befürchte Schlimmes für die ausstehende Veröffentlichung der Herren Smith / Gallup / Cooper/ Thompson, obwohl es nach der letzten nur besser werden kann, wie Stimmen unkten.

Glauben Sie denn an unlösbare Grundtatsachen des Lebens? Ich fürchte, wenn gilt, man kann nie sicher sein, dann auch nicht hinsichtlich existentieller Isolation. Wissen Sie, wie Montaigne „diesen scheinbaren geistigen Zusammenhang, den jeder sich in seinem Inneren zurechtmacht“, nannte? Vernunft. Unsere Vorstellungen von uns selbst, sie stehen wie Minotauren im griechischen Hain herum, und wenn es unvernünftig ist, jeden Tag einen Minotaurus wegzuschieben, bitte. Manchmal sind scheiternde Ausbruchsversuche ja nur vordergründig ein Scheitern, und das Loch ist da. Und wenn es nicht da sein sollte, kann man es immer noch hin-sehen. Wie sagt Bebuquin, auf kippligem Barstuhl balancierend: „Darum, meine Damen, werden so viele verrückt. Wir entbehren der Fiktionen, der Positivismus ruiniert.“

Aber wie Sie mir mal im Hinblick auf meine Vorschläge, was Marilyn Manson tun sollte, sagten: Sie haben es nötig.

Sie meinen „The Cure“ von 2004? Ich müßte sie mal wieder hören, aber wenn ich mich recht entsinne, war es teilweise ein recht enthusiasmierendes Getöse. Sie kam mir erst kurz vor meinem Exodus zu Ohren, und die Mütze, die unter der Mütze hielte, was mir seitdem über den Kopf wächst, existiert noch nicht.

Hat das System, das Sie systemisch nennen, sozusagen einen Titel? Oder ist es eher leitmotivisch? 

Hm. Ich glaube eigentlich an gar nichts und somit auch wieder an alles. Ich gehe mit der Grundtatsachenvorstellung spazieren, weil sie tatsächlich einen gewissen Trost beinhaltet. „Wenn du auch allein in deinem Boot sitzt, ist es doch beruhigend, die Lichter der anderen Boote vorbeiziehen zu sehen.“ Und, ja, andere Grundtatsachen des Lebens sind nach Yalom die Unausweichlichkeit des Todes und die Freiheit (sich zu Bedingungen zu verhalten…). Auf Basis seiner Theorie behauptet er unter anderem, dass unausgegorene Versuche, der Isolation zu entkommen, Beziehungen zu anderen Menschen sabotieren. Und davon kann ich ein Gesamtwerk singen.

Das Scheitern ansich ist unproblematisch vertraut, aber wenn ich die Minotauren auch derzeit verschiebe wie Güterzüge im Verschiebebahnhof, dann sind da immer noch „die Anderen“, zu denen keine Brücke geschlagen ist. Eine tragfähige Brücke. Fundamente im Baumarkt nicht lieferbar. Aber Ihre Frage ist berechtigt. Glaube ICH oder glaube ich nur, was geschrieben steht, weil es bequem oder gar tröstlich ist? Verstellt die Trostsuche den Blick auf oder in? Positiv ist, dass ich darauf keine A-Dur Antwort mehr finde. Sicher ist, dass ich etwas zu verändern suche, was Sie mir einmal sagten: Wir sprechen immer nur von mir. Wir sprechen nie von Ihnen. Womit Sie einen Schutzmechanismus entlarvten, der eben diese Sabotage bedeutet. Fiktionen sind mein Leben seit 200 Jahren, mitunter wäre etwas mehr Positivismus gar willkommen. Ah, non. „Es wäre alles noch viel schlimmer ohne Fußball und Dosenbier.“ (Lotto King Karl)

Gute Mützen sind schwer erhältlich und Stricken gehört auch nicht in mein Repertoire. Ich weiß schon. Würden Sie den Exodus denn gern rückgängig gemacht haben wollen können werden?

The Cure von 2004 hörte sogar ich – und das ist bedeutsam – nicht so oft, dass ich alle Texte auswendig könnte.

Systemisch nennen wir Seelenforscher – hüstel – die Einordnung des Einzelnen in ein System (in aller Regel die Ursprungs- später auch, wenn vorhanden, die Kernfamilie). Da das System nun mal mächtiger als der Einzelne ist, verfehlt es seine Wirkung auf dessen Entwicklung nicht.

Während zuviel von sich zu sprechen dann bedeuten kann, daß man plötzlich zuviele Brücken gebaut hat, aber mit der Vorstellung, die dann vom Genie des Baumeisters besteht, nicht eins werden kann. Rückgängigmachen des Exodus ist derzeit nicht möglich. Und doch stellt sich mir, wie Sie bemerkt haben, die Frage nach Macht und Verbleib gemeinsam geschaffener Universen. Wir hatten so sehr eine eigene Sprache, daß, wenn wir auf den Dachboden gestiegen sind, wo sich der Eierkopp-Nachbar gerade friedlich ein Schüßchen setzte, dieser nach 10 Minuten Mitanhörenmüssen von Beaumarchais-Gespräch entnervt sein Refugium verließ.

Ah, und geht es nicht letztlich darum, jemanden zu finden, der die eigenen Fiktionen schon seit weit über 200 Jahren teilt und versteht? Daß dies möglich ist, kann ich wiederum unter Positivismus verbuchen. Allerdings entsteht auch daraus ein System, das mächtiger ist als der Einzelne, scheint mir, auch mit der Eigenmacht negativer Kräfte, gegen die noch 200 Jahre ankämpfen zu wollen vielleicht aber, wenn die Alpträume ein Ende haben, der letzte Beweis der Liebe ist.

Die Sabotage der Schutzmechanismen ihrerseits zu sabotieren, Tagesbefehl Nr. 2 an die Kunstarmee. Die Angst selbst ängstigen mit dem, was sie nicht vorhergesehen hat. Der Zweifel hält ständig seine Kamera auf uns, aber wir können noch die Bilder zerreißen. Jeder Heutehammer will das Examinieren der eigenen geheimsten Wünsche zermalmen: verweigern wir uns.

Verzeihen Sie, dass ich gestern nicht stoppte, aber ich war in Gedanken und Eile. Es ist immer so, nun ja, Sie wissen schon (Vgl. The Cure, Cut Here, Zeile 15-18). Ich sinnierte über einen Nietzschesatz. Der Schlüssel zu einem erfüllten Leben liege darin, das Unumgängliche zu wollen und dann das Gewollte zu lieben. So ging der Satz in etwa. Ein wichtiger Satz, aber wem sage ich das, Sie schrieben ein Buch darüber. Eigentlich vertragen sich solche Gedanken schlecht mit der Teilnahme am Straßenverkehr. Zumal die Teilnehmende derzeit wiederholt Extrem-Multitasking betreibt und sich die Wirklichkeit mitunter als ganz unwirklich ausnimmt. Ich versinke in mir und bin nach außen nur sichtbar, weil es nicht anders geht.

Wissen Sie, dass Dachböden für manche Seher die Zukunft symbolisieren? Keller stehen für Vergangenheit. Mehr als eine Dekade Fiktionen und Sprache zu teilen und darin mehrere Jahrhunderte zu vereinen, ist ein mächtiges System und ich wünsche Ihnen ernsthaft Streichhölzer. Setting fire to bridges, boats and all the dreary worlds, you know.

Geht es wirklich für Jeden darum, jemanden zu finden? Zunächst plage ich mich damit, ein „So war es“ in ein „So wollte ich es“ umzuschaffen. Ich wäre dann, meine ich, frei, die zu werden, die ich bin, was unbedingt vor dem Finden des Gegenübers steht.

Die Angst ängstigen… die Bilder des Zweifels zerreißen! Welch glückliche Wortverbindungen – ich danke Ihnen!

Trotzdem glaube ich ja, daß konzentrierte psychische Energie die Wirklichkeit zu irritieren vermag, und das muß dann auch wieder ins Phänomen „Bestimmung“ integriert werden. Besser jedenfalls, aus Insichversinken unsichtbar zu sein, als aus Vagheit. „Dieser Nigel ist so vage, daß er schon fast unsichtbar wirkt.“ (so ungefähr jedenfalls, John Osborne, Blick zurück im Zorn).

Nein, daß Dachböden und Keller verschiedene Zeitebenen symbolisieren können, wußte ich nicht. Heute nacht träumte ich, daß ich ein entscheidendes Fenster im Philosophenturm aufriß, in luftiger Höhe, was den ganzen Betrieb durcheinander brachte, und ich dann den Rest der Nacht durch einen kafkaesk expandierten Philosophenturm von Versteck zu Versteck jagte, damit die aufgebrachte Meute mich nicht findet. Ich entkam.

Der intensive Wunsch, erst ein Selbst zu schaffen, mit dem man einem Gegenüber ohne „I’m not match“ gegenübertritt, erinnert mich an Pjotr. Und es ist auch mir sehr gut vertraut. Indes, mittendrin kann es geschehen, daß jemand kommt und dir das Werden, was man ist, nicht mehr überlassen kann, weil er dich, take the Heidegger term and run, entbirgt.

Derzeit auf dünnem Eis, das manchmal geräuschvoll kracht, und ansonstem mit einem rasenden, leicht unverständlichen Austausch von Keller und Dachboden beschäftigt, als wäre Zeit ein Buster Keaton-Film, widme ich die Stunde des Wolfes derzeit Carlos Ruiz Zafón, „Der Schatten des Windes“ – kennen Sie den Roman? Eine Ihnen aus der BS noch bekannte Ina lieh es mir, und ich muß sagen, Widerstand ist zwecklos. Man könnte sagen, die Geschichte handelt davon, wie ein Buch zu jenem Einfallsloch wird, durch das Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sich zu munterer Vermengung treffen. 

Dankeschön, auch an The little Princess! – ein Jahr, das derart unter vier Augen beginnt, hat gefälligst brave new zu werden. Sie sagten, das Kind gibt sich mit Bach ab, geigend? Kaum, daß sie sprechen gelernt haben, erzählen sie einem die phantastischsten Geschichten, als hätten sie über einen langen Zeitraum hinweg beobachtet, aufgespeichert und angereichert mit Dingen, die wir schon lang zu sehen verlernt haben. Und umgekehrt könnte man meinen, die verlernen bloß, Wunderkind zu sein. Aber daß Sie bereits Geigenklängen lauschen, ist überaus bemerkenswert. Gerade höre ich den Soundtrack zu „The Hunger“, Bachs Cellosuite # 1 ist auch darauf, nebst einiger schamloser Diebstähle beim Soundtrack zu „Performance“, aber das macht ja auch nichts. Bowie im Film wirkt oft so schrecklich verloren. Und das Schreckliche ist, daß man sich dann oft so fühlt wie Bowie im Film. Ich gehöre ja zu den wenigen Menschen auf diesem Planeten, die „Schöner Gigolo, armer Gigolo“ gesehen haben. Da war er fast so verloren wie in „The Man Who Fell To Earth“. Sie sind doch todsicher bei The Cure? Hinterlassen Sie doch geheime Zeichen auf der Gemüsematschbassistinnenseite. 

Gemüsematschbassistinnenseite? :) Geheime Zeichen können Sie haben, aber wenn die Seite so geheim ist, dass ich sie nicht kenne, bleiben die Zeichen siebenschleierhaft.

Ist ja auch gar nicht so geheim – selbstverständlich suche ich den Mann auf, dessen Musik seit mehr als 20 Jahren mein Dasein begleitet. Was auch immer mich dort erwartet, allgemein werden die besten Live – The Cure erwartet, die es je gab. Porl ist wieder dabei. Dreistündige Konzerte. Irgendwo spielten sie im Herbst gar „How Beautiful You Are“. Es zu verpassen ist undenkbar. Notieren Sie das.

Amor fati? Fatalismus wohl? Ich neige zu diesem. „There is no if, just and.“ Auch dies sang Smithy.

Sie schrieben erstaunlicherweise gerade gestern über das Kind, dem Tag, an dem es ein weiteres Jahr seiner Kindheit beendete. Sie spielt, wenn auch nicht wunderkindisch, so doch herzig und entschlossen. Heute machten sie und ihr Geigenlehrer sich zweistimmig an Vivaldis Herbst. Zuweilen ist es nicht einfach, dabeizusitzen. Auch an Tagen wie dem gestrigen wird die Mutter etwas wehmütig und es ziehen Bilder vorüber von vergangenen Momenten, an denen eben diese Wunder sich offenbarten, die Sie meinen.

Gemüsematsch. Sie haben doch wieder die Möhren anbrennen lassen!? Wir sollten ein Kochstudio für intellektuelle Nichtskocher eröffnen. Nach Muppets Vorbild ist es darin Pflicht, das Gemüse mit geschlossenen Augen in den Kochtopf zu befördern – werfenderweise selbstredend. Außerdem werden nur gut durchanalysierte Milchprodukte verwendet und Uhren sind zwar nicht verboten, aber verpönt. Gemüsematsch. Kennen Sie denn meine Matschtheorie? Die aus der Philturm Mensa? Angewiderte Kommilitonin und ich entwickelten diese. Der Chef de Cuisine des Studierendenwerks unterhält geheime Beziehungen zum Lauchplantagenbesitzer auf Kummerland. Um die Mindestabnahmemenge zu erfüllen, müssen Studenten täglich mehrere Tonnen von dem depressiven Zeug ertragen. Weiterhin gibt es in der Küche einem Nebenraum, zu dem nur Mensabedienstete Zugang erhalten, die genügend Sadismus Studenten gegenüber bewiesen haben. Hier stehen große Eimer, in denen grobes Pulver in verschiedenen Farbvariationen von Ocker bis Umbra lagert. Auf die Lauch- oder anderen Gemüsekreationen, die erst zufrieden stellend die Küche verlassen dürfen, wenn sie ordentlich verkocht sind, werden große Kellen aus eben dem Pulver angerührten Matsch gehauen. Die Farbwahl (Welche Farbe Matsch nehmen wir heute, Eckhart?) trägt täglich zur Belustigung des Personals bei.

Ich habe das Buch noch nicht gelesen, obwohl es mir schon von anderer Seite empfohlen wurde. Oder nein, es muß wohl heißen, ich habe es nicht gelesen, WEIL es mir von gewisser Seite empfohlen wurde. Da Sie es sind, werde ich dem Werk nun eine zweite Chance gewähren und es nach geschriebener Terminabgabearbeit zur Hand nehmen. Schatten treffen sich ja in der Dunkelheit und halten Tratsch über ihre Besitzer. Deshalb muß man immer drauf achten, ob am Morgen auch der richtige Schatten zu einem zurückgekommen ist. Es kommt da schon mal zu Verwechslungen.

Ich glaube, diese Filme, aus denen dieses Gefühl entsteigt, „so zu sein“, finden uns von ganz allein. Bowie und Sie, wer würde keine Parallelen finden? Ich sah kürzlich einen Film, in dem Corinna Harfouch auf unglaubliche Weise Bozena Nemcova gab und war berückt und verstört für Tage. Ich war nie so arm, nie so krank und nie so konsequent wie sie, aber ich konnte mich nicht des Gefühls erwehren, ihre Zustände bestens zu kennen.

Habe zunächst mal „undenkbar“ notiert. So geheim ist die Seite nicht: es ist die linke. Da stehen gern die Bassisten wie Jeordie White, wenn er mit Nine Inch Nails in die Berliner Columbiahalle kam. Oder eben auch die Smashing Pumpkins-Bassistinnen. Deren erste ein langjähriges Faszinosum ist, die aber erst in Substanzen- und dann in Geheimnebel abtauchte – man hört Dinge wie Pferdezüchterei und Antikenhandel. Gern würde ich einen blauen Fayencering der Bint-Anath bei ihr kaufen, da ich aber nun einmal der sanften Ironie Ihrer Worte eingedenk mitnichten mich hoch über dem Genfer See mit Tomaten aus dem teuren Bowiesandwich vollkleckere, muß das ein Traum bleiben. Diese Ihre Matschtheorie gefiel mir aber blendend. Bevor ich meine eigenen Beobachtungen aus der HS-Küche lieber für mich behalte, fällt mir ein, daß Gallup gar nicht links steht. Jetzt ist also D’Arcy durch eine gewisse Ginger Reyes ersetzt, beim RaR klang das ja alles hinreißend.

Auch Ihre Schattentheorie hält natürlich jeder Überprüfung stand, von Carl Theodor Dreyers „Vampyr“ bis zu Nick Caves „Jack’s Shadow“ finden sich dankenswerterweise Indizien, daß man nicht allein ist mit diesem Gefühl, daß der Schatten einen zuweilen einen guten Mann bzw. eine gute Frau sein läßt. Wenn man also das Gefühl hat, nicht über seinen Schatten springen zu können, könnte zuweilen das eigentlich Interessante daran sein, daß es der Schatten eines anderen ist. Hm. Wirklich. („Wirklich“ wie in: „Now really Mansfield, must you!“).

Über Bozena Nemcova weiß ich leider gar nichts, außer eben, nun ja (wie oft haben SIE es gesehen, in den Weihnachsferien?), und daß man sie rund um Prag vor allem für „Babicka“ liebt. Aber ich denke, ich weiß, was Sie meinen, und ich will jetzt nicht wieder von dem Moment anfangen, in dem ich in Paris vor dem Haus stand, in dem Lautréamont verhungerte. Die Sache mit Carax, nun, sobald ich mehr als 342 Exemplare verkauft habe, nehme ich alles zurück, aber trotzdem stellt sich die Frage, ob man auf Papier schlafen und Tinte saufen soll für den Rest der Tage. Und ich wohne noch nicht mal über dem Roten Salon. Und der Mann hatte noch ein anderes Problem, an dem vor allem andere litten. Aber am Ende wußte er zumindest eines: daß wir tatsächlich alle durch eine seltsame Kette von Schicksalen und Zufällen miteinander verbunden sind. Keiner weiß eigentlich genau, welche Rolle er im Leben eines anderen spielt.

So ist die kleine Virtuosin also Sternzeichen Steinbock. Überrascht mich bei dem Blick gar nicht. Sie wissen, daß man als Steinbockmädchen immer ein paar Jahre klüger, schlauer, weiser ist als die blöden Mitschülerinnen? Dafür werden diese Mädchen später partout nicht älter, man kann fast sagen, sie werden jünger. Mit Ballett und Sheridan Le Fanu aufwachsen, und natürlich jeden dieser ziselierten Sätze aus „Onkel Silas“ verstehen, ja auswendig können, dann mit Mitte 30 Marilyn Manson entdecken und später am Bühnenausgang stehen und Josh Homme den einzigen sein lassen, der zu schlapp ist, um als Steinzeitkönigin noch ein Autogramm zu geben.

Sie fanden Ironie in meinen Worten, die ich dort nicht reinlegte. Wenn ich von Parallelen schreibe, so meine ich nicht die Unterschiede, sondern die Parallelen ;) Ah, ja, die Smashing Pumpkins waren auch der einzige Gemüsematsch, der mir einfiel. Werden Sie diese denn aufsuchen, wenn sie dieselbe Arena beehren, wie meine Hausband? Simon Gallup, in Berlin stand ich vor ihm und als jemand Simoooon! rief, bemerkte ich, dass ich es war (aber „Simon, du geile Sau“ rief eine andere). Ich wusste nicht, dass Bassist(inn)en Sie so faszinieren, finde es aber verständlich. Wenn man dem Film glauben darf, schlief Bozena Nemcova tatsächlich auf Papier am Ende ihres Lebens. Man kann die naive Idylle der Babicka erst verstehen, wenn man die Tragik ihres Lebens kennt. Sie wusste nicht, dass sie das Kind einer Adligen war, die sie nach einer heimlichen Affäre nicht behalten konnte. Sie wuchs deshalb bei Angestellten auf, die sie zeitlebens für ihre Eltern hielt. Wahre Liebe begegnete ihr nur einmal, und nur sehr kurz, während ihr Ehemann spielte und trank und ihr jedes Geld abnahm, das sie verdiente. Und doch war sie bereit, allem zu entsagen, was ihr noch die geringsten Bequemlichkeiten ermöglichte, nur, um schreiben zu können, da sie im Schreiben die einzige für sie zugängliche Schönheit fand.

Simone de Beauvoir wurde am 9. Januar 1908 geboren. Letzte Nacht sah ich einen schlechten Film über sie. Alice Schwarzer fragte dümmlich, warum sie und Sartre sich konsequent siezten und sie erhielt eine wunderbare Antwort, die keine war, was mich erfreute. Ich habe Alice Schwarzer vorher nie so naiv erlebt, wie sie es seinerzeit gewesen sein muß. Das Interview fand in Beauvoirs Wohnung statt und Schwarzer besaß die Dreistigkeit zu fragen, warum ihre Wohnung nicht die eines Autors, sondern die einer Frau wäre! Ich dachte, ich springe in den Fernsehapparat, tat es aber nicht, da ich vermute, es gibt Kopien dieser Aufzeichnung. Also wäre es eine sinnlose Verzweiflungstat gewesen. Naja, die Schwarzer eben, ihre Gefühllosigkeit ließ sie überhaupt nur so erfolgreich werden. La Beauvoir reagierte wiederum gelassen und erzählte von den Reiseerinnerungen, die sich in der Wohnung türmten.

Ja, ich weiß von der Besonderheit der Steinbockfrauen. Glücklicherweise habe ich horoskopisch ebensolche Anteile in mir und das macht es leichter, Verschiedenes zu verstehen. Ich kann nur selten mitreden, wenn andere von ihren Kindern und v.a. von Schwierigkeiten mit diesen erzählen. Meistens schweige ich dazu, da es nicht ankommt, wenn ich versuche zu erklären, was bei uns anders ist. Treffend beschrieben, „die blöden Mitschüler“. Manche behandeln sie fast ehrfürchtig, was sie gelassen akzeptiert, da es ihr selbstverständlich erscheint.

Das Setting der Geigenstunde ist übrigens eine der größten Herausforderungen für mich. Ich habe Grund zu der Annahme, dass auch der Lehrer im Zeichen des Steinbocks geboren wurde. Menschen, die eine solche Stunde von außen beobachten würden, könnten nicht das Geringste erkennen; zur Begrüßung murmelt einer der drei eventuell ein Hallo, es wirkt, als würden Fremde sich vollkommen desinteressiert zu einer eher unangenehmen Aufgabenerfüllung treffen. Doch wenn die beiden zu spielen beginnen, sammeln sich in dem kleinen Raum psychische Energien. Über die Geige und das Kind hinweg strahlt er mich aus seiner sonst unzugänglichen Welt heraus an und in einer Weise, die kaum auszuhalten und nur schwer zu verstehen ist, empfinde ich die Musik wie keine andere. Wenn ich zurückblicke, erscheint Verwunderung in seiner Mimik. In seinem Blick auf das Kind sehe ich wiederum das Erstaunen über ihr Anderssein neben den anderen Schülern und das tiefe, aber unbewußte Verstehen unseres Gleichseins im Anderssein. Am Ende der Stunden gehen wir fast ohne Gruß wieder auseinander, wie Flüchtende.

Als die Stunden im letzten Mai begannen, nahm ich Ihr Buch erneut vor und das Wesentliche Ihrer Geschichte offenbarte sich wie nie zuvor; Gefühle, die Aljoscha durchlebt, schauten mich belustigt an, als wollten sie sagen: siehst du, so ist das. Aber keiner weiß genau, welche Rolle er im Leben eines anderen spielt, lernte ich heute Mittag und vielleicht ist das auch besser so.

Sabotage sabotieren. Ein Briefwechsel (mit Christian Erdmann und Mlle. Catherine). Bild: Carl Theodor Dreyer, Vampyr.
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Ballett

Anna Pavlova

Eines Tages aus einem Antiquariat in Kopenhagen mitgenommen:

Programm „Mindefesten [Memorial] for Anna Pavlova“, Det Kongelige Teater Kopenhagen, 23. Januar 1936

Programm "Mindefesten for Anna Pavlova", Det Kongelige Theater Kopenhagen 1936.

Programm „Pawlowa“, Deutsches Schauspielhaus Hamburg, 10. Januar 1928.

Zur Aufführung kamen „Don Quijote“ mit Anna Pavlova als Kitry sowie Divertissements, in No. 2 Anna Pavlova als Sterbender Schwan.

Programm "Pawlowa", Deutsches Schauspielhaus Hamburg, 10. Januar 1928.

Auszug aus diesem Heft:

„Schwebend, entschwindend und bald wieder erscheinend, durchsichtig wie ein Phantom, scheint sie die Gestalt einer Nymphe aus dem Zauberreich. Ihre weiten Aufflüge entführen sie der Erde, entgegen allen Gesetzen der Physik.

Die besondere Eigenart ihres Talentes ist in ihrem immateriellen Wesen verborgen, das sie von allem was auf der Erde lebt wegzureissen scheint. Sie wurde zur Prinzessin eines verzauberten Landes, die über Wald-, Luft- und Wassernymphen herrscht, zur Prinzessin eines wundervollen Märchenreiches von Träumen und Schemen, die kommen und entschweben.

Pawlowa ist es gelungen, den Geist des Tanzes selbst in ihrer Person zu verkörpern, und das ist ihr Genie.

Sie ist DIE Tänzerin, sie ist DER TANZ.“

Anna Pavlova, Primaballerina.
Anna Pawlowa.
Anna Pavlova.
Anna Pavlova by John Lavery.
Anna Pavlova, russische Primaballerina.
Anna Pavlova, Tänzerin.
Anna Pavlova in Ägypten.

Victor Dandré wrote that Pavlova died a half hour past midnight on Friday, 23 January 1931, with her maid Marguerite Létienne, Dr. Zalevsky, and himself at her bedside. Her last words were, „Get my ‚Swan‘ costume ready.“ Dandré and Létienne dressed her body in her favorite beige lace dress and placed her in a coffin with a sprig of lilac.

In accordance with old ballet tradition, on the day she was to have next performed, the show went on, as scheduled, with a single spotlight circling an empty stage where she would have been.

[wiki]

Anna Pavlova starb in einem Zimmer des Hotel des Indes in Den Haag. Am 18. August 2016 standen wir davor.

Hotel des Indes, Den Haag, das Hotel, in dem Anna Pavlova verstarb.
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The Everlasting Gaze

2023

Christian Erdmann, 2023.

Ostern 2023

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Vorweihnacht

Die Abwehrkette geht im Traum vom Platz

What’s this?
Vorweihnacht

Ach, du ahnst es nicht. Oder vielmehr ich ahne es nicht. Naja, ich habe so eine Ahnung. Oder wie Freud sagte: „Manchmal ist eine Zigarre nur eine Zigarre.“

Oder wie Pjotr auf Seite 217 bemerkt: „Man kann nichts erzwingen.“ Schon gar nicht den Schlaf. Oder den Traum. Ich sinniere manchmal über einen Namenswechsel, wobei „myspace.com/Schlaflos in Hamburg“ durchaus treffend, wenngleich trivial erscheint. Zwei Wecker ein Zeichen von Dekadenz! Bewahre, eher halte ich Sie für genial, da leider das Verschlafen nach der Schlaflosigkeit ein beliebter Kunstgriff meines Unterbewusstseins geworden ist. Hm, weiß nur, dass im Traum die Abwehrkette vom Platz geht und Homunkulus hemmungslos und ohne Abseitsfalle zum 0 = 2 verwandelt.

Aber ich nenne SIE doch nicht nach einem Kaffeeladen, wo denken Sie hin!? Sie selbst übrigens waren es, der sich bekannte, gar bei Madonna einzukaufen. Entschuldigung.

Wie kommt es, dass Sie so leicht schockierbar sind? Das Leben ist keine Geisterbahn und doch begegnen mir täglich Untote.

Tatsächlich zog ich kürzlich im Spättau zu Berge, da dieser rief und siehe da, am Gipfelkreuz sind alle Menschen gleich geschafft. Es entschädigte der Blick auf wilde und zahme Kaiser und man konnte den Chiemsee..n. A la recherche ergab sich später in Wolferls Geburtsstadt, dass meine Vorfahren ihm fast noch begegnet wären, wenn sie nicht ins Exil nach Ostpreußen exuliert wären. Temps perdu war das zumindest für meine Launenhaftigkeit gewiß nicht.

Später dann lautet Sic: „Zuviele Noten!“ Aber wer ist Sei Shonagon?

Da ich pro Halbjahr nur eine CD schaffe, ist „Year Zero“ aus der Warteschleife gefallen. Ferner lausche ich den Geigenklängen des Kindes, welches sich schon mit Bach abgibt. Präzisieren Sie doch „Impressionen über eine gewisse Madonna“!? Ich nähme Konsequenzen in Kauf. 

Möglicherweise sagte Freud aber auch viel, wenn die Zigarre lang war. Erstaunliche Koinzidenz jedenfalls, „Schlaflos in Hamburg“ hätte ich mir selbst schon reservieren können müssen gesollt haben. „Bring Me The Head Of Morpheus“ ist zu lang, „Insomnicide“ zu dezidiert, obwohl „Crowned“ von These Immortal Souls all das auf den stets fluktuierenden ungreifbaren Punkt bringt. Sie kennen vielleicht dieses legendäre Projekt des im Cabinet des Dr. Caligari Vergessenen? 

Von den Alpträumen ganz zu schweigen, aber die Gedankenkarawanen könnten eine Sündflut vertragen. Genaugenommen bin ich nicht leicht schockierbar, noch genauer genommen kann mich gerade das Normalste schrecklich schockieren, das Abseitige weniger. Das macht es nicht leichter. Ach, DIE Madonna. Jadanndoch. Die Abwehrkette geht im Traum vom Platz? Das sind ja Spielzüge wie aus dem Lehrbuch. Ein Bilderbuchtor wandelt immer am Rande des Abgrunds, aber er weiß es nicht, und darum fällt er nicht. Nun sagen Sie bloß! Abgesehen von den charmanten Reiseimpressionen: meine Vorfahren sind zwar teils aus Burgund, teils aus Deutschordengebiet zusammengeströmt, dann aber auch in Ostpreußen gelandet. Ach, das Wolferl. Ich hätte so gern ein Venusbrüstchen. 

Sei Shonagon ist die Verfasserin des „Kopfkissenbuches“, eine Art Tagebuch, das sie um das Jahr 1000 herum führte. Peter Greenaway hat sich davon inspirieren lassen für den Film, der hierzulande „Die Bettlektüre“ hieß.

Von und während Schlafphasen wage ich kaum zu träumen. Kürzlich erreichte mich gar ein Schreiben der Lehrerin des Kindes: Die Schule beginnt um acht! Ich empörte mich und wähnte zu antworten: Leider! Aber das Kind lehnte dies ab. Nun ja, der Lehrkörper. Betrat je ein Anhänger dieser Spezies zuspätkommend den Raum und verlor auch nur ein Wort der Entschuldigung? Reine Rhetorik, Verzeihung, ich empöre mich erneut.

Das Gute an Karawanen ist ja, dass sie weiterziehen. Wenn sie allerdings dazu neigen, sich im Kreisverkehr einzurichten, kann einem leicht schwindlig werden, oh ja.

„Sie mögen meine Lehren bei Tag beschimpfen, aber ich bin sicher, sie träumen von ihnen in der Nacht.“ Unser Freund, der die Träume schreibende Homunkulus, amüsiert sich ja oft damit, mehrere Variationen über ein besonders fesselndes Thema zu komponieren. Gibt kaum etwas Spannenderes und mal abgesehen von faustischem Schrecken sind die wilden Träume doch oft hochinteressant. Eine Zeit lang träumte ich oft von einstürzenden Häusern, Neubauten gar, inzwischen sind aber neue Seelenhäuser errichtet und es stürzt derzeit nichts. Schade eigentlich.

Zuweilen fehlt mir das gute alte Mädchenpensionat, in dessen Hallen wir uns begegneten. Zumindest gewisse Aspekte dessen, andere wiederum nicht so sehr. Warum neigt der Mensch eigentlich zur Romantisierung der Vergangenheit?

Abschiedsbriefe an die Vergangenheit, die zu Einladungen werden, oui. Früher hatte ich ein Proustsches Verhältnis zu meiner Vergangenheit. Ich wollte sie aufsuchen, ohne involviert zu sein. Ich wollte all die Menschen, die kamen und gingen, wiederfinden, aber wie in einem Film. Das war in einer Gegenwart, die keine anderen Zeitebenen erlaubte oder verlangte. Dann, als diese Gegenwart in einem Prozeß, dessen Länge sich zur Länge anderer Prozesse verhielt wie „This Corrosion“ zu „Lucretia My Reflection“, zu Vergangenheit geworden schien, fühlte ich immer stärker, ich müsse eine bestimmte Zukunft fragen: was glaubst du, wieviel Vergangenheit ich mitbringen werde in dich? Jetzt ahne ich, daß diese Vergangenheit nach wie vor Gegenwart ist, aber nicht wegen ihrer Romantisierung durch einen der blauen Blume verfallenen Geist, sondern wegen ihrer objektiven Macht. Vielleicht vergessen wir einfach nur zuweilen den Moment, in dem wir vom falschen Dampfer aus winkten, insofern ist „Romantisierung“ vielleicht ohnehin das falsche Wort. Jedes Leben ist ein Mythos. 

Übrigens habe ich soeben Gustav Meyrinks „Der Golem“ beendet – da Sie vom die Träume schreibenden Homunkulus sprachen und gar nicht wußten, wie treffend. Ein phantastisches, wunderbares Buch. Und natürlich sind die Horrorträume voll der faszinierenden Ambivalenz. Eine Binse, daß die Sprache noch der obskursten, wildesten Träume die klarste Poesie ist.

Meine Alpträume kann ich mittlerweile schichten: in einem träumte ich, aus einem Alptraum aufgewacht zu sein, mit glasklarer Erinnerung und Wahrnehmung aller Details meines Zimmers, in dem ich gerade aufgewacht war – aber eben nur im Traum. Und dann bewegte sich die Tür, weil eine Präsenz in meinem Postalptraumzimmer war. Faszinierend. Früher hatte ich ein geradezu Lovecraftsches Traumland, eine Landschaft, die ich immer wieder mühevoll durchwanderte, kennen Sie das auch?

Wobei ich interessanterweise immer andere mythologische Aufgaben zu erfüllen hatte, jedoch die Landschaft mir eine seltsame Kraft gab, auch wenn ich wußte, weh, jetzt kommt gleich das „I Walked With A Zombie“-Feld etc.

Sie sehnen sich nach dem Mädchenpensionat? Welch trüber Ort wäre die Welt ohne Mädchennieverstehenkönnen.

I was strictly insomnimaniacal
Rose above sleep like something flammable
Vapour trails from the whites of my eyes
It’s a long slow fall for the hypnotized
I’ve been crowned by sorrow
I’ve been crowned by hate
I’ve been crowned by the thorns
I did not create
I’ve been crowned, I’ve been crowned
Sawn-off scatter-gun rhythm kicked in
To the base of my brain with one hundred million
Switch blade sugar coated spines
Kiss me to a strange design
This suit of mine no longer fits
The style and the grace have just got up and quit
So hold me unto this Holy Sacrament
That holds me in shape and in the present tense
I’ve been crowned by sorrow
I’ve been crowned by hate
I’ve been crowned in black
Now I abdicate
I worshipped by the shrine of sleep
No miracle came to grant me peace
Day in, day out, while unawares
I died a while as my eyes just stared
Through the vaporous veil of my shotgun bride
I can hear her talking in a voice just like mine
And listen don’t you know I’ve tried
To quit this insomnicide
Here comes the Hypnotist
Banish the Anaesthetist
Bring me the head of Morpheus
Here comes the Hypnotist

Written by Rowland S. Howard

Gerade auf der zweiten These Immortal Souls-Platte („I’m Never Gonna Die Again“) bindet er sich dann aber mal richtig die spitzen Schuhe zu, Stücke von ungeahnter Stringenz, und das etwa 10 Minuten lange „Crowned“ – über das, was passiert, wenn man sich über längere Zeit hinweg über den Schlaf (und ein paar andere Dinge) erhebt – ist vielleicht das beste, was er je gemacht hat, die Beats, die Epic Soundtracks auf diesem Stück auf der Snare hinterläßt, kann kein Sterblicher zählen, und während sich das Ganze am Ende selbst manisch in den Boden dreht, entlarvt diese wunderbare Piano-Melodie von Genevieve McGuckin, die erstmal gegen die neun Höllenkreise ankämpft und dann aus der Stille nochmal wiederkommt, einen wie Howard („I’ve been crowned in black, now I abdicate“) als letztlich heillosen Romantiker.

Die Abwehrkette geht im Traum vom Platz. Ein Briefwechsel, Teil 2. Bild von Frans Masereel.
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Vorweihnacht

Psychoanalyse des Milchreis-Es

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Vorweihnacht

Psychoanalyse des Milchreis-Es. Aus der Serie "Vorweihnacht", Christian Erdmann & Cured Catherine.

Willkommen bei MySpace, Herr Erdmann.

„Später verließ ich das Kasino mit einhundertsiebzig Gulden in meiner Tasche.“ (Fjodor Dostojewskij). Wo bitte läuft denn die Muppets-Show?

Well, well, well, mir war, als würde in der entfernteren Nachbarschaft schon mit Pfeffernüssen geworfen… Nun ja, die Herzen Sterne Brezel-Fraktion bekennt: im September sind sie am besten – im Dezember sind sie ausverkauft.

Ich habe den deutschen Fernsehstationen übrigens verboten, die Muppets-Show zu wiederholen. Wo kämen wir denn da hin, wenn bestens inszenierte, noch dazu amerikanische Puppenspielerei dem hiesigen Kulturverfall entgegenwirkte. Ich bitte Sie!

Herzen Sterne Tannebäumchen aus Metall hab ich auch, aber in der Küche kann ich einfach nicht die Form wahren, kürzlich habe ich in einem Kochtopf ein Plastiksieb geschmolzen… falsche Herdplatte. Sie wissen ja, Madame, auf welch Weise Schmalhans küchenmeistert – „Was gibt’s heut?“ – „Angebrannten Kochlöffel.“ Mit einem Jochlöffel läßt sich auch gut scheffeln und dann das Jochzeug so über die eigene Birne Helene gießen, mh mjam. Die Bestigkeit von Pfeffernüssen im September kam mir auch schon zu Ohren. Dumm, daß ich erst im Oktober eingestiegen bin. Wie ich höre, waren die Himbeeren dieses Jahr wieder ganz besonders frech.

Über Muppets-Shows kein Wort weiter, sonst empöre ich mich. Hoffe, das Wohlbefinden befindet sich irgendwo,

The Aljoscha of Idiots

Also, wenn wir schon aus dem Küchenkästchen plaudern, berichte ich Ihnen gern etwas zur Psychoanalyse des Milchreis (ääh… Milchreises, äähh, hä?). Also Milchreis eben, neben zu bulimischen Attacken neigenden Tomaten ein weiterer neurotischer Klient meiner Küchenpraxis. Beziehungsabbrüche führen hier zu schweren Traumata mit ausgeprägter autoaggressiver Neigung. Füllt man als Therapeut aber die Elternrolle in ausreichendem Maße aus und redet dem Klienten während der Latenzphase gut zu, erreicht man unter Verwendung eines intakten Kochlöffels zumeist eine Abspaltung der regressiven Neurose und stabilisiert die Beziehung. Aber das muss man auch erst mal wissen. Übrigens plädiere ich für das Verbot von nächtlichem „Jakob“-Rufen am Klosterstern. Man kann nicht alles durchgehen lassen. Bitte unterschreiben Sie die Petition, Monsieur! 

Erkenntnisse von bemerkenswerter Tragweite, Madame. Bei der Milchreisdiagnostik scheint mir die Konversionshysterie der Milch das dringlichste Problem, die lange Zeit Symptome des Verhaltens aufweist, das Charcot „la belle indifférence des hystériques“ nannte, bis unterdrückte Affekte sich in völliger Ichveränderung äußern, während welcher ich indes zumeist schon aus Langeweile in den Nebenraum gewandert bin. Versuchsreihen ergaben zwar, daß sich Erinnerungsspuren mit einem Glitzischwamm tilgen lassen, aber nur jenseits des Lustprinzips. Bitte schlagen Sie doch mal nach, wie Landauer zur Libidobeziehung mit dem Gebrannte-Mandeln-Sahne-Joghurt von Zott steht. Lustschreie hinter Klostermauern sind Diderot zufolge gar nicht mal so unüblich, Madame, und bevor ich die Petition unterzeichne, muß ich herausfinden, ob ich Royalist oder Jakobiner bin.

Sag ich ja, sag ich ja. Ich ging sogar soweit, die erwähnte Langeweile mit einer erfrischenden Dusche totzuschlagen. Selbiges widerfuhr hernach dem Kochtopf.

Ich schlage gern für Sie nach, auch bei Landauer, jedoch erscheint mir zur Deutung einer Libidobeziehung zu an sich frigidem Joghurt, der zu Sublimierungszwecken mit Zuckerwarenbeimischung daherkommt, die erweiterte Gegenübertragung nach Ferenczi nicht unerheblich. Sollte es sich in diesem Fall um Sie selbst handeln, verweise ich auf Ihre offensichtlich ohnehin leidenschaftlichen Affekte bezüglich der alljährlichen Objektbeziehungsangebote zu Jesus Wiegenfest und weiterhin auf Jacques Lacan, der Folgendes postulierte: „Dem Begehren gegenüber steht das Genießen. Während das Begehren sein Objekt metonymisch wechselt und von der Entsagung des Begehrten lebt, gleicht das Genießen, die unmittelbare, ‚idiotische‘ sexuelle Befriedigung, eher einem zähen Schleim [oder eben Joghurt (Anm. der Autorin)]. Das Genießen ist zugleich eine bestimmte Weise des Subjekts, seine Triebökonomie und damit sein Dasein zu organisieren.“ Sehen Sie? Alles in Butter… oder im Joghurt.

Hinter Klostermauern, Monsieur? Au contraire, sie standen VOR den Mauern! Ich muss Ihnen näher erläutern, welch wahrhaft empörende Szene sich unlängst zutrug: junge Damen, es könnten Studentinnen der Kunstgeschichte… aber wir wollen sachlich bleiben, junge Damen also versammelten sich zu später Stunde nah des heiligen St Benedikt und verursachten mit ihren plötzlichen „Jakob“-Rufen – und zwar just in dem Moment, als ich die Jungfern mit meinem treuen Fahrrad passierte – ein solches Getöse, dass ich zum einen entsetzlich erschrak und zum anderen fast einen Hörsturz davontrug. Was für ein Benehmen!? Meine Unmutsphantasien auf dem verbleibenden Nachhauseweg gingen hin zu feuerroten Verbotsschildern, die freundliche Stadtverwalter am Ort des Geschehens aufstellten und auf denen ein Querbalken durch eben den berufenen Jakob mit einer „Rufen in Hörweite untersagt“-Unterschrift prangte, womit ein solches Gebaren also zukünftig verboten wäre. Sollen sie doch rufen, aber nicht in meinem Beisein!

Ah, oho. Ich hingegen rettete erst kürzlich zwei Töpfe auf einmal vor ewiger Verdammnis, den einen mit einer langwierigen Prozedur des Restplastikschmelzens; der andere konterte boshaft meinen Stolz darauf, endlich beim Kartoffelschälen mehr zu produzieren als alberne Stempel, mit einer geradezu baudrillardsch zu nennenden Beschleunigung des Kochvorgangs, eventuell war mir auch nur meine Bergson’sche durée stehengeblieben, wie dem auch sei, es galt einen verkohlten Bodenbelag zu eliminieren.

In der Tat handelte es sich bei mir meistens um mich selbst, bis mir Lacan das idiotische Genießen weggeschlürft hat. Denn schließlich, wer sind ich? Kann das moi mit dem je einen Joghurt teilen? Hatte der Spiegelstadiumsspiegel einen Sprung oder ich?

Seltsame Dinge gehen vor. Schon hier und jetzt kann ich aber sagen, daß es sich meiner Einschätzung nach nicht um Kunstgeschichtsstudentinnen handelte. Die mir bekannten sind jedenfalls nie durch öffentlich-kollektives Jakobsgeschrei aufgefallen. Vielleicht die Nonnen von Loudon? Sie riefen einfach nur „Jakob“? Nicht „Bruder Jakob, schlürfst du noch?“ oder irgendwas Identifizierbares? Ein einfaches nächtliches „Jakob“? Fragend oder fordernd? Man könnte anfangen, über diesen Jakob ins Grübeln zu kommen. Was führt der eigentlich für ein Lotterleben? Sagenhaft.

Und doch wage ich zu behaupten, dass wir im Grunde nicht ahnen, wozu perlenohrringtragende, hochwohlgeborene Damen im Schutz der Dunkelheit fähig sind.

Da Sie die Pinguinsprache beherrschen, sprechen Sie unter Verwendung dieser doch einmal mit der durée und bitten Sie sie in meinem Namen um etwas mehr Contenance. Und überhaupt, die Launenhaftigkeit, mit der die Zeit zu verrinnen scheint, geht mir auf den Wecker.

Unfassbar, dass in Madonnas Nachbarschaft Fahrräder entwendet werden. Das erhöhte Aufkommen von überdimensionalen Four Wheel Drive Jeeps in den schmalen Gassen meiner Kommune, vornehmlich übrigens von Müttern mit Kleinkindern gesteuert, lässt mich phantasieren, dass eines Tages Power Ranger kommen, um die Monsterfahrzeuge zu verschieben und das Lumpenproletariat zu rächen.

Und ob wir das ahnen. Im Traum versteht man 0 = 2. Warum eigentlich? Wenn Ihnen die Launenhaftigkeit der Zeit nun ausgerechnet auf den Wecker geht, ich brauche in der Früh übrigens dero zwei, wobei ich nie verstand, was Menschen im Frühtau zu Berge ziehn ließ, man ist noch nicht mal oben, schon ist man klamm, wobei ich aus Prinzip eher auf lumpenproletarische Weise klamm bin, und wenn dieses sich schon nicht mehr selbst rächt, und zwar mit Hyperpower, finden Sie übrigens „Year Zero“ auch so großartig? Jetzt sagen Sie bitte nicht, zwei Wecker seien ein Zeichen von Dekadenz, noch dürfen Sie mich nicht Balzac nennen, dessen Fluchtwege aber überaus gewinnbringend zu studieren sind, Sie wissen schon.

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Musik

Jeordie White Bass Pick

Jeordie White (Twiggy Ramirez) Bass Pick. Nine Inch Nails, Columbiahalle Berlin, 24.03.2007.

Nine Inch Nails, Columbiahalle Berlin, 24.03.2007.

Trent Reznor, Aaron North, Jeordie White (Twiggy Ramirez), Alessandro Cortini, Josh Freese.

Jeordie White, Nine Inch Nails.
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Antirationalistischer Blog

Die Reiterin macht einfach alles

Die Reiterin macht einfach alles. Kurzerzählung von Christian Erdmann, Klasse 5c.
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Antirationalistischer Blog

Doktor Bamse und Schwester Hase

Doktor Bamse und Schwester Hase. Von Christian Erdmann.
Doktor Bamse und Schwester Hase. Von Christian Erdmann.

Außerdem war unsere Lehrerin Fräulein Albinus. Wenn sie uns nach den Pausen vom Schulhof abholte, wir uns also in Zweierreihen hinter ihr aufzustellen hatten, gab es bei uns Jungs immer Gerangel um die erste Reihe, direkt hinter ihr. Fräulein Albinus hatte nämlich, und mir fällt da jetzt gerade keine andere Formulierung ein, einen bemerkenswerten Hüftschwung.

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Literatur

Die Welt hat sich verändert, weil Gracq schrieb

Julien Gracq, Das Ufer der Syrten. Diskussion im SPIEGEL ONLINE Forum mit Christian Erdmann.

SPIEGEL ONLINE Forum

„Literatur – Was lohnt es noch, zu lesen?“

10.08.2009

river runner:

Was sagt der Künstler selbst?

Christian Erdmann:

Was soll ich sagen, außer, daß jeder auch sein eigener Schleusenwärter ist. Ich kann doch nicht entscheiden, wie jemand liest, was er liest, und warum, ob zur bloßen Zerstreuung, oder um abtauchen zu können in eine andere Welt als die, die ihn umgibt, und daraus Kraft und Inspiration zu schöpfen, oder um in Literatur etwas zu finden, das einem Schubkraft aus Sein in Unwahrhaftigkeit geben kann, oder um einfach Sprache zu genießen, oder um sich eine vertraute Geschichte neu erzählen zu lassen, oder um sich eine ungeahnte Geschichte mit vertrauten Worten erzählen zu lassen, oder um sich den Boden unter den Füßen wegreißen zu lassen, oder um sich Boden unter die Füße zu schieben, um sich bestätigen zu lassen, um sich Räume öffnen zu lassen, um einfach nur etwas über Zeiten zu erfahren oder über Charaktere, um sich erotisieren zu lassen durch das, was möglich ist, um mitzufühlen oder um amüsiert, mit interesselosem Wohlgefallen die Menschliche Komödie zu genießen, um Mantras daraus zu ziehen fürs Leben oder sich zu sagen, all das, all diese verschiedenen Beschreibungen der Condition humaine zusammengenommen, gehören zur Definition von „Realität“, ob man sich auch via Literatur anfüllt mit dem Chaos, das man nach Nietzsche noch in sich haben muß, um einen tanzenden Stern gebären zu können, oder ob man gelassen Kunst schlürft, ob man dazu kommt zu fühlen, daß jemand, der 1871 schrieb, mehr Zeitgenosse sein kann als die Zeitgenossen, oder ob man über Rilke einen Essay schreiben muß, oder will, ob man sich was konstruieren lassen will oder lieber was dekonstruieren, ob man widerlegen will, daß man nach Sade-Lektüre zum Sadisten wird, oder es beweisen, ob ob ob und noch mehr ob – ich sagte schon, ich bin nur eine Billionstel Kalorie im Urknallsperma, alles, was ich will, ist, daß hier jeder weiter in die Manege schmeißt, was er für lesenswert hält, und daß keiner dem anderem vorschreibt, was er überhaupt für Literatur zu halten habe und wie er darüber spricht.

KLMO:

Damit hast Du fast alles gesagt – jeder nach seiner Fasson.

Christian Erdmann:

Gracq, „Witterungen II“, bist Du durch, übrigens? Hatte Dir ja vom Sog erzählt, in den „Das Ufer der Syrten“ einen zieht: ein derartiges Aufgehen in Wirklichkeit, daß es fast unwirklich ist; wie eine präzis beobachtende Trance. Habe vor ein paar Tagen gefunden, daß Gracq schon als Junge von geologischen Karten fasziniert war, die wie ein magischer Schlüssel auf ihn wirkten. Mit diesem magischen Schlüssel scheint er zu „sehen“, Schichten von Wirklichkeit, die er in Bilder überführt, die zugleich extrem dicht und extrem klar sind: als hätte die Sprache selbst einen luziden Traum. Metaphern, die zugleich so präzise und so seltsam sind, daß man ahnt, was Gracq meinte, als er sagte, er sehe die Welt wie Novalis, es gibt keinen Bruch, nur „magische Entfaltung, die auf einer tiefinneren Umkehrung der Aufmerksamkeit beruht“.

„Erst sehr viel später wurde mir wirklich bewußt, daß sie die Gabe besaß, mit einer Landschaft oder mit einem Objekt sogleich untrennbar eins zu werden. Allein ihre Gegenwart schien den Dingen die Befreiung zu schenken, die ein geheimer Wunsch erhofft, und sie zu sinnvollen Attributen zugleich zu erniedrigen und zu erhöhen.“

Was der Protagonist Aldo da von dem Mädchen Vanessa sagt, trifft in gewissem Sinne auch auf Gracqs Sprache zu; man hat den Eindruck, als kehre seine souveräne Syntax ständig aus sonst unzugänglichen Bereichen zurück, als wäre er ein schwebendes Auge in einer Textur der Dinge, für die unsere eigenen Augen verklebt sind.

Sehr sympathisch auch seine Weigerung, an den Mechanismen des Literaturbetriebs teilzunehmen: „Für mich ist der Schriftsteller jemand, der schreibt. Ich habe keine Lust, mich vor meine Bücher ins Schaufenster zu stellen. Wenn das Arroganz ist, dann kann man da nichts machen.“

ray05:

Nun, vielleicht ist ja Sprache für Gracq genau das, was die „Seele“ für Platon war. Sie – Sprache bzw. Seele – sieht sich am Schönen, Guten, Wahren satt, das der Demiurg für sie aus der Urmasse herauswerkelt, wandert in den Autor zurück, der sich während des Schreibprozesses an all das Geschaute seiner Seele erinnert. Mit Schaudern. – Gefällt mir, das Bild … :)

11.08.2009

Christian Erdmann:

Gestern nacht gelesen in „Das Ufer der Syrten“, ein Friedhof, der für Aldo zum „unseligen Geist der Stadt“ selbst wird:

„Zu ebener Erde erhielt sich diese gefräßige Stadt auf dem schwindelnden Gipfel eines Gerüsts aus Verkrüppelten, aus lebendig zurechtgehobelten Knochen. Sie war und blieb eine hauchdünne Membran, hochempfindlich, aber gänzlich von einem unerhörten Gewebeschwund befallen, sie verbrauchte ihren Lebenssaft bis zum letzten Tropfen, um Knochen, Knochen und Knochen abzusondern und unter der Erde im senkrechten Absturz eines Alptraums eine beständig wachsende Schicht aus Gebein zu formen, gleich geologischen Epochen breitete sie ein einziges gigantisches Gerippe aus.“

„Im senkrechten Absturz eines Alptraums“ – allein das.

19.03.2010

Achras:

Die Werke Julien Gracqs sind im Verlag Droschl vor einigen Jahren erschienen. Was darin „surrealistisch“ anmuten soll, ist in Wirklichkeit nur schwerverdauliches Verfehlen treffenden Ausdrucks für das, was er in Worte zu fassen versucht… schade eigentlich!

Christian Erdmann:

Phantastisch! Abgesehen davon, daß Du vor ein paar Jährchen Julien Gracq hier noch als „sehr lesenswert“ erwähnt hast: Du hast irgendeine Form von Being Julien Gracq hinter Dir und weißt jetzt, was er angeblich „in Wirklichkeit“ in Worte zu fassen „versuchte“, dabei aber regelmäßig den „treffenden“ Ausdruck verfehlt hat? Phantastisch, einfach phantastisch! :)

Achras:

Natürlich gibt es Leser, für die die Lektüre Julien Gracqs eine völlig neue Leseerfahrung darstellt, daraus folgt jedoch nicht zwangsläufig, daß die Lektüre der „Witterungen“ Gracqs wirklich für jeden Leser einen Gewinn oder einen Genuß darstellt…

Gern bestätige ich, daß es eine Phase gegeben hat, in der seine Werke mir eine inspirierende Abweichung oder Ablenkung vom „Literaturkanon“ waren. Dennoch sind beträchtliche Teile dieses Lebenwerkes weder sonderlich erhellend für den „Geist des Surrealismus“ in der Literatur noch erschiene es mir als angemessen, innerhalb des breiten Spektrums der (möglichen) Literatur überhaupt etwas als „zeitlos“ oder „zwingend“ zu rühmen…

Die Welt hat sich verändert, seit Gracq phantasierte…

Christian Erdmann:

Ändert nichts an der Anmaßung dieser Aussage:

Was darin „surrealistisch“ anmuten soll, ist in Wirklichkeit nur schwerverdauliches Verfehlen treffenden Ausdrucks für das, was er in Worte zu fassen versucht…

Nochmal: wo hast Du den Codex „Was Gracq tatsächlich in Worte zu fassen versuchte“ gefunden? Wie wäre es, davon auszugehen, daß Gracq genau so schrieb, wie er schreiben wollte, und genau beschrieb, was er beschreiben wollte? Es gibt übrigens Menschen, die behaupten, Kafka wäre mehr Realist als die sogenannten „Realisten“. Das könnte man selbst dann nur sinnvoll bestreiten, wenn man versteht und akzeptiert, wie es dazu kommt. Gracq ein „verfehlendes“ Phantasieren zuzuschreiben, ist eher Indiz fürs Gegenteil. Es bräuchte keine Literatur mehr, wenn es einen Kanon des gefälligst zu Beschreibenden gäbe, den ein Autor zu erfüllen hat, um nicht eines „Verfehlens“ geziehen zu werden. Gar besser als der Autor wissen zu wollen, was treffender Ausdruck sei – im übrigen bei einem Stil, der andernorts gerade dafür gerühmt wird, daß er durch äußerste Prägnanz gekennzeichnet ist –, wirkt auf mich dann aber doch schon kurios.

„Natürlich“ gibt es Leser, für die die Lektüre Julien Gracqs eine völlig neue Leseerfahrung darstellt; ein neu entdeckter Autor ist eine neue Leseerfahrung. Es sei denn, man verstellt sich mit der – ohnehin nur angemaßten – Haltung des hartgesottenen Alleskenners den Blick. – Die Welt hat sich verändert, seit Gracq phantasierte? Die Welt hat sich verändert, auch weil Gracq schrieb. Daß Weltwahrnehmung in dieser Form möglich ist, ist die viel aufregendere Entdeckung gegenüber der Erkenntnis, daß man von „Surrealismus“ sprechen kann oder auch nicht.

Und was soll das überhaupt, „die Welt hat sich verändert, seit“ – ? Sind Lampenschirme jetzt Polizeibeamte? Ist Beethoven schlecht, weil es Nick Cave gibt? Das ist doch ein gar zu sehr unter Mißmutdrogen stehender Satz, den Du da schreibst. Es gibt zeitlose, die Menschen in der Tat zwingende Phänomene, die seit Jahrhunderten in immer neuen Anordnungen, Facetten, Sichtweisen Thema von Literatur waren und immer sein werden, die ganze Literaturgeschichte ist da ergänzendes Entbergen. Daß Literatur immer auch formal, unterm Stil- und Strukturaspekt rahmensprengend in den Bereich des Möglichen vordringt, wird sich ebenfalls hoffentlich nicht ändern, aber es gab einmal ein kluges Wort vom Stehen auf Schultern von Giganten.

20.03.2010

Achras:

Zitat von Julien Gracq:

„Bis in mein fünfzehntes Lebensjahr, und vermutlich weit darüber hinaus, war eines meiner Lieblingsbücher – neben den periodischen Zusendungen des Chasseur francais, worin ich die Streckenbeschreibungen für Radtouristen verschlang – ein veralteter Michelin-Führer, der auf dem Dachboden neben einer Sammlung des Vermot-Almanachs stand und so manchen Nachmittag eines unfreiwilligen Fastens ausgefüllt hat, an dem ich mich über keinen Jules Verne, keinen Fenimore Cooper hermachen konnte.“

Der Guide Michelin war von seinen ersten Ausgaben an keine Lektüre für Fahrradwanderer…

Christian Erdmann:

… was in dieser Passage ja auch nicht behauptet wird:

„…war eines meiner Lieblingsbücher – neben den periodischen Zusendungen des Chasseur francais, worin ich die Streckenbeschreibungen für Radtouristen verschlang – ein veralteter Michelin-Führer, der auf dem Dachboden neben einer Sammlung des Vermot-Almanachs stand…“

Achras:

Und wenn Gracq in jungen Jahren diese Lektüre jeder anderen bisweilen vorgezogen haben mag, wieso verblieben diese Bücher auf dem Dachboden?

Christian Erdmann:

Da steht nur, daß er da stand. Eines der Lieblingsbücher meiner Freundin, so mit 12, war die von Lo Duca herausgegebene zweibändige Enzyklopädie der Erotik, Kurt Desch Verlag 1963, Exemplare nummeriert, die in der Bibliothek ihres Vaters stand.

Achras:

Aha. Was lernen wir daraus  …

Christian Erdmann:

Aha. Langsam verstehe ich.

Zitat von Julien Gracq:

Neben ihr aufgestützt, sah ich ihr schlafversunkenes Haupt wie von Welle zu Welle auftauchen, immer weiter von mir weggespült. Ich blickte um mich, fröstelnd allein in diesem aschenfarbenen Tag, der mit dem Widerschein des Kanals durch kalte Scheiben ins Zimmer sickerte. Was mich getragen hatte, war nun völlig versiegt, und selbst der Raum um mich schien sich zu leeren und wegzuströmen durch die nachtdunkle Schlucht eines Schlafes voll bedrückender Träume. In ihrer hochfahrenden Laxheit, überlegen leichtgesinnt, ließ Vanessa die hohen Türen ihres Gemachs beständig weit offen. Die zarte Asche des Dämmerlichts entsank der Glut dieser kurzen Tage, dumpfen Herzens lag ich matt auf den Laken, und über meine nackte Haut strich der kühle Hauch aus der Flucht der verfallenen Räume. In diese Höhle geduckt, waren wir von einem schon erstorbenen Wirbelsturm vergessen worden, aber wider meinen Willen lauschte ich in das sinnende Dunkel, als käme von fern her und wie vom Grund der horchenden Stille belagerter Städte das Tosen eines Massakers.

Was lernen wir daraus? Eben. Nicht einmal Vanessas Schuhgröße. Wir lernen höchstens, was Literatur ist bzw. was sie auch sein kann: Beschwörung dessen, was sich der Sprache vermeintlich zu entziehen scheint, der nahezu unauslotbaren Tiefe eines einzigen Augenblicks, einer einzigen Situation, eines einzigen Anblicks, jener Tiefe, aus der uns die Zeit, das ist ihr Auftrag, permanent fortreißt.

KLMO:

Aljoscha, was Du richtig beschreibst kann man nicht lernen! Entweder man hat es oder man hat es nicht. Den Rest kann man sich sparen.

21.03.2010

ray05:

Die zarte Asche des Dämmerlichts entsank der Glut dieser kurzen Tage, […]

„Onkel Aljoscha Onkel Aljoscha, das hier kann überhaupt nicht stimmen, der Bericht lügt! In unserem Pfadfinderhandbuch steht ausdrücklich, dass Tage nicht brennbar sind. Und Licht wird auch in der Dämmerung niemals zu Asche.“

Christian Erdmann:

„Auch Rosenkohl ist eigentlich mehr eine Rose als Kohl.“

„Hoffnungsloser Fall! Ihm fällt nur noch Gemüse ein.“

(Barks/Fuchs: Donald Duck – Pflanzenfimmel)

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Musik

Sharin Foo hievt Merch

Sharin Foo in "Attack Of The Ghost Riders", Video by The Raveonettes.
Sharin Foo in "Attack Of The Ghost Riders", Video by The Raveonettes.
Sharin Foo in "Attack Of The Ghost Riders", Video by The Raveonettes.
Sharin Foo in "Attack Of The Ghost Riders", Video by The Raveonettes.

SPIEGEL ONLINE Forum 

04.09.2007 

jot-we:

Aaaaah, Raveonettes! Eine bemerkenswerte Band und allerherrlichstes Gequietsche! Bekannte Töne, klar, aber während sich andere Retro-Bands klagsam dem „No-Future“-Gebot fügen, werden bei den Raveonettes die überkommenen Elemente doch eher cool zelebriert als lustvoll ausgelebt…

Christian Erdmann:

Aus dem Lumpenproletariat erheben sich aber Stimmen, die sagen, das coole Zelebrieren wird lustvoll ausgelebt. Sie werden oft mit The Jesus & Mary Chain verglichen, aber erstens fehlte denen das Leader of the Pack-Element und zweitens die Frau. Genosse Vorsitzender der Akustischen Kommission, ich muß Ihnen Bericht erstatten: ich sympathisiere mit allen Richtungen, in die sich The Raveonettes bewegen, aber zu der Sextheorienentfaltung über B-flat minor auf „Whip It On“ werde ich auch in 27 Jahren noch überm Matschkäsekuchen selig lächeln.

Sharin Foo, Sune Rose Wagner in "Attack Of The Ghost Riders", Video by The Raveonettes.
Sharin Foo, Sune Rose Wagner in "Attack Of The Ghost Riders", Video by The Raveonettes.

27.11.2008

Christian Erdmann:

Interessant ist aber, daß die Raveonettes „Lust Lust Lust“ ohnehin so klingen lassen, als käme sie aus guten Gründen aus dem Nebenzimmer. Und wenn sie wirklich mal aus dem Nebenzimmer kommt, ist man zwei Räume höher. Innenarchitektonisches Rätsel, die Platte.

Sharin Foo in "Attack Of The Ghost Riders", Video by The Raveonettes.
Sharin Foo in "Attack Of The Ghost Riders", Video by The Raveonettes.
Sharin Foo in "Attack Of The Ghost Riders", Video by The Raveonettes.
Sharin Foo in "Attack Of The Ghost Riders", Video by The Raveonettes.

02.12.2008

Christian Erdmann:

Eigentlich ist „Lust Lust Lust“ immer noch eins meiner Alben dieses Jahres, aber die zweiköpfige Sexmaschine aus Kopenhagen / USA hält nicht viel von fauler Haut und reicht eine Handvoll Digital-EPs nach. Jeder Song der Raveonettes variiert alles, was David Lynch je im Rock ’n‘ Roll zu suchen hatte.

07.12.2009 

Volker Paul:

Wie war das Konzert?

Christian Erdmann:

Konzert war hyggelig psychedelisch, und ich hab ein Autogramm von Sharin Foo.

Genaugenommen bin ich auch noch in sie reingeschubbert, als ich mich direkt nach dem Konzert im engen, dunklen Garderobengang irgendwie komisch umdrehte, und sie gerade zum Merch-Stand eilte. Vor dem Konzert sahen wir, wie sie die Merch-Kisten höchstdarselbst auf den Tisch hievte. Die Wikingerfrau ist ja gewohnt, alles selbst zu machen, seit sie Erik verabschiedete mit „Und wenn du an so ein Gebäude mit gekreuzten Stäben obendrauf kommst, bring einen Leuchter mit.“ 

Volker Paul:

Wie bekommst Du das nur immer hin, dass Du gleich irgendwie in Kontakt mit diesen Typen kommst? Sieht Sharin Foo in echt auch so kühl, blond und aufregend aus wie auf den Fotos?

Christian Erdmann:

Also daß sie mich da im Korridor elektrisch auflud, war ja reiner Zufall, und am Merch-Stand war sie zwar sehr blond und aufregend, wirkte aber sehr zugänglich, also kaufte ich eine 7″ von ihr und nahm all meinen Schuljungen-Mut zusammen, „Would you sign it?“

Trotz Zugänglichkeit – sie hat Augen, daß du in Nullkommanichts zu einem beschleunigten System wirst und aufpassen mußt, daß du dich nicht einfach in deine Atome auflöst. Unwirklicher Scheiß, das Leben. 

Sharin Foo in "Attack Of The Ghost Riders", Video by The Raveonettes.
Sharin Foo in "Attack Of The Ghost Riders", Video by The Raveonettes.
Sharin Foo in "Attack Of The Ghost Riders", Video by The Raveonettes.
Sharin Foo in "Attack Of The Ghost Riders", Video by The Raveonettes.

21.02.2011

Christian Erdmann:

Die Raveonettes sind auch schon wieder da, kann wieder prima ein kleiner Dream Man aus einer dunklen Lynchfilmecke kommen und rückwärts dazu tanzen.

The Raveonettes, Sharin Foo, Sune Rose Wagner.
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Aljoscha der Idiot

Aljoscha der Idiot – Playlist

Aljoscha der Idiot, Roman von Christian Erdmann, Playlist.
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Kunsthalle

4000 x 2 = 8000 Indianerzelt

4000 x 2 = 8000 Indianerzelt. Von Christian Erdmann

4000 x 2 = 8000 Indianerzelt

Materialien: Filzstift, Schreibheft

Von Christian Erdmann, 6 oder 7 Jahre alt

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The Everlasting Gaze

Warszawa

Christian Erdmann, Warszawa, David Bowie.

Listening to „Warszawa“ in Warszawa, 20/08/2019

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Musik

Ryuichi Sakamoto

Ryuichi Sakamoto in "Furyo - Merry Christmas, Mr Lawrence" von Nagisa Oshima, 1983.
Ryuichi Sakamoto in "Furyo - Merry Christmas, Mr Lawrence" von Nagisa Oshima, 1983.

SPIEGEL ONLINE Forum

29.01.2010

Christian Erdmann:

… Tanizakis Konzept japanischer Ästhetik, die beinhaltet, daß Schönheit nicht in den Objekten selbst zu suchen sei, sondern zwischen ihnen, im Helldunkel, im Schattenspiel; im nicht restlos Ausgeleuchteten, im Indirekten und Angedeuteten; …

KLMO:

Habe gerade auch das Büchlein von Tanizaki „Lob des Schattens“ gelesen. Dass hier die japanische Kultur eine größere Sensibilität gegenüber den westlichen Kulturen aufzuweisen hat, ist für mich eine neue Erkenntnis.

Christian Erdmann:

Hast Du das Gespräch von Gero von Boehm mit Ryuichi Sakamoto gesehen? Sehr interessant: von Boehm spricht Sakamoto auf den Film „Merry Christmas Mr Lawrence“ an. Britische Soldaten in einem japanischen Kriegsgefangenenlager auf Java, 1942. Major Celliers, gespielt von David Bowie, gerät in eine hochkomplexe, erotisch aufgeladene Beziehung zum Kommandeur des Lagers, Yonoi, gespielt von Ryuichi Sakamoto, der ein strenges bis sadistisches Regiment walten läßt, aber auch deutlich als feinsinniger Mensch erkennbar ist, der gegen seine eigenen Neigungen kämpft. Lawrence ist der britische Colonel unter den Gefangenen, der in der hochangespannten Lage versucht, eine Brücke zwischen den Kulturen herzustellen, der Japanisch sprechende Vermittler, aber die Lage eskaliert, weil Yonoi, zerrissen zwischen seiner Faszination für Celliers (Tabu der Homosexualität in ultranationalistischem Kontext) und dem Druck, seiner Rolle entsprechen zu müssen, zunehmend die Selbstbeherrschung verliert, provoziert von Celliers, der ihn durchschaut. Als Yonoi einen dramatischen Aufmarsch aller Gefangenen inklusive der Schwerverwundeten befiehlt und ein letztes Mal Informationen einfordert, ist er kurz davor, dem Gefangenensprecher den Kopf abzuschlagen. In diesem Moment tritt Celliers hervor, geht auf Yonoi zu, und küßt ihn. Yonoi fällt in Ohnmacht, Celliers wird büßen.

Von Boehm bemerkt, daß der Regisseur Bernardo Bertolucci dies „die schönste Kußszene der Filmgeschichte“ nannte: „Weil es zwei Männer waren?“ Sakamoto: „Probably…“ – Ein sehr höfliche, japanische Art zu sagen: Blödsinn. Im nächsten Satz sagt Sakamoto dann, einer wie Bertolucci nehme „Dinge wahr, die andere nicht sehen“. Sakamotos Antwort hier, würde ich sagen, ist auch ein Beispiel für das Indirekte. :)

Empfehlung dazu: die drei Geschichten „Trennender Schatten“, „Die Saat und der Säer“ sowie „Das Schwert und die Puppe“ von Laurens van der Post, Original erschienen 1963, unter dem Sammeltitel „Das Schwert und die Puppe“ 1994 bei Diogenes erschienen. Van der Post stand in den 1930ern dem Bloomsbury Set nahe und war während des Zweiten Weltkriegs in Kriegsgefangenschaft selbst eine Art Mr Lawrence. Feinfühliger Versuch, die „japanische Seele“ zu ergründen, insgesamt ein Zeugnis für das Aufrechterhalten von Würde, Hoffnung und Verständnis under pressure, zumal in Zeiten der Eskalation kulturellen Mißverstehens.

KLMO:

Natürlich habe ich das Interview gesehen. Wie Sakamoto sein Freiheitsideal radikal umsetzte, hat mich am meisten fasziniert.

Schon als Kind bekennt er rigoros, dass er keinen Beruf anstrebe. Beruf heißt für ihn Bindung, Abhängigkeit – und das lehne er ab.

Dass der schon in der Kindheit mit solch einem Freiheitswillen durchdrungen war, ist allein schon ein Ausnahmephänomen. Er folgt und vertraut nur seiner eigenen Kreativität und wird dabei noch erfolgreich. Dabei auch interessant, dass er sich ungern in der Musik festlegen will und andererseits die chinesische Kultur und Musik eingehend studiert, um einer Filmmusik, die er komponiert, gerecht zu werden. Dabei bestach beim Interview immer wieder seine Gelassenheit ohne jeden Pathos.

Christian Erdmann:

„Es sind die kleinen Ziele, viele kleine Ziele.“ – Ein überaus sympathischer Mensch von stiller, beeindruckender Offenheit, fürwahr. Trotz Haßliebe zur chinesischen Kultur – „Und die chinesische Fünftonmusik mag ich sowieso nicht“ – die Essenz dieser Musik verstehen zu wollen: gerade wenn eine solche Haltung, übertragbar auf beliebige Zusammenhänge, so selbstverständlich wirkt wie bei ihm, wird einem deutlich, wie häufig man sie bitter vermißt. – Schön auch seine Antwort auf die Frage, was er in New York „hört“: den Sound von 1 Million Klimaanlagen.

Ryuichi Sakamoto, 1952 - 2023,

Ryuichi Sakamoto

17.01.1952 – 28.03.2023

R.I.P.

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Antirationalistischer Blog

Pattie Boyd

Pattie Boyd.

Pattie Boyd has slammed today’s youth for being ‚woke‘ and ‚oversensitive‘, adding that she misses her heyday in the ‚totally free‘ Swinging Sixties.

The model, 78, claimed the snowflake youths have stolen her hard-won freedoms, adding that she finds the change in attitude to be ‚odd‘. 

She said: ‚Everybody’s so different, particularly young people now. You know, they’re woke and over-sensitive about everything. And I thought, „How odd.“

‚I feel that there’s been a huge cycle, because in the 1960s we broke away. We wanted freedom, we fought for it, and we wore outrageous clothes and short dresses.

‚Artists painted outrageous things, filmmakers started being totally free. Here was a freedom suddenly.

‚I feel that cycle is now coming to an end. The freedom has been taken away. It’s the opposite of the 1960s, when we were brave and we could say and do anything.‘

Daily Mail 05/2022

Pattie Boyd, George Harrison.
Pattie Boyd.
Pattie Boyd, George Harrison.
Pattie Boyd.
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Poèmes

Poem For A Mediaeval Baebe


Auch wir sind in Räumen freigelegter Zeit
Wie weiße Spinnen, die in Einsamkeit sich weben
Träumend, wie im Garten vor lang verschwundenen Monden
Ein Wispern war im Rauschen dieser Blätter
Wartend, daß noch einmal unser Weben so erzittert

Rubinrot auf den Lippen und sie sagte: komm
Und der Wind, der ihre Haare wehen ließ
War kalt und nicht von dieser Welt
Und sie verging, als wäre sie ein Stich ins Licht
Und seither all die Tode, die uns trennen

Christian Erdmann, "Poem For A Mediaeval Baebe". Emily Ovenden, Mediaeval Baebes.
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Musik

The Damned

Dave Vanian, The Damned.

SPIEGEL ONLINE Forum, 17.09.2008

Kleine Tour durchs Reich der Verdammten. Es muß mal gesagt werden. The Damned haben 1985-1986 mit „Phantasmagoria“ und „Anything“ zwei Platten gemacht (und dazwischen „Eloise“), die so klingen, als hätte die Tochter von Bela Lugosi und Maila Nurmi Dave Vanian gezwungen, die besten Songs aller Zeiten zu schreiben, andernfalls sie ihn wie Turandot ihre Freier köpfen lasse. Vanian tat sein Bestes, und für Sachen wie „Sanctum Sanctorum“ oder „The Portrait“ wäre gar Lord Byron nochmal angerannt gekommen, wäre er nicht mit dem Luziferfuß umgeknickt. Dave Vanian hat zweifelsohne eine phantastische Stimme.

„Oh yeah, he’s quite a strong bloke old Dave. He actually really used to be a grave digger. He really lives the lifestyle. I know it sounds weird but he really is into it. The whole lifestyle, the motorbikes, the ex-grave digger bit and all that stuff. I like the bloke a lot, he’s a bit of an enigma. I think he’s tinged with madness. I really think he is, because of the twenty years I’ve known him he’s never changed and he’s always backed up whatever he said. Once I went round his house, he was living in a basement and he’d had a flood. I said “ ‚ello Dave how’s it going “ – He said „The drains have flooded, can you help me get this carpet out“. Actual sewage had come up through the drains and it wasn’t very pleasant. We got the carpet out and I said „What’s that under there then, that’s a pentagram. Is that like satanic stuff or what?“ And he says „It must have been put down by the previous owners of the flat“. Now does that ring true to you, the bloke sitting there dressed up as Dracula, with a hearse sitting outside the house and he’s telling me it must have been someone else who done the pentagram. I don’t think so, do you.“ – Captain Sensible

„We complement each other as songwriters, neither of us treading on each other’s toes. We both love 60s garage music and appreciate a bit of dark melancholy  … And the bloke is the best singer of his generation.“ – Captain Sensible 2019

Nicht seit dem Tag, an dem ich Antipapst wurde.

Hommage an Pink Floyd mit Syd Barrett + Hawkwind + Neu! + Ron Asheton +++, + ureigene The Damned-Perfektion. Und ja, das ist Dave Vanian.

Motörhead und The Damned, Konzert-Ticket Sporthalle Hamburg, 2014.

Dave Vanian Poster: hier

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Musik

The Damned, Hamburg, 07.03.2023

Und noch immer ist The Damned eine der unterschätztesten Bands des Planeten. Ja, The Damned war die erste Punk-Band, die im Vereinigten Königreich eine Single veröffentlichte („New Rose“, 22. Oktober 1976. Daniel Ash von Bauhaus: „The perfect single. Brilliant.“), aber wer sie auf „Punk“ reduziert, kann auch die Beatles auf „She Loves You“ reduzieren. Tatsächlich hat sich das Universum der Verdammten ähnlich atemberaubend ausgedehnt wie bei den Beatles, vielleicht in nicht ganz so rasanter Geschwindigkeit, aber die Liste ihrer Erfindungen ist lang, Psychpunk, Gothpunk, Progpunk, you name it.

Im Oktober 2019 baten The Damned ins Londoner Palladium zur „Night of a Thousand Vampires“, bei welcher Gelegenheit die Tochter von Dave Vanian und Patricia Morrison, Emily, erneut mit ihrer Violine bei „Curtain Call“ auf der Bühne erschien – und zwar exakt so goth, wie man sich eine Tochter von Dave Vanian und Patricia Morrison vorstellt. Bei aller schauderhaft schönen Theatralik machte dieser Abend die herausragende Virtuosität der Herren Vanian, Sensible & Co nochmals deutlich.

Ich besitze noch einen SPEX-Artikel, betitelt: „10 Jahre Damned oder Gröhl, gröhl, gröhl!“. Michael Ruff damals: „Ich muß da ganz subjektiv werden: Es ist so gut, daß es sie gibt.“ Einer der besten Sätze aus 100 Jahren SPEX. Bald heißt es „100 Jahre The Damned“ und natürlich macht ihre chaotische Brillanz keine Gefangenen, darum gilt für die Tatsache, daß wir es mit phantastischen Musikern, einem phantastischen Sänger und jederzeit phantastischen Songstrukturen zu tun haben: blink and you miss it.

Als Intro wählen die Beatles des Punk eine Version von „The Man With The Golden Arm“. Dave Vanian im feinen schwarzen Anzug, weißes Hemd, blutrote Manschettenknöpfe, schwarze Handschuhe, Sonnenbrille, The Invisible Man-Hut. Las vor einer Weile: wie kann jemand nur so dapper aussehen, der seit 500 Jahren kein Spiegelbild hat.

„Street Of Dreams“, „The Invisible Man“, „Wait For The Blackout“, „Lively Arts“, „Born To Kill“ dann annonciert Dave „We got a new album“, und sie spielen es fast zur Gänze, „exclusively on Reeperbahn!“, charmant gelogen natürlich, aber dann folgen tatsächlich 9 Songs von „Darkadelic“ am Stück.

Wir stehen in der ersten Reihe, 3 Armlängen vom Captain entfernt, da dreht sich einem schnell das Gehirn im Schädel. Madame hier gut zu erkennen am Poison Ivy-roten Haar, und als der Captain in unsere Richtung blickt und erklärt: „Nice looking audience actually… much prettier than in England“, meint er nicht mich. Women and Captains first.

The Damned pflegen liebenswerte Anarchie, schön zu sehen bei „Love Song“, als Dave Vanian aus ohnehin schon ironisch inszenierter klassischer Rockpose, der Captain und Paul Gray Schulter an Schulter, bizarres Slapstickgetümmel macht.

Der Abend besteht aus 100 Minuten ungebremster Spielfreude, als die Band zur ersten Zugabe wieder auf die Bühne kommt, stehen die Herren länger als geplant ohne Gitarre und Bass da, Dave Vanian singt „Why are we waiting?“, Captain und Publikum beschließen ein „Wot!“-Impromptu, das für Entzücken auch beim Captain sorgt: „Vielen Danke, mein Damen, mein Herren!“ Bei „Eloise“ hat Paul Gray dann Probleme mit seinem Bass, der offenbar völlig verstimmt absäuft, Herr Gray kurzzeitig auch verstimmt, dafür hat er eine wunderbare Szene am Ende des neuen „The Invisible Man“-Videos: „You got the package?“ – „Just drive, fool!“ – „Charming“. Wer kennt das nicht.

„We’re cursed“, grinst der Captain, was schiefgehen kann, gehe schief, aber alles in the best of spirits, auch bei der Vorstellung des wieder mal in eine Art totenkopfübersäten Schlafanzug gekleideten Monty Oxymoron, Captain: „How did he end up in a punk band?“, Dave: „That’s a long story.“ Bei „Smash It Up“ noch Captain an Dave: „You’re in fine voice tonight!“, und es gibt noch ein zweites Zugabenset, ganz am Ende „New Rose“. Eine der besten Debut-Singles in allen Sonnensystemen. Is she really going out with him?

Bad Smartphone Pics:

The Damned, Grünspan Hamburg, 07.03.2023. Foto von Christian Erdmann.
The Damned, Grünspan Hamburg, 07.03.2023. Foto von Christian Erdmann.
The Damned, Grünspan Hamburg, 07.03.2023. Foto von Christian Erdmann.
The Damned, Grünspan Hamburg, 07.03.2023. Foto von Christian Erdmann.
The Damned, Grünspan Hamburg, 07.03.2023. Foto von Christian Erdmann.
The Damned, Grünspan Hamburg, 07.03.2023. Foto von Christian Erdmann.
The Damned, Grünspan Hamburg, 07.03.2023. Foto von Christian Erdmann.

A Night of a Thousand Vampires

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Bilderbuch Paris

Bois de Boulogne

Christian Erdmann: Bois de Boulogne. Analogfotografie.

She’d sigh like Twig the Wonder Kid / And turn her face away

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Bilderbuch Her Room of Lights

Sunrise

Sunrise. Analogfotografie von Christian Erdmann.
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Literatur

Jaz Coleman, Letters From Cythera

Jaz Coleman, Letters from Cythera.

„My definition of wealth is simply to meet the requirements of my imagination.“


„I am forever observing patterns in every perceived aspect of existence.“


„Sometimes, I just stare at the human condition.“


„Insanity occurs when a complex system fails to modify itself.“


„The Greek word for idiot quite literally means removing blindfolds.“

Daß Jaz Coleman a true Renaissance man ist, wußte ich. Aber hier arbeitet man sich durch eine pansophische Lawine. Kabbala, Quantenphysik, Hermetik, Magick, Numerologie, Earth Sciences, alles unter der Idee einer Supersynthesis. Hohepriester dieser Entität namens Killing Joke, deren entfesselte Macht alles überwältigt, was sich ihr in den Weg stellt, aber man findet in Colemans Werk auch einen tiefen und visionären Humanismus. Versteht sich von selbst, daß der Gedankenstrom dieser magischen Weltanschauung zuweilen in Regionen führt, die wie göttlicher Wahnsinn erscheinen. „The Greek word for idiot quite literally means removing blindfolds.“ Kann ich nicht verifizieren, aber es wäre die beste poetische Beschreibung für das, was „Idiot“ in „Aljoscha der Idiot“ bedeutet – angefangen mit: Aljoscha removing his own blindfold, Ende seines eigenen Blindgangs.

Ziemlich am Anfang gibt es eine längere, großartige Passage, die davon handelt, wie Coleman sein Radio erschießt, genauer, das Radio, das einen Song von Midnight Oil spielt. „I switch on the radio and to my dismay I am subjected to a mediocre rock dirge that is completely out of context to both my mood and surroundings. As I possess the capacity to actually see music, I have the fleeting impression of an invisible yet highly toxic poison streaming forth from the radio speakers, permeating and slowly polluting this, my sacred space.“ Die ausführliche Beschreibung der konsequenten Gegenmaßnahmen ist hilarious.

World gone mad again und die Propagandaschleudern, die sich früher Nachrichtensendungen nannten, wecken gerade ähnliche Impulse in mir. Werde meinem TV irgendwann den Schädel spalten. Wenn ich rausgefunden habe, wo es seinen Schädel hat.

Jaz Coleman, Letters from Cythera.
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Aljoscha der Idiot Antirationalistischer Blog

RIP Vito von Eichborn

Zuerst schrieb mir die Marketing-Abteilung von BoD. Vito von Eichborn, einer der innovativsten Buchmacher Deutschlands, betätige sich als Herausgeber einer Edition für BoD und wäre erfreut, meinen Roman in diese Edition aufnehmen zu können. Zu diesem Zeitpunkt war „Aljoscha der Idiot“ fast zwei Jahre auf dem „Markt“ – jenem Markt, von dem mir der Lektor eines renommierten Verlags gesagt hatte, ein Roman wie dieser sei dort „nicht durchsetzbar“. Ich hatte mich dann für das System Books on Demand entschieden, „Aljoscha“ also auf eigene Faust veröffentlicht, ich hatte die Erlaubnis der Erben des berühmten Frans Masereel, einen seiner Holzschnitte für das Cover verwenden zu dürfen, ich hatte all das mit Freuden bezahlt, und dummerweise hing ich nun sehr an der Art, wie dieses Werk in die Welt gekommen war. Und darauf schrieb mir dann Vito von Eichborn selbst.

Lieber Autor, schrieb er, oje, das habe er befürchtet: jemand, der so schreiben kann, hat absolut seinen eigenen Kopf. „Ihr Buch ist für mich der so seltene klassische Fall: grandios gut und absolut schwer verkäuflich. Dies ist für mich der erste Fall, in dem die literarischen Verlage offensichtlich versagt haben.“ Die Edition, schrieb er, habe ein festes Gestaltungsprinzip, aber er wolle dafür sorgen, daß wir den Masereel-Holzschnitt mitnehmen. Mit der ihm eigenen Machen-wir-uns-nichts-vor-Haltung sagte er mir: machen wir uns nichts vor, BoD kommt in den Feuilletons nicht vor, keine Versprechungen, aber: „Ihr Buch ist eine ganz seltene Perle“, und vielleicht könne seine Stimme mehr Menschen zum Lesen bringen.

Er schrieb ein Vorwort für die Neuausgabe, und wenn einer wie er sagt, dieser Roman sei „literarisch das Beste, was ich in den letzten Jahren gelesen habe“, hat das sehr große Bedeutung für einen, der tausend Nächte tief daran gearbeitet hat, ohne zu wissen, ob dieser Balg je Hosen trägt. Es war bezaubernd zu hören, wie er dann auf der Leipziger Buchmesse in einem Radio-Interview von „Aljoscha“ schwärmte – wenn man die Begeisterung eines mit allen Wassern Gewaschenen so nennen darf.

Seine Emails waren immer wie kleine Stromstöße, und in einer der letzten, die ich von ihm erhielt damals, stand: „Wenn jemand schreiben muß, dann Sie!“

Gute Reise, lieber Vito von Eichborn. Danke für die Neugier, für den Enthusiasmus, für den Mut. Danke für alles.

RIP Vito von Eichborn. Text von Christian Erdmann.
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Aljoscha der Idiot The Everlasting Gaze

INNEN – SCHALLPLATTENLADEN – TAG

Christian Erdmann, Autor des Romans "Aljoscha der Idiot".,

„Zuletzt verschlug es Aljoscha in einen Schallplattenladen. Ein alter schwarzer Bluessänger sang alten schwarzen Blues. Der Mann an der alten schwarzen Kasse sah aus wie Majakowski. An einem Ständer hingen T-Shirts. Aljoscha sah sie gelangweilt durch, bis er eines mit dem Erkennungszeichen des Kollektivs Einstürzende Neubauten fand. Auf dem schwarzen Stoff zeichnete sich ein archaisches Symbol ab, das an eine Höhlenmalerei der Frühzeit erinnerte. Nur war hier kein Tier dargestellt von Menschenhand, sondern eine menschliche Gestalt, die so wirkte wie die Vorstellung, die ein Tier vom Menschen haben könnte. Ein Rückgrat, davon ausgehend Arme und Beine, statt Händen oder Füßen nur die Andeutung einer atavistischen Drehung der Extremitäten; der Kopf ein Kreis, überdimensional vergrößert, und in den Kopf-Kreis war ein Mittelpunkt gemalt. Wie der Herzmittelpunkt in der Umrißzeichnung eines Elefanten in der Pindal-Höhle, 12000 Jahre alt. Was bedeutete dieser Mittelpunkt hier? Gesicht? Blick? Brennpunkt? Verdacht auf Innewohnendes? Vermuteter Sitz einer Matrix, die für unfaßbare Vorgänge im Innern der Gestalt verantwortlich ist?

Reduktion auf das Wesentliche, äußerste Stilisierung, äußerste Verdichtung. Diese Figur, dieses ins Quintessentielle implodierte Menschlein, strahlte gespenstische Intensität aus. Unheimlich stand es da wie die unentzifferbare Wahrheit des Schauerlichen, unheilschwanger in seiner primitiven Indifferenz, und lud sich auf mit Exzentrizität – mit extremer Abweichung vom gegenwärtig eingenommenen Punkt.“


Christian Erdmann: Aljoscha der Idiot

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Travelogue

Lübeck

20. Dezember 2019

Streckbank, Peitschen, Brandmarkeisen, Daumenschrauben und andere Folterwerkzeuge dokumentieren den Strafvollzug im späten Mittelalter: die Ausstellung im Holstentor benennt Opfer der peinlichen Befragung.

Lübeck, Holstentor, Ausstellung Straf- und Folterwerkzeuge.

Die alten Salzspeicher: hier drehte Friedrich Wilhelm Murnau im Sommer 1921 Szenen für „Nosferatu – Eine Symphonie des Grauens“ (1922).

Die Salzspeicher in Lübeck, Drehort für "Nosferatu - Eine Symphonie des Grauens", Regie F. W. Murnau.

Max Schreck als Graf Orlok findet sein Domizil in der Stadt Wisborg in den zerfallenen Lagerhäusern, der Nosferatu bewohnt jenes „schöne, öde Haus“, den Hutters vis-à-vis.

Max Schreck als Graf Orlok in "Nosferatu - Eine Symphonie des Grauens", Salzspeicher Lübeck.
Die alten Salzspeicher in Lübeck in "Nosferatu - Eine Symphonie des Grauens" (1922), Regie Friedrich Wilhelm Murnau.

Die Kirchenuhr im Lübecker Dom, 1628.

Die Kirchenuhr im Lübecker Dom.

Das 17 Meter hohe Triumphkreuz des Bernt Notke. Es wurde von Albert II. Krummendiek, Bischof von Lübeck und Kanzler des Dänenkönigs Christian I., aus eigenen, wenn auch geliehenen Mitteln gestiftet und 1477 aufgerichtet. Krummendiek ist in der Triumphkreuzgruppe als Stifter und als Gegenfigur zu Maria Magdalena dargestellt. „… nebst einer Magdalena, unter welcher Gestalt, der Sage nach, seine Beischläferin dargestellt ist“, bemerkt um 1820 der Prediger Zietz. Krummendieks Finanzen blieben nach dieser Stiftung zerrüttet.

Das Triumphkreuz des Bernt Notke im Lübecker Dom.

Schatten haben ein Eigenleben.

Triumphkreuz des Bernt Notke im Lübecker Dom.

Maria und Maria Magdalena.

Triumphkreuz des Bernt Notke im Lübecker Dom. Maria und Maria Magdalena.

Ein freundlicher Bewohner des Doms.

Lübeck, Dom.

Das Museum im St. Annen-Kloster.

Lübeck, St. Annen-Kloster.
Lübeck, St. Annen-Museum, St. Annen-Kloster.
Lübeck, St. Annen-Kloster, St. Annen-Museum.
Lübeck, St. Annen-Kloster, St. Annen-Museum.
Lübeck, St. Annen-Kloster, St. Annen-Museum.

Rathaus, Renaissance-Erker zur Breiten Straße.

Lübeck, Rathaus, Renaissance-Erker.

Rathaus-Nordfassade am Marienkirchhof, auf dem der historische Weihnachtsmarkt stattfindet.

Lübeck, Rathaus Nordfassade Marienkirchhof.

In der Marienkirche: die beim verheerenden Brand in der Nacht vom 28. zum 29. März 1942 heruntergestürzten Glocken am Boden des südlichen Turms.

Lübeck, Marienkirche, die beim Brand 1942 heruntergestürzten Glocken.

Marienkirche

Lübeck, Marienkirche.

Tympanonfenster von Markus Lüpertz.

Lübeck, Marienkirche, Tympanonfenster von Markus Lüpertz.

Marienkirche

Lübeck, Marienkirche.

St. Jakobi. Die Jakobikirche wurde 1334 als Kirche der Seefahrer und Fischer geweiht.

Lübeck, St. Jakobi.

Breite Straße

Lübeck, Breite Straße.

Auf dem Weihnachtsmarkt

Lübeck, Weihnachtsmarkt.

Im Rathaus

Lübeck, Rathaus.
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Musik

111 Lieblingsvideos [5]

111 Lieblingsvideos [5] von Christian Erdmann. Bild: "Lazarus", David Bowie.

089

Chuck Berry – You Never Can Tell

(„Pulp Fiction“, Quentin Tarantino)

1964 / 1994

090

Ladytron – International Dateline

2005

091

Nick Cave & The Bad Seeds – In The Ghetto

1984

092

Garbage – Push It

1998

093

Oasis – Champagne Supernova

1996

094

Barry Ryan – Eloise

1968

095

Jane’s Addiction – Just Because

2003

096

Oasis – Go Let It Out

2000

097

Missing Persons – Destination Unknown

1982

098

David Bowie – I’m Afraid Of Americans

1997

099

The Who – Happy Jack

1966

100

Propaganda – Dr. Mabuse

1984

101

Marianne Faithfull – The Ballad Of Lucy Jordan

1979

The Cramps: Bikini Girls With Machine Guns.

102

The Cramps – Bikini Girls With Machine Guns

1990

Watch here

103

ABBA – Ring Ring

1973

104

Adriano Celentano (w/ Raffaella Carrà) – Prisencolinensinainciusol

1972 / 1974

105

Madonna – Frozen

1998

106

The Smashing Pumpkins – Disarm

1994

107

Rykarda Parasol – The Loneliest Girl In The World

2017

108

Depeche Mode – Ghosts Again

2023

109

The Rolling Stones – Brown Sugar

1971

110

Iggy Pop – The Passenger

1977 / 2020

111

David Bowie – Lazarus

2016

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Travelogue

Das Beinhaus von Mělnik – The Mělnik Chapel of Bones

25.08.2013

Das Beinhaus von Mělnik befindet sich in der Krypta unter dem Altar der Kirche St. Peter und Paul. Der Abstieg in diese Unterwelt führt durch einen separaten Seiteneingang. Man steigt eine schmale, alte Treppe hinab; unten, in einem versteckten Winkel, sitzt eine Frau undefinierbaren Alters, nennen wir sie Madame Lampernisse.

„Ich heiße Lampernisse, und ich erfreue mich an den Farben. Jetzt hat man mich in die Finsternis geschickt. Früher habe ich Schwarz aus Knochen und Schwarz aus Kohle verkauft, aber nie habe ich jemandem die Schwärze der Nacht geliefert. Ich bin Lampernisse. Ich bin so gütig, aber man hat mich im Dunkeln eingeschlossen, zusammen mit einem Wesen, das die Lampen löscht.“ – Jean Ray, Malpertuis

Das Beinhaus von Mělnik. The Mělnik Chapel of Bones.

30 Kronen für Madame Lampernisse und man darf hinter den uralten, verstaubten Vorhang blicken.

Das Beinhaus von Mělnik. The Mělnik Chapel of Bones.

Ein einziger Raum, nicht sehr groß. Man schätzt, daß er die Gebeine von etwa 15.000 Toten bewahrt.

Das Beinhaus von Mělnik. The Mělnik Chapel of Bones.

Ursprünglich sollte die Krypta als letzte Ruhestätte der böhmischen Prinzessinnen und Königinnen dienen, die auf Schloß Mělnik residierten. Eine Pestepidemie im 16. Jahrhundert führte jedoch dazu, daß der kleine Friedhof, der die Kirche umgab, nicht mehr ausreichte, um die Toten zu bestatten, und die Krypta wurde zum Ossarium – Aufbewahrungsort für exhumierte Knochen und Schädel.

Das Beinhaus von Mělnik. The Mělnik Chapel of Bones.

Als im Zuge einer Gubernialverordnung alle Ossarien aus hygienischen Gründen geschlossen und die Gebeine in der Erde bestattet werden sollten, beließ man es in Mělnik dabei, Eingang und Fenster des Beinhauses zuzumauern. So verblieb die Knochenkapelle bis 1913, als der Anthropologe Jindřich Matiegka sie öffnen ließ und zu untersuchen begann. Die Arrangements der Knochen und Schädel in ihrer jetzigen Form sind das Werk von Matiegka.

Das Beinhaus von Mělnik. The Mělnik Chapel of Bones.

Das Herz aus Schädeln soll Liebe als christliche Tugend symbolisieren.

Das Beinhaus von Mělnik. The Mělnik Chapel of Bones.
Das Beinhaus von Mělnik. The Mělnik Chapel of Bones.

Einige der Schädel, die zur lateinischen Inschrift ECCE MORS (etwa: Seht den Tod) angeordnet wurden, haben ihren Platz verlassen.

Das Beinhaus von Mělnik. The Mělnik Chapel of Bones.

Nicht nur die Höhe der Knochenwälle ist schwindelerregend,

Das Beinhaus von Mělnik. The Mělnik Chapel of Bones.
Das Beinhaus von Mělnik. The Mělnik Chapel of Bones.

auch ihre Tiefe. Der Tunnel im Frontwall, etwa fünf Meter tief, soll das leere Grab Christi und damit die Auferstehung symbolisieren.

Das Beinhaus von Mělnik. The Mělnik Chapel of Bones.

„Dieses ist dein Weg“, wiederholt eine Stimme auf dem Tonband, das Madame Lampernisse angeschaltet hat.

Das Beinhaus von Mělnik. The Mělnik Chapel of Bones.

Das Beinhaus von Mělnik ist kleiner als das berühmtere Ossarium von Sedlec bei Kutná Hora, und es gibt kaum Besucher. Mit etwas Glück kann man hier einen mind-blowing Nachmittag damit verbringen, sich auf den Boden der Krypta zu setzen und sich von Schädeln anstarren zu lassen, bis man ihre Gedanken kennt.

Das Beinhaus von Mělnik. The Mělnik Chapel of Bones.
Das Beinhaus von Mělnik. The Mělnik Chapel of Bones.

Zu den Exhumierten und den Pestopfern gesellten sich die Überreste Gefallener aus dem Dreißigjährigen Krieg und anderer Scharmützel.

Das Beinhaus von Mělnik. The Mělnik Chapel of Bones.

Einige der Schädel zeigen die Spuren fataler Kampfwunden.

Das Beinhaus von Mělnik. The Mělnik Chapel of Bones.

(Exeunt.)

Das Beinhaus von Mělnik. The Mělnik Chapel of Bones.
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Musik

111 Lieblingsvideos [4]

111 Lieblingsvideos [4] von Christian Erdmann. Bild: Shirley Manson, Garbage.

067

Garbage – Bleed Like Me

2005

068

Duran Duran – The Chauffeur

1982

069

Die Krupps – Nazis auf Speed

2013

070

Garbage – Milk

1995

071

Nine Inch Nails – We’re In This Together

1999

072

The Rolling Stones – Child Of The Moon

1968

073

Depeche Mode – Where’s The Revolution

2017

074

Rykarda Parasol – The Cloak Of Comedy

2013

075

The Yardbirds – Stroll On

(„Blow-Up“, Michelangelo Antonioni)

1966

076

Nico – I’m Not Sayin‘

1965

077

Garbage – No Gods No Masters

2021

078

A Perfect Circle – Judith

2000

079

Crime & The City Solution – Six Bells Chime

(„Der Himmel über Berlin“, Wim Wenders)

1987

080

St. Vincent – Pay Your Way In Pain

2021

081

Elvis Presley – Blue Suede Shoes

(Comeback Special)

1968

082

Blondie – The Hardest Part

1979

083

The Raveonettes – The Christmas Song

2004

084

Eurythmics – Love Is A Stranger

1982

085

Siouxsie & The Banshees – Face To Face

1992

086

Talk Talk – Such A Shame

1984

087

Lush – Nothing Natural

1991

088

Serge Gainsbourg & Brigitte Bardot – Bonnie And Clyde

1967

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Musik

Nick Cave & The Bad Seeds: Push The Sky Away

Nick Cave & The Bad Seeds: Push The Sky Away Cover.

Das Übernatürliche: die Religionsgeschichte kennt es als das Göttliche oder als Wunder, der Okkultismus kennt es als das Übersinnliche, die Filmwelt kennt es als Greta Garbo. Das, was wir das „Natürliche“ nennen, ist Teil eines Ganzen, das wir, würden wir es kennen, die „wirkliche Welt“ nennen dürften. „Übernatürlich“ wäre dann alles, was zwischen unserer „natürlichen“ Welt und dem Ende der „wirklichen“ Welt webt und lebt. Das Wunderwerk Push The Sky Away ist mit diesem Raum vertraut.

Das 15. Studioalbum der Bad Seeds ist das erste ohne Mick Harvey, und Nick Cave hat sich darauf besonnen, daß er seinen eigenen Eno hat, nämlich Warren Ellis. Ein Mann, der den Klang von fallendem Schnee kennt. Und Ellis sorgt als dominante Figur mit bewundernswertem Sinn für das präzis Diffuse, mit ätherischen und schemenhaften Klängen, mit seinen drones, mit unheimlichen Flötentönen, Orgelwellen und anderweltlichen loops ganz maßgeblich dafür, daß die Songs auf Push The Sky Away spukhaft heimgesucht werden; daß ein Hauch des Übernatürlichen über ihnen liegt.

Eine Textur, die Caves Lyrics auf diesem Werk virtuos komplementiert, in denen hinter dechiffrierbarer Aktion immer wieder ein ganz anderes Narrativ zu existieren scheint, oder, wenn man so will: ein Narrativ des Ganz Anderen.

The tree don't care what the little bird sings

Daß der Song, der das Album mit sinistrer Mattigkeit eröffnet, nicht „We Know Who You Are“ heißt, sondern WE NO WHO U R, Cave für den Titel die reduktionistische Schreibweise des Netzeitalters wählt, gab Anlaß, bei the little bird an Twitter zu denken. Schließlich hatte Cave ja auch erklärt, es fasziniere ihn, „how on the internet profoundly significant events, momentary fads and mystically-tinged absurdities sit side-by-side“; so fragen die Songs auch danach, „how we might recognise and assign weight to what’s genuinely important“. Vielleicht geht es um die Wirkkraft des Internet in WE NO WHO U R, vielleicht deuten Lyrics wie „We know who you are / We know where you live“ auf die Invasion der Privatsphäre durch die virtuelle Sphäre. Das Internet macht auch deshalb aus Menschen Furien, weil scheinbar allen alles offen liegt. Tatsächlich irren wir im Internet auch nur durch einen dunklen Wald.

Würde Clara WE NO WHO U R hören, es käme ihr ganz anderes in den Sinn.

Von Friedrich Schelling gibt es ein relativ unbekanntes Fragment namens „Clara. Über den Zusammenhang der Natur mit der Geisterwelt“. Verfaßt wohl recht unmittelbar nach Caroline Schellings Tod im Jahre 1809, wendet sich das philosophische Gespräch Clara den Dingen einer anderen Welt zu, um festzustellen: die andere Welt beginnt in dieser Welt, und diese Welt ist immer auch eine andere.

Clara, die Protagonistin, ist erfüllt von dem „Gefühl eines namenlosen Schrecklichen in der Natur“, von dem sie sich „mit schauerlicher Lust bald vielleicht angezogen, bald wieder abgestoßen“ fühlt. Betrachtung der Natur ist für Clara mit Grauen verbunden. Es grause ihr davor, wie in der Natur „alles Bezug hat auf den Menschen“. Die Natur scheine ein „geheimes verzehrendes Gift“ in sich zu haben, und würde nicht diesen „Schauern der Natur“ eine andere Macht in ihr das Gleichgewicht halten, sie müßte schier vergehen im Gedanken an „dies ewig ringende, nie seiende Sein“.

Clara fühlt, daß dieses Andere beständig auf sie übergreift, beständig eine Grenze zu überschreiten sucht, und das Wort vom ringenden, aber nie seienden Sein spricht als das Schreckliche der Natur nicht das Undurchdringliche ihrer Beschaffenheit an; es handelt sich vielmehr um die Ahnung, daß etwas in der Natur um eine andere Beschaffenheit ringt.

Der Zusammenhang des Menschen mit der Natur, den Clara einen „magischen“ nennen wird, werde wesentlich davon bestimmt, „wie viel von dieser Sinnenwelt selbst ganz Unsinnliches ist“.

Vielleicht sei dieses Unsinnliche ein unterschwelliges Aufbegehren der Natur gegen die unaufhörliche Gewalt des Todes, die in ihr herrscht. Vielleicht sehne sich die Natur danach, „von der Vergänglichkeit erlöst zu werden. Eben dies, daß nichts dauert, diese innere Notwendigkeit, nach der endlich alles zerstört wird, und die nur um so gräßlicher ist, je stiller sie ist, eben diese ist das Ängstigende in der Natur.“

Der Mensch als körperlich-geistiges Wesen ist Berührungs- und Übergangspunkt zweier Welten, und das namenlose Schreckliche in der Natur ist ihr Bestreben, diesen Übergangspunkt zu erreichen. Das Sein ist deshalb nie einfach seiend, weil eine strebende Macht in der Natur gleichsam ihrer Vorhut nacheilt, dem Menschen.

Als ob die Natur „wisse“, daß sie vor der Gegenwart des Menschen einen Abgrund von Vergangenheit darstellt, versucht sie im Menschen ihre eigene Zukunft zu erreichen. Sie scheint ihn mit stummem Seufzen anzuklagen oder stürzt sich auf ihn, richtet ihre Pfeile auf ihn, verschlingt ihn, sie verwüstet und vernichtet. Die eingeschlossene Kraft in der Natur, die sich „zu entwickeln bereit war“, so empfindet es Clara, teilt sich mit, weil sie, als noch bewußtloser, aber werdender Geist, ihr Potential zu entfalten sucht; alles an ihr sucht den Menschen und will sich seiner bemächtigen.

Darum also sehen die Dinge so aus, als ob sie bereit wären, „noch ganz andere Lebenszeichen von sich zu geben als die jetzt bekannten“. Das „Schreckliche“ ist das Maß ihrer Regung als Freiheitsdrang, die freie Reaktion der Dinge auf ihre Unfreiheit. Das Schreckliche ist Reaktion eines Innen auf ein Innen im Außen.

The trees will stand like pleading hands
We go down with the dew in the morning light

Nick Cave tat kund, zentrales Thema von „Push The Sky Away“ sei „the tension between the male and the female“. Aber, sagt Clara, es geht auch um das namenlose Schreckliche in der Natur und seine Interaktion mit dem Menschen. The trees all stand like pleading hands. Natur als Hieroglyphe für Geist, für das Eingeschlossensein einer sich gleichwohl regenden Freiheit. 

WE NO WHO U R: im Video (Regie: Gaspar Noé)

folgen wir einem Schatten durch einen spärlich und unheimlich angeleuchteten Wald. Nichts geschieht. Grauen angedeutet, nichts explizit. Wir wissen nichts, nur, daß etwas Schreckliches geschehen ist, geschehen wird, geschehen muß. Daß wir ein Potential durchschreiten, das sich unserer zu bemächtigen sucht. Wer ist das „Wir“, das sich mit dem Morgentau auf die Welt senkt? Wer weiß im „We know who you are“, und was? Gespenstisch und sphärisch die Klänge, eine weibliche Stimme begleitet Cave durch seine ernste Ergebenheit wie in frühen Leonard Cohen-Songs, aus dem Nichts schwirren fragile, melancholische Flötenklänge heran, all das kündet von schwelender Bedrohung und ist doch von seltsam verzauberter Schönheit, Caves Stimme auf unbegreifliche Weise tröstlich, zu Beginn dieser intensiven Kommunikation zwischen Mensch und Mächten namens Push The Sky Away. Vielleicht spricht hier irgendwas mit einer kosmischen Stimme, vielleicht brütet irgendwas auf Rache, vielleicht begegnen wir auch einer Natur, die im Sinne Claras an Schönheit teilhaben möchte, es aber noch nicht kann („Tree don’t care what the little bird sings“), vielleicht ist die eingeschlossene Kraft in der Natur aber auch Erlösung. There is no need to forgive.

Bald werden uns die Bäume noch viel fremdere Zeichen geben, als Clara jemals ahnen konnte.

You wave at the sky with wide lovely eyes

WIDE LOVELY EYES klingt wie ein herzergreifendes, zärtliches Liebeslied, aber wide lovely eyes sind das, was jemand an einer Frau erkennt, die er aus der Ferne beobachtet: „And me at the high window watching“. Meerjungfrauen hängen mit ihrem Haar von Straßenlaternen, aber vielleicht gehören die auch zum Inventar des sicher Brighton-inspirierten „dismantled funfair“, den die Frau ebenso durchwandert wie einen Tunnel, der ans Meer führt. Und dort löst sie ihre Schnürbänder, arrangiert sorgfältig ihre Schuhe auf den Kieselsteinen und steigt ins Wasser, möglicherweise für immer („You wave and wave with wide lovely eyes / Distant waves and waves of distant love / You wave and say goodbye“). Aber war sie nicht schon immer im Verbund mit den Elementen? Wie sonst könnte sie dem Himmel zuwinken? Und wie sonst könnte der Himmel es verstehen, dieses Winken with wide lovely eyes, wenn er nicht, wie Clara es ausdrückt, Bezug hätte auf den Menschen?

Gehören die crystal waves und die waves of blue dem Meer oder den Augen der Frau?

„The night expands / I am expanding“: der magische Zusammenhang des Menschen mit der Natur, im vom Nick Cave abgestempelten Lyricsheet gar ohne /. Die zurückhaltende Gitarre, strummed throughout, schürt Spannung und klingt wie ablaufende Zeit. Und der Refrain klingt wie Wellen, unendlich sanfte Wellen.

All of you young girls where do you hide?
Down by the water and the restless tide

Das Wasserthema, bzw. das Thema Frau & Wasser, setzt sich fort in WATER’S EDGE. Mädchen kommen aus der Großstadt, um die local boys mit erblühender Laszivität um den Verstand zu bringen, nicht irgendwo, sondern on the water’s edge. Way down where the stones meet the sea. Rastlos pulsierender, voluminöser Bass und ominöse, mysteriöse Viola, dunkel und bedrohlich anschwellend, wie Wellen, die an den Strand schlagen. Die Mädchen with white strings flowing from their ears, vermutlich iPod, und a bible of tricks they do with their legs, aber alles in geisterhafter Atmosphäre, aus Caves voyeuristischer Perspektive. Vom will of love zum thrill of love zum chill of love: Warnung, während die Violinen ängstlich werden. Übergangsritus, erotisches Spiel mit dem Feuer, das Suchen nach einer Sprache, am Ende – auch wenn der Bass throb immer nur so tut, als käme gleich die Detonation – Bilder, die eine rape scene andeuten könnten, vielleicht kennt sich der Beobachter auch nur zu gut aus mit beflecktem Eros.

Dem a girl named Bee ausgeliefert war. Thema einer Schiffsladung von Nick Cave-Songs ist, daß Frauen zur Obsession werden können. Thema vieler Nick-Cave-Songs ist, daß es nicht immer ein gutes Ende nimmt. JUBILEE STREET spielt nach dem Mord an einer Prostituierten, aus der Perspektive eines Freiers, wohl des Mörders, der vom Red Light District, in dem Bee „a 10 ton catastrophe on a 60 pound chain“ anzog, nicht loskommt. Während die Akkordfolge des Songs immer intensiver wird, bewegt sich der Mann, dessen Name auf jeder Seite ihres kleinen schwarzen Buches stand, zwischen Scham und Euphorie, schließlich in eine übernatürliche Transformation: „I am alone now. I am beyond recriminations. The curtains are shut. The furniture is gone. I’m transforming. I’m vibrating. I’m glowing. I’m flying. Look at me now. I’m flying.“ Und er entschwindet in ein Crescendo, das die hypnotischen Linien von Ellis‘ wehmütig klagender Violine in einen majestätischen Streicherhimmel wandelt, ein unheimlicher Chor begleitet die Himmelfahrt.

„Niemand sonst steht mit so viel Eleganz und Stil im nebligen Eingang eines Bordells wie Nick Cave. […] „I got love in my tummy / And a tiny little pain“ singt er da, im Neonröhrenlicht, und es ist so zwielichtig, so gefährlich, so brutal, wie nichts anderes auf der Welt. Das Video der sinistren Vorabsingle ‚Jubilee Street‘, durch das Cave so herrlich großkotzig schlendert, ist keine sechzig Sekunden alt, da blickt man dem Abgrund auch schon ins Gesicht.“ [plattentests.de]

For I have seen your face
On the floor of the ocean

Auf dem Cover von Push The Sky Away wirkt Susie Cave, née Bick, wie eine langbeinige Meerjungfrau [Pirates of the Caribbean: On Stranger Tides hat gerade kanonisiert, daß MERMAIDS sich an Land mit Beinen versehen], die sich in das lichtdurchflutete Schlafzimmer verirrt hat und noch auf Zehenspitzen menschlichen Gang ausprobiert, erste vorsichtige Schritte auf festem Grund. Cave öffnet gerade die shutters, um Licht auf das zu werfen, was da erscheint. Doch, es ist tatsächlich seine Frau.

„Hey! Ho! / Oh baby don’t you go / All supernatural on me“, warnte Cave 2004 auf Abattoir Blues / The Lyre Of Orpheus. Andernfalls hole er den Grinderman. „Übernatürlich“ dort also Synonym für Unantastbarkeit, das erotisch Unerreichbare, „supernatural“ als Zustand verhinderter Erotik. Mittlerweile hat er ihr Antlitz jedoch wieder auf dem Meeresgrund gesehen („Die Vagina als Eingang in den Ozean, als Teil aller Ozeane …“ – Theweleit), verbindet in der Metapher das Sexuelle mit dem Übernatürlichen, was konfessionell in den Glauben an the Rapture mündet. Man kann an Gott, Meerjungfrauen oder 72 Jungfrauen an einer Kette glauben, why not why not. Außerdem sind sie unübersehbar da, die Nixen. „Fired from her crotch“, also aus dem Ozean der Einen, fällt Cave vornüber ins Narrativ des Ganz Anderen und kontempliert die Schönheit der Meerjungfrauen. Sie sonnen sich auf Felsen, unerreichbar für den Verstoßenen, sie winken und gleiten zurück ins Wasser.

Die Musik behauptet einfach, daß Cave den lockenden und gefährlichen Wasserfrauen tatsächlich zusieht. Eine schimmernd plätschernde Gitarre, so wie es nur in mythischen Welten plätschern und sprudeln kann. Blind, wer nicht das Sonnenlicht auf geheimnisvollem Wasser tanzen sieht. Ein klagender, sehnsüchtiger Klang ganz am Rande des Songs, vom numinosen Ende der wirklichen Welt. So ein Liebeslied, so einen Verschmelzungswunsch muß man erstmal schreiben können, betört von den erotischen Reizen der Nixen, also vom Ganz Anderen. Das Beste an beiden Welten ist, daß sie nur eine sind.

„I mean she’s so present within the record anyway. I think she’s walking in and out of that record all the time.“ – Nick Cave

Ein schabender Bass pocht bedrohlich auf einer einzigen Note, tief und mit niederträchtiger Beharrlichkeit. Flirrende, unheimliche Violinenklänge. Melancholisch funkelnde Pianospritzer. Im Keller des Songs, kaum hörbar, rumpelt ein wenig Percussion. Und Cave spricht wie zu sich selbst. Was das ergibt? Eine qualvoll schöne Ballade. Sie heißt WE REAL COOL (wie das Gedicht von Gwendolyn Brooks von 1959) und verachtet das Coole. Sie steht allein im Geisterhaften und will doch Ode sein an die Frau, mit der zusammen das Ende der wirklichen Welt erreichbar ist. Oder wäre. Wenn sie nur wüßte, was sie wissen müßte, nach all der Zeit, o Jesus. „The tension between the male and the female“ in Form eines bittersüßen Wer war es, der…? „Wrote you a book you never read“ – who was it? Yeah, you know.

„Who measured the distance from the planets / Right down to your big blue spinning world“. Der Liebende, der verzweifelt an cooler Gleichgültigkeit gegenüber Bedeutungen, die man in Herzschlägen und Tränen maß. „I hope you’re listening“, warnt Cave. „Who chased your shadow running out behind / Clinging to your high-flying heels / Who was it? / Yeah you know, we real cool.“

Real cool, die Bedeutungen zu negieren, ihnen gegenüber achtlos zu sein. Der Liebende kennt die Entfernung zu den Sternen, wie nur der Liebende sich in der wirklichen Welt auskennt, und warnt: nimm mir nicht das Wesen meines Wissens. Sonst bleiben nur die Faktoide der natürlichen Welt: „Sirius is eight-point-six light years away / Arcturus is thirty-seven“. Und „Wikipedia is heaven / When you don’t want to remember no more“. Wenn einem die Erinnerung genommen wird, an das Entfernungsmessen in der besten aller möglichen Welten.

And the sky will devour the children

FINISHING JUBILEE STREET beschreibt zunächst Poesie als die Macht von Bildern, neue Bilder zu beschwören. Ein Song, der davon handelt, wie sich nach dem Schreiben eines Songs eine Obsession in eine andere transformiert. „I had just finished writing Jubilee Street“, als er, Nicholas Edward Cave, in tiefen Schlaf fällt und beim Aufwachen davon überzeugt ist, daß er im Traum ein sehr junges Mädchen namens Mary Stanford zu seiner Braut gemacht hat. Und dann handelt der Song davon, wie die Traum-Information die Wirklichkeit verändert. Wieder schleicht sich ein Ganz Anderes ein, um die Instabilität der „natürlichen“ Welt zu dokumentieren. Die mädchenhafte Braut zieht Blitze aus dem Himmel, und Nicholas Edward Cave sucht Mary Stanford („I said Hey little girl where do you hide?“) in einer surreal gewordenen Wirklichkeit, die das Mädchen als numinose Macht zu durchweben scheint, irrationale Ängste auslösend. Der Himmel wird die Kinder verschlingen. Die Natur scheine ein „geheimes, verzehrendes Gift“ in sich zu haben, fand Clara. „Last night your shadow scampered up the wall / It flied and leaped like a black spider between your legs / And cried / ‚My children! My children! They are lost to us!‘ All of this in her dark hair! O Lord!“ Der unheimliche spoken-word account löst sich ab mit einem Refrain – „See that girl / Coming on down / Coming on down / Coming on down“ – auf die unfaßbar schönste, perplex machende Melodie, die je auf Erden zu hören war, vocals von Martha Skye Murphy. „Und von dieser phlegmatischen Frauenstimme, die sich da im Refrain ausbreitet, wird man nachts noch träumen“ [plattentests.de]. Und beim Aufwachen davon überzeugt sein, daß man im Traum…

HIGGS BOSON BLUES kennt keine andere Welt mehr als die surreale. „Can’t remember anything at all“ – ein halluzinatorischer road trip auf dem Lost Highway, unterwegs nach Geneva [Genf -> CERN], lange schwarze Straße, schwüle schwarze Nacht, am Kreuzweg Robert Johnson mit seiner 10-Dollar-Gitarre, und Luzifer, Johnsons Geschäftspartner, „a 100 black babies running from his genocidal jaw“. Robert Johnson und der Teufel, Mann, „Don’t know who is gonna rip off who“. Bäume stehen in Flammen. Im Lorraine Motel predigt ein Mann „in a language that’s completely new“. Ein Schuß, und alle bluten. Der da unterwegs ist mit dem Higgs Boson Blues, er will begraben werden mit einer mumifizierten Katze. Die Regenzeit ist nur noch simuliert. Miley Cyrus vollendet das Thema Frau & Wasser, sie treibt in einem kalifornischen Swimming-Pool. Tot oder lebendig. Es gibt nichts mehr zu erinnern außer: you’re the best girl I ever had. Regentage machen einen immer so traurig.

Freud bemerkt in seiner Studie zur Psychopathologie des Alltagslebens, daß Cave auf dem Textblatt nicht Miley Cyrus schreibt, sondern Mylie Cyrus (vgl. Kylie). Wie genau treibt das Starlet im Pool? Und warum?

„Well, I don’t know that she’s face down,“ sagt Cave. „Maybe she’s on a lilo. In some ways, if she is lying on a lilo then it’s even more of a devastating image, considering the nature of the song and the absolute spiritual collapse that’s happening all around her. No, let’s say she’s just on a lilo. Let me just say: I’ve got nothing particular against Miley Cyrus. The whole thing came about because I was in Madame Tussauds with my kids and they were hugging Miley Cyrus’s waxwork. Elizabeth Taylor as Cleopatra was in the next room. They were groping Miley Cyrus, and I’m going, well, hang on a second, you’ve got Elizabeth Taylor here. ‚Who?‘ And that had some impact on me, and that’s why she’s floating in the pool.“

Absolute spiritual collapse. Der da unterwegs ist, weiß nicht mehr, wohin noch und was tun; Geneva liegt am Ende eines Weges quer durch Zeit und Raum, irgendwo auf dem Weg epidemieverbreitende Missionare, im Lorraine Motel wurde Martin Luther King ermordet.

Joseph Lykken, am CMS-Experiment des Large Hadron Collider beteiligter Physiker, hat anhand der im Juli 2012 veröffentlichten Daten über das Higgs-Boson errechnet, daß das Universum instabil ist. Beim Jahrestreffen der AAAS (American Association for the Advancement of Science) faßte er seine Ergebnisse zusammen und formulierte dabei den Satz:

„The universe wants to be in a different state, so eventually to realize that, a little bubble of what you might think of as an alternate universe will appear somewhere, and it will spread out and destroy us.“

Woran erinnert der Satz, daß das Universum einen anderen Zustand annehmen will? Right. Lykken weiß aber wohl nichts von Claras Ahnung, daß etwas in der Natur um eine ganz andere Beschaffenheit ringt.

Die Odyssee durch die grotesken Szenen der spirituellen Katastrophe, der phantasmagorische und immer deliriösere trip, auf dem zwangsläufig alles durcheinanderwirbelt, erklärt nicht, warum Materie Masse hat. Aber wenn in der Erosion aller Wahrheiten deutlich wird, was der Welt Gewicht verleiht („you’re the best girl I ever had“), bleibt nur eins. 

PUSH THE SKY AWAY. You’ve gotta just keep on pushing / Keep on pushing / Push the sky away.

„… assertion of self-belief in the face of uncertainty“ (Andy Gill). Nie war der psychosexuelle Feuer-und-Schwefel-Sermon so fern wie hier, wenn Nick Cave über diesem komplett anderweltlichen orgelartigen Klang mit einer der beseeltesten vocal performances seines Sängerdaseins schließlich sich selbst entsendet in den offenen Raum jenseits des Himmels.

Ein wunderschöner Anblick.

Alles Bekannte wandelt sich auf Push The Sky Away, etwas Ungreifbares, Traumgleiches verfremdet die Bilder, alles Ausgesprochene verweist auf Unausgesprochenes, seltsam schwerelos und schwebend bewegt sich alles hier, und so wie Mary Stanford Blitze aus dem Himmel zieht, so zieht Warren Ellis Klänge aus der Unergründlichkeit. 

„Well, if I were to use that threadbare metaphor of albums being like children, then Push The Sky Away is the ghost-baby in the incubator and Warren’s loops are its tiny, trembling heart-beat.“ –  Nick Cave

2013

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Bilderbuch Dänemark

Fournickation

"Fournickation" von Christian Erdmann. Nick Cave Concert Poster.
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Musik

111 Lieblingsvideos [3]

111 Lieblingsvideos [3] von Christian Erdmann. Bild: Ciscandra Nostalghia, "Cool For Chaos" Video.

045

David Bowie – Survive

1999

046

THE Nine Inch Nails – She’s Gone Away

Twin Peaks: The Return

2017

047

Air – So Light Is Her Footfall

2009

048

Nostalghia – Cool For Chaos

2012

049

The Verve – Bitter Sweet Symphony

1997

050

Tom Petty – You Don’t Know How It Feels

1994

051

Prince – Cream

1991

052

Elvis Presley – If I Can Dream

Comeback Special

1968

053

The Birthday Party – Junkyard

1982

054

Nine Inch Nails – Survivalism

2007

055

David Bowie – Station To Station

(Christiane F. – Wir Kinder vom Bahnhof Zoo)

1980/81

056

The Smashing Pumpkins – Rocket

1994

057

Queens of the Stone Age – Emotion Sickness

2023

058

Bob Dylan – Subterranean Homesick Blues

1965

059

The Kills – The Last Goodbye

2012

060

U2 – Get On Your Boots

2009

061

Blur – The Universal

1995

062

Sweethead – Reverse Exorcism

2014

063

Queens of the Stone Age – Burn The Witch

2006

064

Depeche Mode – Condemnation

1993

065

Ladytron – Destroy Everything You Touch

2005

066

Francoise Hardy – Mon amie la rose

1965

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Aljoscha der Idiot

Vito von Eichborn: Vorwort für „Aljoscha der Idiot“

(Vorwort für die Neu-Edition von „Aljoscha der Idiot“, Februar 2007)



Meine Buchhändlerin sagte mir, „ja“, sagte sie…

„Ja, die Liebesgeschichte eines Studenten könnte reizvoll sein. Liebe ist nach der Lebenshilfephase wieder gefragt, und das Uni-Milieu geht ja irgendwie immer. Der beste Beweis war damals der Bestseller von Schwanitz…“

„Um Gottes Willen“, fiel ich ihr ins Wort, „den ‚Campus‘ habe ich ja selbst verlegt! Das war neckische Unterhaltung mit Altherrenhumor, auf Erfolg hin geschriebener Identifikationswitz mit Nullachtfünfzehn-Plot. War klasse für den Verlagsumsatz. Dies hier ist absolute Literatur auf hohem Niveau, weil…“

Nun unterbrach mich meine Buchhändlerin. Das macht sie ja immer gerne. „Oje, das ist also richtig rundherum anspruchsvoll? Hat es denn unterliegend wenigstens eine spannende Handlung, ein bißchen Sex and Crime, was Filmisches, ein Roadmovie oder so?“

„Herrje, nein! Tja, wie sag ich’s? Also Klartext: Dies ist ein Buch, das es – wie übrigens alle wirklich guten Bücher – den Lesern nicht leicht macht. Es ist, um aus dem Internet zu zitieren: ‚Ein Roman voller Rätsel und Anspielungen, um Sehnsucht und die Unmöglichkeit der Liebe. Ein Mosaik des Fühlens und des Träumens, jenseits von Geschichte und Verstand. Ein komplexes Gespinst aus Gedanken und Geschehen – denn nichts ist einfach zwischen den Menschen und ihren Wünschen.'“

„Ja, und wie soll ich das komplexe Gespinst verkaufen? Postmoderner Hirnschwurbel oder wie? Eine dekonstruierte Liebesgeschichte, in der offensichtlich nicht mal richtig gevögelt wird?“ Sie redete sich in Rage. „Komplizierte Literatur geht halt nicht. Das kann man bedauern, aber es gilt die logische Formel: Je intelligenter ein Buch – desto weniger Leser. Die Leute sind nicht mehr bereit – wenn sie es denn je waren -, Texte zu entziffern. Denen ist Faulkner zu anstrengend.  Arno Schmidt hatte ja mal eine intellektuelle Gemeinde – der ist auch völlig out. Wenn ich nicht voller Überzeugung ’spannend‘ sagen kann, werde ich keinen Roman mehr los.“

„Aber Herrgott nochmal, das ist doch spannend! Nur eben nicht schwanitzmäßig platt! Es ist weit entfernt von Arno Schmidts chiffrierten Verkomplizierungen – und dennoch, auch dies ist rauf und runter voller Anspielungen, ich zitiere: ‚Eine Hommage an die Liebe, die Philosophie, die Musik und die Kunst – daher unbedingt lesenswert für alle, die noch nicht aufgehört haben oder wieder anfangen wollen zu denken und zu fühlen.‘ Nein, dies ist nicht Arbeit wie bei Schmidt – es ist Lustlektüre, das zieht und zwingt und…“

„Und was erzählt uns dieses Wunderwerk?“

„Die Handlung ist alltäglich. Die gegenwärtige Liebe des Philosophiestudenten Aljoscha geht allmählich zu Ende. Und er verliebt sich neu in eine unbekannte Schöne, so ergreifend und verstörend, daß es – auch dem Leser – weh tut. Bei Amazon jubelt eine Leserin: ‚Unglaublich, daß es so etwas noch gibt. Fast jeder Satz ist für sich genommen schon ein Kunstwerk‘, und eine andere greift tief in die Kiste – und sie beschreibt es sehr richtig: ‚Der Autor schreibt in einem atemberaubenden, wunderbar altmodischen Sprachstil und führt den Leser mit unglaublicher Gewandtheit, erstaunlich weit gefaßtem Wissen und äußerst feinem Humor durch die tiefe, empfindungsreiche, philosophisch geprägte und doch postmoderne Gedanken- und Gefühlswelt des Protagonisten.‘

Also, ich versteige mich zu der Behauptung: Dies ist literarisch das Beste, was ich in den letzten Jahren gelesen habe. All die neue Realitätsliteratur, wo Autoren Wirklichkeiten abschreiben und Literatur behaupten, ist banal und langweilig im Vergleich zu ‚Aljoscha‘. Erdmann erzählt das Unsagbare.“

Meine Buchhändlerin hatte ihre Grübelfalten angelegt: „Mensch, so eine Jubelei kenne ich ja gar nicht mehr, das ist mir nun fast unheimlich. Übrigens ist das auch gefährlich – wenn jemand in den Feuilletons so loslegt, reizt das zum Widerspruch, mich auch, dann werden alle anderen automatisch skeptisch.“

Sie hatte mir das Buch aus der Hand genommen und zu blättern und sporadisch zu lesen begonnen, wie Vielleser es gerne tun.

„Aber verdammt nochmal, wenn etwas erste Sahne ist – und sei es anspruchsvolle Literatur -, dann muß es doch möglich sein, das einfach zu sagen…“

Sie unterbrach: „Aber das sind ja wirklich außergewöhnliche Worte und Sätze, stimmt, das sieht man schnell, oje, am Wochenende werde ich wohl wieder zu nix anderem kommen – aber ich spüre ganz unmittelbar: Dies will, nein, muß ich in Ruhe ganz lesen. Und dann vermutlich nochmal…“

Richtig, dies ist eins der seltenen Bücher zum Mehrfachlesen, weil man immer wieder Neues entdeckt.

Wer auch immer dies auf sich nimmt – ich schwöre, der bekommt einen glücklichen Ausdruck im Gesicht…

Vito von Eichborn

Vito von Eichborn, Vorwort für "Aljoscha der Idiot" von Christian Erdmann.
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Musik

111 Lieblingsvideos [2]

111 Lieblingsvideos [2] von Christian Erdmann. Bild: Fever Ray, "When I Grow Up" Video.

023

Fever Ray – When I Grow Up

2009

024

Mark Lanegan – Stitch It Up

2019

025

Iggy Pop – Real Wild Child

1986

026

Mark Lanegan: The Gravedigger’s Song

2012

027

The Who – Magic Bus

1968

028

Garbage – Stupid Girl

1996

029

The Devils – Real Man

2021

030

Siouxsie & The Banshees – The Last Beat Of My Heart

1988

031

Queens of the Stone Age – No One Knows

2002

032

The Beatles – Paperback Writer

1966