[Geschrieben in die Kommentarsektion auf Antirationalistischer Block zum Artikel >Interview Literatur-Feder Magazin< im April / Mai 2012.]
Jörn Bünning:
„Zu dem, was uns als Antwort vorgelegt wird, keine neue Fragen finden, das ist der eigentliche Elfenbeinturm.“
Dabei stellt sich mir zuweilen die Frage, ob wir angesichts der Fülle gegenwärtiger Antworten bereits übersättigt in die Tiefkühlhallen des Geistes geraten sind.
Das „Aufladen mit Bedeutungen“ ist unseres Geistes liebste Passion, magisches Denken, sein stärkstes Mittel gegen Sinnverlust. Um die Magie des Rationalen zu entwickeln, bedarf es feiner Künstlerhände. Die Kindheit, als eine Zeit, in der das Wünschen noch geholfen hat, feiert ihre Auferstehung in der Liebe. Allein sie hat Bedeutung. Kein Wunder also, dass Aljoscha nicht daran vorbei kommt.
Christian Erdmann:
Thanks JB, in Heinrich Manns „Professor Unrat“ gibt es irgendwo den Satz: Wissenschaft und Kunst kommen allemal aus demselben Käsegeschäft. Tun sie nämlich. :) Geschichtenerzähler at work, nur daß Wissenschaftler leugnen, daß sie storyteller sind, selbst wenn sie wissen, daß, sagen wir, auch die Physik bestenfalls einen minimalen Ausschnitt erklärt, und immer noch nur so, wie eben für Menschen die Physik etwas erklären kann. Der Mann, der auf dem Weg zu einer Lesung aus seinem Buch „Es gibt keinen Weg, nur Gehen“ von einem Auto überfahren wurde, meinte mal, Wissenschaftler gebrauchen das Wort „wissenschaftlich“ exakt so wie afrikanische Medizinmänner einen Fetisch.
Mit jeder neuen Antwort 10 neue Fragen = wir werden immer dümmer, je mehr wir wissen. Wir werden natürlich auch immer dümmer, indem wir immer dümmer werden, klar. :) Wenn man z.B. dummerweise beim Zappen den Auftritt einer Gesangscombo namens Wise Guys auf dem Kirchentag gesehen hat, wird einem schlagartig klar: dies ist die flachköpfigste, gedankenloseste, idiotischste, albernste Phase des Christentums ever. Und ich denke mir, das muß ein Christ genauso sehen wie der Antichrist, aber warum sieht das niemand außer mir? :)
Bei mir überwiegen also eindeutig noch die Fragen, in einer Welt, in der Unerschrockene wie Du in Lyrikthreads an die Hüter der „sprachlichen Richtigkeit“ Sätze richten müssen wie: Poesie unterliegt nicht den üblichen semantischen Grenzen des Sprachgebrauches. Ich hätte mich, wäre ich noch da, mit einem geröchelten „Nichts lärmt hier so dissonant wie Ihre Scheinbescheidenheit!“ selbst entleibt.
And love? Will tear us apart, again.
Jörn Bünning:
Love? Will tear us apart to bring us together. :)
Wie wir das menschliche Streben in Wollen und Können unterscheiden, so lässt sich wohl auch die Dummheit von der Unwissenheit trennen; letztere ist unserem Unvermögen geschuldet, nicht aber unserem Unwillen.
Bleiben wir zwar stets im selben Käseladen, so versucht sich die Wissenschaft in einer systematischen Erweiterung der Unwissenheit; was ohne Kreativität so unmöglich ist wie die Schriftstellerei oder jede andere künstlerische Betätigung. Letztlich geht es nie ohne Kreativität, was nur von Menschen geleugnet wird, die sich zeitlebens nicht von den Bürgersteigen herunter getraut haben.
Aber es gibt, wie Du längst weißt, Leben jenseits der Bordsteinkanten und Du kannst stolz auf Dich sein, wenn Deine Neugier die Angst besiegen konnte. Allerdings wirst Du auch nach vielen gescheiterten Mühen feststellen müssen, dass Du selbst die Opfergabe auf dem Altar Deiner Werke bist.
„Hochwürden, ich habe meinen Glauben verloren.“
„Das ist keine Schande mein Sohn – auch ich habe lange mit mir gerungen, bis ich zu Gott gefunden habe.“
„Gott? Ich rede von den Menschen.“
Paganini’s:
Aber „gescheiterte Mühen“ sind auch eine Frage der Definition. Und Hingabe ist kein Synonym für Selbst-Opferung. Manchmal ganz im Gegenteil!
Christian Erdmann:
Ich will jetzt nicht nochmal Zizek bemühen, der mal sagte, daß jeder Erfolg im Grunde aus einem Scheitern entsteht. Will mich auch nicht daran erinnern, daß ein guter Freund einmal vor einer kleinen Gallerie von Porträts in meinem Zimmer – unter ihnen Rimbaud – bemerkte, eigentlich hätte ich da Bilder von Gescheiterten an der Wand. Ich bin immun gegen die Behauptung, daß Rimbaud oder Lautréamont, der mit 24 verhungert ist, „Gescheiterte“ sind, jede Zeile von ihnen ist der Gegenbeweis.
Gewiß kann man fragen, was konnten sie sich dafür kaufen, warum diese Opferung auf dem Altar ihrer Werke? Kann nur sagen, was die Dame sagt: diese Art von Hingabe ist keine Selbst-Opferung, sie ist Selbst-Schöpfung.
Fand übrigens erschütternd, wie zuletzt in der Debatte ums Urheberrecht auf SPON erneut eine beträchtliche Reihe von (insert nietzscheanischen Unterton here) Deutschen die Gelegenheit ergriff, künstlerisches Schaffen überhaupt zu diskreditieren, Hintergedanke jetzt offenbar: wozu überhaupt groß Geld ausgeben dafür. Eine Gegenstimme: „Ist schon seltsam, wir sind nicht systemrelevant – aber alle Welt will unseren Mist für lau oder ganz umsonst?“ Ja, seltsam. Eine zweite Gegenstimme: „Die künstlerische Leistung soll allgemein klein geredet werden, damit man die Enteignung der Kreativen besser vor sich und anderen rechtfertigen kann. Denn klar ist, was nichts wert ist, das soll auch nichts kosten und das muss man auch nicht schützen.“
Natürlich gibt es Unmengen von Schrott, der wertlos und zynisch (zynisch unter dem Aspekt: wie und warum produziert) langsam auch den Willen zu lähmen scheint, dem Großartigen auf den Fersen zu bleiben. Das immer noch zuhauf existiert und immer noch genau so entsteht, wie es immer entstanden ist. Nick Cave 1990, nachdem „And The Ass Saw The Angel“ erschienen war: wenn man ein Buch geschrieben hat, ändert sich alles. „Man weiß dann nämlich, wie alleine man sein muß, wenn man es schreibt, wieviel Konzentration man aufbringen muß, und welche Massen an Vertrauen in und Überzeugung von sich man haben, welche harte Arbeit man bewältigen muß. Und all das zu wissen, bevor man anfängt, macht es wirklich schwierig, ein zweites zu beginnen. Es ist kein einfacher Job.“
Was wissen wir schon von den Glücksmomenten eines Trakl. Trakl hauste, wie Walter Muschg sagte, in auswegloser Verdammnis. Er ist ja beileibe nicht der einzige in jener Zeit, für den „Verfall“ ein Beherrschendes ist, aber er scheint es als seinen Auftrag, seine Mission empfunden zu haben, einzudringen in das Wesen des Verfalls, sich dem Verfall gleichzumachen.
Aber es gibt einen Brief von ihm an seine Schwester Minna (Mia), in dem es heißt:
„… Vorbei! Heute ist diese Vision der Wirklichkeit wieder in nichts versunken, ferne sind mir die Dinge, ferner noch ihre Stimme, und ich lausche, ganz beseeltes Ohr, wieder auf die Melodien, die in mir sind, und mein beschwingtes Auge träumt wieder seine Bilder, die schöner sind als alle Wirklichkeit! Ich bin bei mir, bin meine Welt! Meine ganze schöne Welt, voll unendlichen Wohllauts.“
Das sind Beschreibungen von Glück.
Von einem Dichter, der unabdingbar zu sich, seinem Schicksal, seiner eigenen Ausdruckswelt findet.
Bob Dylan in „No Direction Home“: „Happy? Anybody can be happy. What’s the purpose of that?“
Jörn Bünning::
Aber so hatte ich es ja auch gemeint, meine Dame, mein Herr! Nicht als Warnung, vielmehr als Verheißung.
Selbstopferung bedeutet (mir) nicht Zer-Störung des Selbst zugunsten einer vor-gesetzten Aufgabe, sondern bedingungslose Opferung an (!) ein Selbst.
Happiness ist eine Eselsmöhre, als Künstler wirst Du den Stolz und den Schmerz kosten können.

One reply on “Selbst-Opferung / Selbst-Schöpfung”
Rimbaud! Chapeau bas! mehr als Sturm in seiner Muttersprache mich begeisternd, meine Jugend bereichernd und auch zerstörend ALORS
Hingabe ist Empfangen ;-) Vice versa
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