„I’ve discovered my Nietzsche“ – Echo & The Bunnymen
Diskussion im SPIEGEL ONLINE-Forum „Literatur – Was lohnt es noch, zu lesen?“, September 2007

KLMO:
Nietzsche: „Wir haben die Kunst, damit wir nicht an der Wahrheit zugrunde gehen.“
kurzundknapp:
Vielleicht sollte man Nietzsche zunehmend unter poetischen Aspekten lesen…
Aljoscha der Idiot / Christian Erdmann:
Auch das, aber ich lese Nietzsche mittlerweile vor allem als genialen Psychologen. Er ist eigentlich dort am interessantesten, wo es nicht um die großen umstrittenen Themen und philosophischen Entwürfe geht. Nietzsche ist eine Quelle, aus der die großen Entlarvungen, aber vor allem die kleinen, verblüffenden Entdeckungen nur so sprudeln, für mich immer dann am spannendsten, wenn unter der beißenden Sprache gleichsam widerwillig der am Zwischenmenschlichen leidende Humanist kenntlich wird.
Vielleicht könnte man auch einmal forschen, inwieweit auch das „Poetische“, wie Sie sagen, also seine Lust an der Sprache, dafür verantwortlich ist, daß er zuweilen so in die Irre geht. Wenn er selbst meinte, wir werden Gott nicht los, solange wir an die Grammatik glauben: vielleicht wurde er manches Fehlurteil nicht los, weil die Formulierung ihn verführte. Aber für das Füllhorn seiner Psycho-Poesie verzeihe ich ihm vieles. Man kann an Nietzsche verzweifeln: an seinen groben Irrtümern, aber auch an seinen unzähligen Wahrheiten.
kurzundknapp:
Psycho-Poesie, ja, das ist es! Die Klarheit seiner Wahrheiten und seiner grotesken Irrtümer kommt aus seiner Überempfindlichkeit für das „Draußen“, aber eben auch der Sprache. Und verzweifeln muß man geradezu an ihm.
KLMO:
Nietzsches Werke können nicht isoliert von seiner Krankheitsgeschichte betrachtet werden. Sein Dasein war überwiegend ein Leidensweg von unvorstellbarer Qual.
Christian Erdmann:
Frequenz, Fiebrigkeit und Furor seiner Schriften wurden gegen sein Ende hin immer rasanter – gewiß ein Symptom.
In „Schuld und Sühne“ hat Rodion Raskolnikow diesen Traum vom geschlagenen, erschlagenen Pferd, dessen blutüberströmten Kopf er zusammenbrechend umarmt; Nietzsches Kollaps in Turin, das Pferd umarmend, zusammenbrechend, ist es der Zusammenbruch von der fortgesetzten Anstrengung, im Grunde Mitleid mit jeder Kreatur zu haben… ist es die letzte Panik, in der sich der wahre Nietzsche offenbart, der die ganze Zeit nicht in Raskolnikows Theorie, sondern in Raskolnikows Traum gelebt hat… wer weiß.
Nietzsches Pferdeumarmung wirkt auf mich wie Nijinskys „Hochzeit mit Gott“, dieser letzte, erschreckende Auftritt des „Gott des Tanzes“ in einem Schweizer Hotel, vor vielleicht 200 Menschen, in dem er es laut Augenzeugen offenbar vermochte, den Wahnsinn des Weltkrieges einzufangen: „Er schien den Saal mit allen Schrecken der leidenden Menschheit zu erfüllen.“ – schreibt Romola, seine Frau, in ihrer Biographie. Und Nijinsky schrieb in sein Tagebuch: „Aber ich fühlte, ich, der sie alle liebte, daß ich von niemandem geliebt wurde.“ Und danach verabschiedete er sich in die jahrzehntelange Dunkelheit, einer, der vielleicht immer schon gefühlt hat, daß er von allen anderen weit entfernt war, zu weit entfernt.
Shaftesbury, der Philosoph, hat einmal gesagt: allein schon dadurch, daß Hobbes sich im „Leviathan“ so viel Mühe gibt, der Menschheit Gutes zu tun, widerlege er seine eigene These vom Menschen als des Menschen Wolf. Nun ist es für die extrovertiert am Zustand der Menschheit Leidenden vielleicht manchmal nur ein kleiner Schritt vom Rousseau zum Robespierre; für die Introvertierten aber, die Nietzsches, Nijinskys, Hölderlins, bleibt vielleicht nur diese letzte, verzweifelte Geste, und dann der Schutz der Umnachtung. Ich weiß, daß es bei Nietzsche eindeutige pathologische Befunde gibt, aber vielleicht ist trotzdem die Frage, wie lange er es auch ohne diese noch ausgehalten hätte in dieser Mischung aus universalem Mitleiden – und selbst das wie Paulus Beschimpfte muß man verstanden haben, um es so beschimpfen zu können – und der Art von Einsamkeit, die er atmete.
Vielleicht noch am Rande: ich halte Nietzsches Konzept apollinisch / dionysisch nach wie vor für eine sehr schöne Metaphorik, wenn man sie sozusagen der Kunst entwendet: ein guter Ansatz, um das Wechselspiel im individuellen Bewußtsein zu beschreiben, das, um es so allgemein wie möglich zu formulieren, stets zwischen Abgrenzung vom „Anderen“ und Lust am „Anderen“ oszilliert.
KLMO:
1889 in einem Brief an Jakob Burckhardt: „… zuletzt wäre ich sehr viel lieber Basler Professor als Gott“, mehrfach unterzeichnete er mit „Der Gekreuzigte“.
Oder: „Du gehst zu Frauen? Vergiß die Peitsche nicht!“
Einen völlig anderen Nietzsche erleben wir bei der Begegnung mit Lou Salomé. Nietzsche verehrte sie, konnte sich ihr jedoch nicht erklären.
Wer ein Extrem beschwört, ist schon verdächtig. Die Dualität in uns kann nicht aufgehoben werden.
Nietzsche litt an den Folgen einer Syphilisinfektion. Thomas Mann vermutet, er habe sich diese Krankheit während des Besuches in dem Kölner Bordell zugezogen; er stellt diese Geschichte in den Mittelpunkt seines „Doktor Faustus“.
Schon mit 35 Jahren gibt er die Professur an der Universität in Basel aus Gesundheitsgründen ab. Overbeck im Frühjahr 1879 über den Zustand von Nietzsche: „Anfall über Anfall der heftigsten Kopf- und Augenschmerzen mit tagelangen Erbrechen – es war vorüber mit all seiner Geduld, mit all seinem Lebensmut!“ Und dieses ständige Auf und Ab ging 10 Jahre bis zu seinem Zusammenbruch weiter so… Erstaunlich seine Energie des Schaffens. In dieser Zeit ist er gejagt und gehetzt von dem unstillbaren Trieb nach Erkenntnis, ein rastloser „Abenteurer des Geistes“ und dies unter den ärmlichsten Verhältnissen. Krankheit und sein Schaffenstrieb sind nicht zu trennen.
Nietzsche war eher ein Kulturkritiker als ein Philosoph im geläufigen Sinn, vor allem ein Sprachgenie.
Anders die Krankheitsgeschichte bei Hölderlin, wo man zeitweise sogar vermutet, dass er eine Geisteskrankheit nur vortäuscht.
Hölderlin: „Der Menschen Worte verstand ich nie. Im Arme der Götter wuchs ich groß.“ Man meint, hier eher eine schon heitere Gelassenheit zu spüren, entrückt in eine andere (bessere?) Welt.
Christian Erdmann:
„Du gehst zu Frauen? Vergiß die Peitsche nicht!“
Das Zitat ist eben der bekannte Nietzsche. Es gibt aber auch Äußerungen wie diese, aus „Morgenröte“:
„Weiberfeinde. – Das Weib ist unser Feind – wer so als Mann zu Männern spricht, aus dem redet der ungebändigte Trieb, der nicht nur sich selber, sondern auch seine Mittel haßt.“
Oder:
„Die Frauen sind es, welche bei der Vorstellung erbleichen, ihr Geliebter möchte ihrer nicht wert sein; die Männer sind es, welche bei der Vorstellung erbleichen, sie möchten ihrer Geliebten nicht wert sein. Solche Männer, als die Menschen der Zuversichtlichkeit und des Machtgefühls für gewöhnlich, haben im Zustande der Passion ihre Verschämtheit, ihren Zweifel an sich; solche Frauen aber fühlen sich sonst immer als die Schwachen, zur Hingebung Bereiten, aber in der hohen Ausnahme der Passion haben sie ihren Stolz und ihr Machtgefühl – als welches frägt: wer ist meiner würdig?“
Nietzsche glaubte an eine genuine Macht der Frau, die eben in ihrer Weiblichkeit begründet ist. Dazu gibt es z.B. eine Äußerung in „Jenseits von Gut und Böse“, in der er feststellt, daß es einen Widerspruch gebe zwischen der „Emanzipation des Weibes“ und dem Einfluß der Frau, der seit der Französischen Revolution in Europa de facto abgenommen habe: „Es ist Dummheit in dieser Bewegung, eine beinahe maskulinische Dummheit, deren sich ein wohlgeratenes Weib – das immer ein kluges Weib ist – von Grund aus zu schämen hätte“. Für seine Zeit hatte Nietzsche ja recht: das Zeitalter der Regentinnen, auch der großen Kurtisanen, deren Einfluß und Ansehen sie meilenweit von gewöhnlichen Prostituierten enthob, war vorbei.
Im Grunde spricht also schon aus Äußerungen Nietzsches, daß er ein Frauenideal hatte, das weibliche Souveränität und Überlegenheit anerkannte. Und es gibt ja auch dieses berühmte Foto, auf dem eben sie die Peitsche in der Hand hat (mit Nietzsche und Paul Rée vor dem Karren, auf dem sie kniet).
Ein schüchterner Mann, ein von Krankheit zerrütteter Mann. Gewiß. Und doch, so zweifellos Lebensumstände ein Werk prägen, muß man sich an einem bestimmten Punkt von diesem eigentlich trivialen Wissen auch wieder verabschieden.
KLMO:
Nietzsche propagiert das Gegenteil von Selbsterniedrigung und Kleinmacherei. Du bist nicht niedrig und klein, ausser, man redet dir das ein!
hans-werner degen:
Was für ein entsetzlicher Irrtum Nietzsches, der damit die sich freiwillig Kleinmachenden der Welt, Gandhi, M. L. King, Mutter Theresa und alle anderen, die sich für viele opferten, denunziert.
Und kein Wunder, dass die sich Überhöhenden, die Herrschenwollenden in der Welt sich mit ihm verbunden wähnten.
Christian Erdmann:
Da fällt mir Rasumichin in „Schuld und Sühne“ ein: das ganze geheimnisvolle Problem des Lebens auf zwei Druckseiten abgetan.
Ja, so kann man die Komplexität und den Reichtum eines Lebenswerks mit zwei Federstrichen abtun. Daß Menschen aus völlig anderen Gründen Nietzsches Werk, bei aller kritischen Distanz in den gebotenen Punkten, schätzen können, kommt Ihnen nicht in den Sinn? Zum Beispiel, weil er ein Todfeind bornierter Selbstgewißheit war. Weil er selbst ein von Zweifeln zerrissener Suchender war, dem jede zu einfache Lösung suspekt war. Den gesamten Nietzsche auf Übermenschensehnsucht zu reduzieren, ist genauso unsinnig wie in Dostojewskij immer nur den suchenden Christen sehen zu wollen. Nietzsche schätzte Dostojewskij fast maßlos („einer der schönsten Glücksfälle meines Lebens“, „ein Psychologe, mit dem ich mich verstehe“) und sicher nicht, weil er in Dostojewskij nur das sah, was Sie sehen, den auf den Urgrund des Glaubens tauchenden orthodoxen Christen; vielmehr haben sowohl Nietzsches Philosophie der Perspektivität, in der sich ständig Gegensätze berühren, als auch seine „Zweifel an der Mitteilbarkeit des Herzens“ in Dostojewskij ein literarisches Pendant, auch das ekstatische Existenzgefühl der Charaktere Dostojewskijs.
hans-werner degen:
ad 1) Für mich ist Nietzsche als Poet einer der Großen der Welt! Und er schreibt in einem wundervollen Deutsch.
ad 2) Wer als Philosoph trompetet, tut das, weil er viel heiße Luft in seinen Gedanken hat, die er mit Trompetenklang überdecken will.
ad 3) Wenn ein Diktator einen Philosophen schätzt… nun ja… vor falschen Anbetern wird man nie sicher sein… wenn er aber zur Lektüre vieler Herrscher wird, fange ich an nervös zu werden… dann stimmt was nicht.
Christian Erdmann:
Übrigens ist auch Jesus nicht sicher vor falschen Anbetern. Nietzsche wünschte sich, daß er sein Werk auf Französisch hätte schreiben können, Zitat: „damit es nicht als Befürwortung irgendwelcher reichsdeutscher Aspirationen erscheint“.
Thomas Mann, 1927: es gelte, bei Nietzsche „das Pathos großer europäischer Humanität, das seines Wesens Kern bildet, klar herauszubilden und gegen wüste Mißverständnisse zu verteidigen“.
Nietzsche wetterte gegen die Deutschen, weil er ein Europäer war: Hitler ist Zusammenfassung all dessen, was Nietzsche verachtete. Er hätte Nazideutschland verachtet: „Ein Deutscher ist großer Dinge fähig, aber es ist unwahrscheinlich, daß er sie tut: denn er gehorcht, wo er kann, wie dies einem an sich trägen Geiste wohltut.“
„Sich unterwerfen, folgen, öffentlich oder in der Verborgenheit, – das ist deutsche Tugend. – Lange vor Kant und seinem kategorischen Imperativ hatte Luther aus derselben Empfindung gesagt: es müsse ein Wesen geben, dem der Mensch unbedingt vertrauen könne, – es war sein Gottesbeweis, er wollte, gröber und volkstümlicher als Kant, daß man nicht einem Begriff, sondern einer Person unbedingt gehorche…“ (Morgenröte).
„Als die Deutschen den andern Völkern Europas anfingen interessant zu werden – es ist nicht zu lange her -, geschah es vermöge einer Bildung, die sie jetzt nicht mehr besitzen, ja die sie mit einem blinden Eifer abgeschüttelt haben, wie als ob sie eine Krankheit gewesen sei: und doch wußten sie nichts besseres dagegen einzutauschen als den politischen und nationalen Wahnsinn. Freilich haben sie mit ihm erreicht, daß sie den andern Völkern noch weit interesssanter geworden sind, als sie es damals durch ihre Bildung waren; und so mögen sie ihre Zufriedenheit haben!“ (Morgenröte)
Nietzsche spielt eingangs auf den Weimarer Geist an und meint mit den „großen Dingen“ eher Goethe, den er, trotz seiner Parodie in einem Gedicht, als Ausnahmeerscheinung unter den Deutschen verehrte und sich wünschte, er könne Goethe gegen „ganze Wagen voll frischer hochmoderner Lebensläufe einhandeln“. Und letztlich ist für Nietzsche Goethe „kein deutsches Ereignis, sondern ein europäisches“. Nietzsche bewunderte Goethe, weil hier einer – sich selbst schuf. Wer verkennt, daß Nietzsche in dieser Linie des Humanismus steht, in der von Pico della Mirandola über Shaftesbury zu Goethe die selbstschöpferische Kraft des Menschen betont wurde, der wird Nietzsche immer Unrecht tun.
Daß Nietzsche sich mit Begriffen und Wendungen angreifbar gemacht hat, darüber herrschen keine zwei Meinungen. Aber nie hat Nietzsche z.B. den „Willen zur Macht“ im Sinne eines Hitler als Macht über andere verstanden; im Gegenteil hätte dieser „Wille zur Macht“ als Macht des ewig-sich-selber-Schaffens einer solchen Vereinnahmung durch eine schreckliche Ideologie diametral entgegengestanden.
hans-werner degen:
Wenn er das nicht wollte: Warum schrieb er es so, dass es das Gegenteil bewirkte?
Seine Lektüre hat mir den Weg zu Lenin geöffnet…
Und viele andere erfuhren das gleiche…
Das ganze Werk (und ich hab es gelesen) hat was Sado-Masochistisches an sich!
tzscheche:
… deshalb verstand er sich auch so gut mit Wagner!
Christian Erdmann:
Also, ich kann mit Wagner nicht viel anfangen, und mir ist auch nicht klar, mit welcher Notwendigkeit man von Nietzsche zu Lenin kommen muß, das scheint mir dann schon an Dingen zu liegen, die mit Nietzsche selbst nichts mehr zu tun haben, außer im Sinne des von Nietzsche selbst Diagnostizierten.
Wenn Sie den gesamten Nietzsche gelesen haben, dann müßten Sie doch in der Lage sein, auch die Binnenstruktur dieses Gesamtwerkes als repräsentativ dafür anzusehen, wie es bei Nietzsche vornehmlich darum geht, nicht auf falsche Tröten hereinzufallen, selbst wenn es die eigenen waren, wie „der Fall Wagner“ zeigt.
„Wie? wäre es wirklich die erste Tugend eines Vortrags, wie es die Vortragskünstler der Musik jetzt zu glauben scheinen, unter allen Umständen ein hautrelief zu erreichen, das nicht mehr zu überbieten ist? Ist dies zum Beispiel, auf Mozart angewendet, nicht die eigentliche Sünde wider den Geist Mozarts, den heiteren, schwärmerischen, zärtlichen, verliebten Geist Mozarts, der zum Glück kein Deutscher war, und dessen Ernst ein gütiger, ein goldener Ernst ist und nicht der Ernst eines deutschen Biedermanns … Geschweige denn der Ernst des „steinernen Gastes“ … Aber ihr meint, alle Musik sei Musik des „steinernen Gastes“, – alle Musik müsse aus der Wand hervorspringen und den Hörer bis in seine Gedärme hinein schütteln?… So erst wirke die Musik! – Auf wen wird da gewirkt? Auf etwas, worauf ein vornehmer Künstler niemals wirken soll, – auf die Masse! auf die Unreifen! auf die Blasierten! auf die Krankhaften! auf die Idioten! auf Wagnerianer!“
(Nietzsche kontra Wagner)
Jemand (Emerson) sagte mal, wenn man Montaignes Worte schneiden würde, wie müßten sie bluten wegen ihres Gefäßreichtums. Bei vielen Sätzen Nietzsches kann man Herzrasen feststellen, klar. Er hyperventiliert, und ich kann verstehen, daß der Punkt kommt, wo man genug hat. Ich kenne ihn selbst. Aber es gibt auch einen völlig anderen Nietzsche, einen merkwürdig sanftmütig dahingleitenden Tonfall, das Timbre eines Geistes, der einfach schon zu viel gesehen hat. „Leere“ kann ich da nicht finden – die muß schon gewaltsam dorthin projiziert werden. Ich sehe da eher Fülle, die nicht weiß, wohin mit sich.
Warum Nietzsche so schrieb, wie er schrieb, wie könnte sich jemand anmaßen, das zu beantworten. Und zwei Leser machen zwei verschiedene Bücher aus einem Buch – völlig normal.
tzscheche:
Hesse und Nietzsche:
In Hermann Hesses Figuren hat vieles von Nietzsches Streben nach Übermenschlichem aus schierer Verzweiflung an der Existenz Eingang gefunden. Jedoch ist bei Hesse der Wille zur Überwindung alles Irdisch-Profanen quasi rückgekoppelt und geerdet durch das Hadern der Protagonisten, ihre Skrupel vor der finalen Abkehr von Konvention und Moral.
Man nehme Harry Haller, den Steppenwolf, der die bürgerliche Bigotterie verachtet und gleichzeitig das Ambiente bürgerlicher Wohnstuben sakral verklärt, der unwiderstehlich angezogen wird von Transzendenz und Martyrium und gleichzeitig zittert aus Angst vor dem Schmerz.
Hesse weiß zwischen dem Glanz der Idee und dem Wahnsinn ihrer Realisierung fein zu unterscheiden.
Diese Differenzierung zwischen Wunsch und Wirklichkeit würde man sich auch von so manchem Adepten Nietzsches erhoffen.
Christian Erdmann:
Die Abkehr von einer gewissen Moral ist nicht Abkehr von jeglicher Moral. Sie können das aus Nietzsches Eintreten für den Genius des Selbstschöpferischen nicht einfach wegdenken. Der Hinweis auf Shaftesbury, der sogar einen dem Menschen eigenen, nicht hintergehbaren „moral sense“ annahm, und dabei den „Virtuoso“ als Ideal anstrebte, der seine Passionen und Emotionen analog zum Künstler, der ein Kunstwerk schafft, in Harmonie bringt, oder der Verweis auf Nietzsches Bewunderung Goethes, der von Shaftesbury übrigens den Begriff der „inneren Form“ gestohlen hat, waren dann vielleicht weniger hilfreich, als ich hoffte. Bei allem Aufruhr im Duktus Nietzsches, zu dem auch gehört, die eigene „innere Form“ stets zu erneuern, sehe ich, daß er zugleich eine Art von Anstand einfordert, mit der er den Menschen sichtlich überschätzt, woraus wiederum ein Teil seiner Verzweiflung rührt.
Schon, daß Sie Nietzsche einen Wunsch zur Überwindung des „Irdisch-Profanen“ unterstellen, ist bei seiner Liebe zum Irdischen seltsam, aber nun gut: ich bin kein „Adept“ Nietzsches. Passagen, ob derer ich Nietzsche 10mal in die Ecke gefeuert habe: geschenkt; von „Nietzsche und der Faschismus“ habe ich sogar ein Exemplar mit Widmung, der Verfasser war mein Professor. Ich sage nur, es lohnt sich, Nietzsche trotz allem 10mal wieder aus der Ecke herauszuholen.
hans-werner degen:
Da werden wir nie d’accord und Tucho beschrieb das, was ich meine, wesentlich prägnanter als ich das kann!
Christian Erdmann:
Auch Tucholsky ist ja sichtlich zwiegespalten. Indes: „Und Flesch hat richtig empfunden, dass man ihn nun bald gegen seine Anhänger in Schutz nehmen muß – wohin ist dieses Werk gerutscht! Sähe er das, schaudernd wendete er sich ab.“ – !!
Schreibt Ihr „Tucho.“ Welchen Schlag erlitt dagegen Tucholskys Bewunderung für Hamsun? Ist diese offene Verirrung eines (großen) Schriftstellers wie Hamsun nicht viel schlimmer, als der Mißbrauch eines Schriftstellers, der sich gegen diesen Mißbrauch verwahrt hätte?
kurzundknapp:
Da haben Sie völlig recht, und das nicht nur für Tucholsky! Hamsuns Nazitum ist ekelerregend!!
KLMO:
In Ihren Ekel müssen sie aber Millionen Deutsche mit einbeziehen, incl. die Intelligenz. Außer, man war Kommunist oder Jude. Hier wird im Nachhinein unglaublich geheuchelt.
In der Spiegelausgabe 38/2004 liest man über Heidegger folgende bemerkenswerte Passage: Als Jaspers im Mai 1933 die Professorenfrage stellte, auf welche Weise wohl „ein so ungebildeter Mensch wie Hitler Deutschland regieren solle“, bekam er von Heidegger die Antwort: „Bildung ist ganz gleichgültig…. Sehen Sie nur seine Hände an.“
Dass Jaspers solch eine „provozierende“ Frage überhaupt stellte, erklärt sich daraus, dass er mit einer Jüdin verheiratet und entsprechend sensibilisiert war.
Christian Erdmann:
Bezeichnend und verräterisch im Hinblick auf „die Intelligenz“ schon die Stimmung in Davos 1929, bei der Disputation zwischen Heidegger und Cassirer, die als showdown empfunden wurde, bei dem die jungen Studenten auf der Seite des „radikalen“ Heideggers standen, der liberale Geist Cassirer dagegen mit einer Kabaretteinlage verhöhnt wurde.
hans-werner degen:
Was mir heute fehlt bei den Büchern, wurde mir auf dem Flohmarkt schmerzlich bewußt: Es gibt keine Prediger des Humanismus mehr! Da hab ich jetzt einen Band Essays von Friedrich Heer gefunden. Unorthodoxer Katholik und Streiter für den Humanismus nach 1945.
Aufsätze, Gedanken die heute wichtiger sind denn je!
Mit Ekel betrachtet er die heutigen Gruppen, die den Humanismus im Schild führen und gnadenlos zusehen können, wenn in Staaten nach ihrem Gusto die Menschen schikaniert und gemordet werden.
Sein Credo (katholisch geprägt): Nie dürfen Menschen Menschen leiden lassen.
Christian Erdmann:
Gewiß. Dieses „katholisch geprägte“ Credo Heers enthält darum auch ein gerüttelt Maß an Kirchenkritik: „Der Klerus ging noch in jeder Geschichtsstunde mit jedem Machtherren ins Bett.“
Hitler zahlte ja bis zuletzt Kirchensteuer; Heer sagt: „Adolf Hitler sieht bis an sein Lebensende mit tiefem Respekt auf die römische Kirche, auf ihre tausendjährige Kunst der Herrschaft, Kunst der Propaganda, Kunst der Seelenführung.“ (aus: „Mit Gott und dem Führer“). Alles auf Nietzsche schieben, geht auch mit Heer nicht.
Der „Übermensch“ ist von Nietzsche zu keiner Zeit in irgendeiner Form „rassisch“, ja nicht einmal phänotypisch irgendwie klassifiziert. Bei der „Übermensch/Wille zur Macht“-Konstruktion geht es um eine Höherentwicklung, die Härte gegen sich selbst verlangt, nicht gegen andere! Der Übermensch ist kein Herrenmensch. Es gibt andere Äußerungen Nietzsches, die viel dubioser sind.
Und bittschön: Nietzsche wandte sich gegen den Antisemitismus, als ein Richard Wagner diesen noch zur vaterländischen Tugend erhob. Die Übermensch-Idee kreist um Formen von Unabhängigkeit; es gibt dann im Werk verstreut Spuren, die in besagte dubiose Richtungen führen. Die Crux ist aber einseitige Exegese, denn wie Sie sehen, kann man auch einen katholisch Geprägten als den vehementesten Kritiker der katholischen Kirche erleben; ebenso lassen sich all diese Belege für eine inhärente Verantwortung Nietzsches mit Nietzsche selbst widerlegen.
Wenn Sie zum Beispiel jene Reflektionen über das Mitleid lesen, wo Nietzsche gerade im zur Schau gestellten Unglück, im „Durst nach Mitleid“ einen „Selbstgenuss“ aufspürt, schreibt er: es (das Mitleiderregenwollen) „zeigt den Menschen in der ganzen Rücksichtslosigkeit seines eigensten lieben Selbst“. Das mag manchem als ein unbotmäßiger Ort erscheinen, diese Rücksichtslosigkeit aufzuspüren, jedoch: klingt das wie eine Passage, die generell, auch an anderen Orten, dieser „Rücksichtslosigkeit des eigensten lieben Selbst“ positiv gegenübersteht? Nein, man kommt nicht weit damit, den „Übermensch“ zum rücksichtslosen Egomanen zu stempeln. Nietzsche will „Mitfreude“, nicht „Mitleid“, weil er Lebensbejahung will, nicht Leidvermehrung.
Und hier redet Nietzsche direkt mit Hitler:
„Das Böse hat immer den großen Effekt für sich gehabt! Und die Natur ist böse! Seien wir also natürlich! – so schließen im geheimen die großen Effekthascher der Menschheit, welche man gar zu oft unter die großen Menschen gerechnet hat.“