
Gustav Meyrink, Der Golem. Selten einen Roman gelesen, der mit jedem Satz derart unterschwellige Bedrohung aus-spukt; im gespenstischen Dunkel des alten, versinkenden Prag mischen sich Realität, Traum und Phantasie, die zwischen unheilschwangerem Im- und atemberaubten Expressionismus schillernde Sprache produziert eine ungemein sinnlich wirkende Erfahrung. Man verspürt den seltsamen, unwiderstehlichen Wunsch, sich tatsächlich in diesem Labyrinth der Schatten und unzugänglichen Räume aufhalten zu können, in dem alles unübersichtlich voll ist mit Dingen, die ständig mit Eigenleben drohen, und aus jedem Winkel eine faszinierend rätselhafte Gestalt ihr dunkles Geheimnis mitbringt. Denn schließlich ist das Ganze wie einer jener wilden schaurigen Träume, bei denen man sich nachher trotzdem wünscht, man könnte ihn mittels ans Hirn angeschlossenem USB-Stick reproduzieren. Psychoreise ins Ich und zugleich eine, die den Ausweg aus dem eigenen Kopf sucht, eine überraschend faszinierende, und eine vor zuviel Schuhu immer von der Sprache gerettete.
SPIEGEL ONLINE Forum
„Literatur – Was lohnt es noch, zu lesen?“
10/2007
Kommentarsektion Antirationalistischer Block:
27.04.2011
Monika Cate:
Athanasius Pernath fand den Weg hinein in den Raum ohne Eingang.
„Das Einzige, was das Finden wert ist, ist nur das innerste ‚Ich‘, jenes Ich, das wir sind und immer waren, ohne es gewußt zu haben.“
Gustav Meyrink in einem Brief vom 30.6.1917.
On the Road to the Golem.
Thanks, Dear, for posting this today.
Antirationalistischer Block / Christian Erdmann:
„Kutscher, fahren Sie mich, so rasch Sie können, in die Hahnpaßgasse 7! – Haben Sie mich verstanden?: – Hahnpaßgasse 7.“
Monika Cate:
„In die Hahnpaßgassä kann me doch nicht fahrrähn!“
02.10.2013
Antirationalistischer Block / Christian Erdmann:
Bitte um Wegbeschreibung zu kleinen verrückten Ladenbesitzern. Lesen Sie auf der Hintertreppe des Wiener Altbaus unter Ihrem schwarzen BBC-Schirm „Der Golem“ von Gustav Meyrink, ich flehe Sie an.
16.10.2013
Catherine:
Nun also, einem Flehen hab ich nichts mehr entgegenzusetzen. Wie gut, dass eine Anleitung dabei war, denn den Golem muss man ja zwingend in einem Stiegenhaus unter einem schwarzen Schirm lesen! Der Anfang fiel mir nicht leicht, etwas sperrig zunächst. Schob sich außerdem das neue Werk der Frau Pessl dazwischen, welches nicht mit ihrem Erstling mithält. Nun aber ganz beim Golem, derzeit kurz hinter dem Besuch der Taverne. 20% des Ganzen, aber bis hierher schon in Bildern schwelgend, knarzenden Holzstufen lauschend und angefüllt mit dem Wunsch nach dem Eliminieren sämtlichen Plastiks. Auch Plastikmenschen, bitte.
Wegbeschreibung zu kleinen verrückten Ladenbesitzern: Auf dem Weg vom Märchenland ins Land der Riesen mit der Bummelbahn auf freier Strecke kurz nothalten und aussteigen. Einen Pilz pflücken, diesen umdrehen und sich draufsetzen. Sie sinken mit dem Pilz zusammen ins Unterirdische. Dort fragen Sie einfach die gelbe Maus nach dem Weg ins Land der Klugen. Die Klugen werden Ihnen sagen, wo die Ladenbesitzer wohnen, Sie dürfen aber nur in Reimen sprechen und auf keinen Fall lachen! ;)
Antirationalistischer Block / Christian Erdmann:
Ah! Mittler zwischen Ihnen und Meyrinks Golem gewesen, wie schön. Unbeschrobbar, das Buch, nicht wahr? Erst undurchdringlich, dann nicht wieder verlaßbar. Komplex, obskur, Psychodrama, Suspense-Schocker, unglaublich atmosphärisch, so übermächtig darin, in seine Schauplätze zu ziehen, und zugleich die Orientierung raubend. Ich liebe diese Sprache, diesen präzis-phantastischen Expressionismus, jemand schrieb mal, Meyrinks Prosa fühle sich an, als müsse sie gelesen werden zu einer Polka auf verrostetem Metall, zerfetztem Akkordeon und ramponierten Violinen, nun gut, aber sie kreist um den verborgenen Schatz, den man in Träumen sucht.
Pernath, Charousek, Hillel, Mirjam, Angelina, irgendwann gingen sie mir alle so unter die Haut, daß ich selbst in die Existenz eines Gemmenschneiders abdriften dürfte, one day. Wie dumm dieser Anwurf: klischeehafte Darstellung der Frauen, jede nur die Folie eines bestimmten Frauentyps, keine Persönlichkeit. Sie sind love dreams, Seelenschwängerung, Träume in einem Traum, Nachdenken über Christa T. next door. Und dann natürlich: Prag, Prag nicht als Stadt, sondern als lauerndes Etwas in der Dunkelheit humanoid organischer Häuser, als Schauplatz seltsamer Traum-Muster und magischer Transformation, Geheimnisse beherbergend, die mit ihrem Eigenleben Mystiker anziehen. Unheimliche, fragmentierte Wirklichkeit, bis das Phantastische als Wirklichkeit erscheint. Zugang zu Räumen ohne Zugang. Reise ins eigene Ich.
Oh, der verrückte Ladenbesitzer ist ja leicht zu finden. Danke. :)
Einen Plastikmenschen noch, bevor Sie mit dem Eliminieren fortfahren. Die Kinks im Travelling Music Hall-Truppe-Modus. Psychobritinnen klicken hier.
21.10.2013
Catherine:
Ich danke sehr für den „Golem“. Ahnte ja nicht, was für eine versteckte, verzauberte Welt mich da erwartet. Und dann liefern Sie mir frei Haus auch noch die Bilder dazu! Als wäre ich versetzt in eine Art Traum und Kinderspiel, „Verstecken“ und Puppenhaus und Possentheater und Traumgebilde zugleich. Ich möchte auch Gemmenschneider werden! Verbrachte vorhin eine herrliche Stunde mit dem Reisen durch das Ihrige Prag. Dieses Unterirdische ist ja überirdisch! Laboratorium! Elixier der ewigen Jugend! Stein der Weisen! Zugänge von der Burg und vom Altstädter Ring! Ich bin sprachlosbegeistertentzückt! Muss dort hin.
Oh, nein, die Frauen müssen doch hier so sein. Erwartete hier denn jemand einen feministischen Ansatz? Unwirklich! Nachdenken überhaupt über jemanden, über die Nachbarn. Alles mit allem und jeder mit jedem verbunden. Sogar die Häuser durch geheime Gänge. Der Raum ohne Zugang und dann ist jeder dort selbst der Golem, unverständlich für die anderen. So schruben Sie so passend „komplett undurchsichtige Wohn- und Eigentumsverhältnisse“. Es raschelt immer im Nebenzimmer.
22.10.2013
Antirationalistischer Block / Christian Erdmann:
Gibt nur eins dann: schicksalbedingt-versehentlichen Huttausch im Veitsdom anstreben. :) Der Mann, der Athanasius Pernath wird, findet ja am Ende den Namen Athanasius Pernath in goldenen Buchstaben auf dem weißen Seidenfutter des Hutes, und es gibt eine Variation der Rabbi Löw-Golemsage, in der die Aktivierung des Golem nicht durch den Zettel mit dem Schem, sondern durch ein Siegel auf seiner Stirn möglich ist. „Dann ist jeder dort selbst der Golem“ – wahrscheinlich steht der Name Athanasius Pernath genau so im Seidenfutter, daß er wie ein Siegel auf der Stirn ist, wenn man den Hut aufsetzt. :) Auf daß sich etwas kristallisiert in einem Hirn, das einen Prozeß kreiert, re-kreiert… „dort“, wo auch immer, im Labyrinth des Unbewußten, in der Hypnagogie, in den Mysterien von Prag, in der Existenz eines Gemmenschneiders. Das archaische Prag der Alchemisten wiederzufinden – überirdisches Unterirdisches indeed.
Könnte Ihnen noch Meyrinks „Walpurgisnacht“ empfehlen, auch furios, nahm mich aber nicht so schrecklichschön mit wie der „Golem“. Zwar lehrt die Walpurgisnacht, daß Zeit eine diabolische Komödie ist, und der Herr Kaiserliche Leibarzt sitzt gedankenverloren bei einer Flasche Melniker, und da ist Polyxena und „In jenem Moment war die Kluft zwischen Traum und Wirklichkeit für ihn überbrückt; es war nur eine Sekunde gewesen, denn in der nächsten wußte er, daß er ein lebendes junges Mädchen vor sich sah, aber der kurze Augenblick hatte genügt, den geheimnisvollen Hebeln des Schicksals den Angriffspunkt zu schaffen, den es braucht, um das Leben eines Menschen für immer aus der vorgezeichneten Bahn wägender Verstandsschlüsse in die grenzenlosen Welten zu schleudern, in denen der Glaube Berge zu versetzen vermag“, und außerdem bemerkt Meyrink hier: „Es gibt keine Stadt der Welt, der man so gern den Rücken kehren möchte, wenn man in ihr wohnt, wie Prag; aber auch keine, nach der man sich so zurücksehnt, kaum, daß man sie verlassen hat“.
Aber der „Golem“ ist wie das Traumgebilde aus hundert eigenen Träumen, übereinandergelegt und von Meyrinks virtuoser, verrückter Sprache dechiffriert. Eine Frau von mystischer Schönheit mit ihrer Nähe zum Wunder, The High Priestess, und „Das Rauschen eines seidenen Kleides, eine zarte, schmale Damenhand hatte meinen Arm berührt“, The Empress, stehen sie nebeneinander, hat man die Pforte zu diesem Reich. Und zu einer anderen Art von Mathematics of Chaos, da, wo man das Unsuchbare sucht und die Bilder Blindheit von den Augen wischen. Killing Joke haben intensive Verbindungen nach Prag, Geordie, der Gitarrist, lebt noch immer dort, glaube ich. Ja, es raschelt in den Nebenzimmern, von denen man eben noch nicht wußte, daß sie da sind.