Aljoscha der Idiot / Christian Erdmann:
Gerade sah ich ein Plakat für den Workshop: „Eine Heimat im Körper finden“. Fast hätte ich darunterschreiben wollen: Ja, aber in welchem? Huah. Mein ewiger Favorit unter den saublöden, jedoch unvergeßlichen Honk-Schmierereien: Plakat für „Begegnung mit Goethe“, ergänzt mit ziselierter Kuli-Schrift: „und seinem Diddel“. Stattdessen empfehle ich „Manon Lescaut“ von Abbé Prévost. Ein Standardwerk, eine Bibel geradezu für den Communication Breakdown zwischen Hirn und Herz. L’amour fou zu Beginn des 18. Jahrhunderts. Nicht Ratio, nicht Theologie vermögen hier etwas gegen die wilde Leidenschaft, die einem bezaubernden Mädchen gilt, das sich doch immer wieder entzieht, und die nachgeschobenen Erklärungen des Prévost bleiben so wirkungslos wie das Ende des Romans wirkungsvoll, in dem nämlich der vermeintliche Sieg der Tugend mit dem Tode bestraft wird.
„Wer nicht wie Des Grieux liebt, das heißt gegebenenfalls bis zum Verbrechen, bis zur Schande, kann nicht sagen, daß er liebe.“ (Dumas, Sohn). So ist das: wahrhaft Liebende sind Renegaten, Abtrünnige, Ketzer. All das durchzieht diesen Roman, und man nimmt hin und leidet mit Des Grieux daran, daß und wie Manon immer wieder entgleitet in die Lust an Luxus und Annehmlichkeit. Er sieht sein Unglück voraus, es kümmert ihn nicht, er weiß um die Unbedingtheit, mit der sie beide ihrem Schicksal verfallen sind, er will das Geheimnis dieser Frau, den Zauber, und wir wollen es mit ihm: welche Kunst Prévosts, daß Manon nicht eine Sekunde lang unsere Zuneigung verliert. Jeder, der dabei „Hinfort, Schlampe“ denkt, kriegt von Dumas, Sohn eins auf den Kopf.
ray05:
„Wer nicht wie Des Grieux liebt, das heißt gegebenenfalls bis zum Verbrechen, bis zur Schande, kann nicht sagen, daß er liebe.“ (Dumas, Sohn).
Schönes Thema. Die romantische Liebe, Unterkategorie l’amour fou. Halten Sie eine derartige menschliche Verfasstheit in unserer Epoche noch für vermittel- oder verstehbar? Ich kenne Paare, die heiraten nach acht oder zwölf Jahren gegenseitigen Vergewisserns und Prüfens, nur um schließlich festzustellen, dass sie „eigentlich unabhängig sein wollten.“
So ist das: wahrhaft Liebende sind Renegaten, Abtrünnige, Ketzer.
Aber nein, Herr Erdmann. Sind wahrhaft Liebende nicht eher Idioten?
Er sieht sein Unglück voraus, es kümmert ihn nicht, er weiß um die Unbedingtheit, mit der sie beide ihrem Schicksal verfallen sind, …
Yep, so ist das im Eheleben. Es geht rauf und runter. Schlimmer ist nur ohne einander. :)
Christian Erdmann:
Schönes Thema. Die romantische Liebe, Unterkategorie l’amour fou. Halten Sie eine derartige menschliche Verfasstheit in unserer Epoche noch für vermittel- oder verstehbar?
Prévost ist mir mehr Zeitgenosse als viele meiner Zeitgenossen, soviel kann ich sagen. Ich sehe einfach keinen großen Unterschied zwischen „Manon Lescaut“ und einem Song wie „Something I Can Never Have“ von Nine Inch Nails. Ich sehe dazwischen keinen Bruch, der bedeuten würde, das eine ist veraltet, das andere zeitgemäß. Ich verstehe Ihren Punkt, aber ich ignoriere ihn. Ich bestehe darauf, daß man das Unendliche durchquert, wenn man mit einer anderen Seele in Berührung kommt. „Die Lust an der perfekten Krankheit, Liebeskrankheit, schweigt vor dem Rettenden mit schauriger Verstocktheit und bedeutet der Erlösung verheißenden Arznei: DU wirst zugrunde gehen an MIR.“
Aber nein, Herr Erdmann. Sind wahrhaft Liebende nicht eher Idioten?
Jedenfalls ist Idiotentum männliche conditio, um in eine solche Liebe einzutreten. Exzessives Verlangen nach Hingabe an etwas Größeres als ein Gespräch unter Männern muß schon sein. :)
ray05:
Jedenfalls ist Idiotentum männliche conditio, um in eine solche Liebe einzutreten. Exzessives Verlangen nach Hingabe an etwas Größeres als ein Gespräch unter Männern muß schon sein. :)
Mynheer Peeperkorn: Der Mensch ist göttlich, sofern er fühlt. … Gott schuf ihn, um durch ihn zu fühlen. Der Mensch ist nichts als das Organ, durch das Gott seine Hochzeit mit dem erweckten und berauschten Leben vollzieht. Versagt er im Gefühl, so bricht Gottesschande herein, … eine kosmische Katastrophe, …
Es lohnt sich unbedingt, den „Zauberberg“ mal wieder zu lesen um dort die alten Freunde zu treffen: Castorp, Naphta, Peeperkorn, Settembrini, Clawdia Chauchat, Hofrat Behrens… Ein ewiger Quell, das Buch.
KLMO:
„Wer nicht wie Des Grieux liebt…“ – Warum immer alles so exzessiv, was schon pathologische Züge annimmt?! Kann mich vage an eine Novelle von Maupassant erinnern, schon in der Jugendzeit gelesen. Dass ich mich an diese Novelle noch erinnere, liegt wohl daran, dass sie mich damals sehr berührt hat.
Ein französischer Offizier sieht bei einer Parade in Paris eine junge Adlige und beide verlieben sich. Der Franzose nennt dies „coup de foudre“. Da eine eheliche Verbindung vom Stand her nicht möglich ist, brennen beide durch. Keiner weiß trotz intensiver Suche, wo sie sich aufhalten, sie bleiben für immer verschwunden.
Da dieser Fall in der Öffentlichkeit auch emotionalen Widerhall fand, erinnerte sich ein Mann an diesen Fall noch nach Jahrzehnten, als er einem Mann und einer Frau in sehr bescheidenen Verhältnissen in einer wilden Bergwelt von Korsika begegnet. Die Leidenschaft zwischen den beiden ist schon lange erloschen, aber sie leben beide in Eintracht und innerer Verbundenheit, trotz ihres aufgezwungenen bescheidenen Daseins.
Das ist grob das Gegenstück zu Manon Lescaut.
Bei beiden ist Leidenschaft im Spiel. Nur sind die Wege grundverschieden. Da das Exzessive, begleitet von einem destruktiven Charakter und auf der anderen Seite eine Liebe, die sich trägt.
Christian Erdmann:
Warum immer alles so exzessiv, was schon pathologische Züge annimmt?!
Exzess kommt von excedere, was nur „heraustreten“, „über etwas hinausgehen“ bedeutet. Und zwar aus sich selbst. SIE ist der Permanentmagnet der Transformation, SIE verlangt den Sprung über die Selbstsucht hinaus, SIE geleitet dich ins Mehr-als-ich. Liebe schlürft dich aus der Schale des Dir-Innewohnens, darum geht es. Erst, wenn ein Egoismus dem Ego des geliebten Wesens gilt, ist die „Liebe, die sich trägt“, das lange gemeinsame Werk überhaupt möglich. „Alles andere ist Dreck“, wie es irgendwo bei RD Brinkmann heißt. Soweit ist „Exzess“ gemeint, diese Bedingungslosigkeit des Verlangens, aus zwei Wesen EIN Wesen mit zwei unabhängig operierenden Zentren zu machen.
ray05:
SIE geleitet dich ins Mehr-als-ich. Liebe schlürft dich aus der Schale des Dir-Innewohnens, darum geht es.
Ja, es geht um Heimat und Gerettetwerden, da braucht man sich nix vorzumachen.
KLMO:
Ich antworte Ihnen mal etwas provokatorisch mit Ortega y Gasset: „Die echte Liebe ist nichts anderes als das Bestreben, zwei Einsamkeiten miteinander zu vertauschen.“ Ergo, und hier wiederhole ich die Worte eines Priors, „im tiefsten Herzen bleiben und sind Sie immer allein“.
Ich und Du lassen sich nicht verschmelzen in EIN Wesen, es ist und bleibt eine „schöne Illusion“. Ausnahme der biologische Akt als ein Momentum (nur so ist der Spruch zu verstehen: Alle Lebewesen sind nach dem Koitus traurig).
Exzessiv sein ist der Versuch, aus dem Kerker des Ich zu entfliehen. Psychiater wissen zu berichten, dass dies auf die Dauer ein sinnloses Unterfangen ist. Wer es trotzdem nicht einsehen will, ist in der Regel deren Patient.
Christian Erdmann:
„Wir verlangen nicht nach einer Sache, weil wir sie zuvor gesehen haben, sondern umgekehrt: weil wir schon vorher im tiefsten diese Art von Dingen vorgezogen haben, gehen wir mit unseren Sinnen in der Welt nach ihnen auf die Suche.“ – Auch Ortega y Gasset. Und das geht in die Richtung: „Unbewußtes erkennt Unbewußtes irrtumslos“. Wissen, daß man, bevor man auch nur ein Wort mit ihm gewechselt hat, zugleich alles von diesem Menschen weiß und nichts.
Von „romantischer“ Liebe habe ich übrigens nie gesprochen, den Begriff hat ray eingeführt. Von Exzessivität „auf Dauer“ auch nicht. Aber der Wille dazu, die Ichgrenzen zu überschreiten, muß beibehalten werden, sonst geht Liebe schlicht den Bach runter, sonst schleicht sich jene Nachlässigkeit ein, durch die am Ende nichts mehr bleibt als die Behauptung von Liebe. Liebe ist ein Werk, das nie fertig ist. Ich habe nie einen klügeren Satz über die Liebe gehört: Liebe ist das, was zwischen zwei Menschen geschieht, die sich lieben.
„Immer allein“, hm. Ich kann innerhalb einer Minute das Gefühl vollständigen Alleinseins und vollständigen Aufgehobenseins erleben, und daran ist nichts Pathologisches. Verschmelzung auf Koitus zu reduzieren wäre genauso exzessiv einseitig wie: nach dem Koitus ist vor dem Koitus (für Cramps-Liebhaber Freimann: „Lured by beauty, destroyed by sex“ – you know).
ray05:
„Wir verlangen nicht nach einer Sache, weil wir sie zuvor gesehen haben, sondern umgekehrt: weil wir schon vorher im tiefsten diese Art von Dingen vorgezogen haben, gehen wir mit unseren Sinnen in der Welt nach ihnen auf die Suche.“
Klassisch romantische Vorstellung von der Sinnsuche. Novalis‘ Heinrich von Ofterdingen macht sich auf die Suche nach der Blauen Blume, von der ihm ein Fremder erzählte.
Wissen, daß man, bevor man auch nur ein Wort mit ihm gewechselt hat, zugleich alles von diesem Menschen weiß und nichts.
Dem Rationalisten und Aufklärer käme dieses Wissen fraglos dubios vor. Für den Romantiker dagegen ist dieses erste eine Wort von zentraler Bedeutung: „Die Welt hebt an zu singen, triffst Du nur das Zauberwort.“
Liebe ist ein Werk, das nie fertig ist.
Der Weg ist das Ziel. Wie geschaffen für den Subjektivismus des frei navigierenden romantischen Genies.
Christian Erdmann:
Klassisch romantische Vorstellung von der Sinnsuche. Novalis‘ Heinrich von Ofterdingen macht sich auf die Suche nach der Blauen Blume, von der ihm ein Fremder erzählte.
Und Novalis selbst: versucht die „unsichtbare Welt“, an deren Existenz er mit Gewißheit glaubt, wegen der fortbestehenden inneren Verbindung mit der verstorbenen Braut, mit exakter Wissenschaft anzugehen. Großartiger Ansatz! Man nennt sich nicht umsonst Novalis, Neulandbesteller. Es entsteht eine Enzyklopädie aus wissenschaftlich exakter Verworrenheit, eine Physik der Erotik (mehr im Sinne Platons als im Sinne der Cramps), eine Vermessung des Kosmos, der durch die qualitative Potenzierung entsteht, als die Novalis eine romantisierte Welt versteht. Es entsteht ein Brouillon von Analogiebildungen, weil er das Muster sucht, nach dem alles geschieht. Der magische Idealismus: daran glauben, daß dieses Muster existiert, zugleich aber ständig von der Erotik unseres Strebens verändert wird. So wird Bestimmung „gemacht“.
Friedrich Schlegel: „Hardenberg ist dran, die Religion und die Physik durcheinander zu kneten. Das wird ein interessantes Rührei werden!“ Schlegel übersah aber womöglich, daß für Novalis Religion vor allem eins bedeutete: zu Sophie, hatte er gesagt, habe er „Religion, nicht Liebe“.
Dem Rationalisten und Aufklärer käme dieses Wissen fraglos dubios vor. Für den Romantiker dagegen ist dieses erste eine Wort von zentraler Bedeutung: „Die Welt hebt an zu singen, triffst Du nur das Zauberwort.“
Der Moment, in dem die Korridore, die wir in unseren Marienbads durchwandern, sich treffen. Man kann wählen, ob der Korridor die Richtung vorgibt, oder ob man die Korridore in Richtungen zu bringen weiß. Das ist das Aufregende an Marienbad: auf die Art der Bewegung kommt es an.
ray05:
Marienbad also. Als Sie mir behende davoneilten, dachte ich mir: Na, vorne an der Weggabelung hole ich ihn wieder ein. Doch außer Wladimir und Estragon und dem Kratzfuß, der einen Wegweiser halb verdeckte, war dort niemand zu sehen. Bergauf ging’s nach „Sil“, bergab nach „enbad“, las ich an der Kratzfußgestalt vorbei.
Also fragte ich: Welchen Weg hat er genommen?
Da runter, antwortete Kratzfuß und deutete Richtung Flachland. Auf halber Strecke findest du einen leeren Benzinkanister, dann kommst du an einem brennendem Haus vorbei. Wenn er versucht, den Hund zu retten, holst du ihn noch ein.
Ich entschied mich für die entgegengesetzte Richtung. Wie du willst, meinte Kratzfuß, der schon damit begonnen hatte, den Wegweiser abzubauen. Auf halber Strecke, kurz bevor es steil bergauf geht, siehst du einen Moccatrinker. Beachte ihn nicht und halte stattdessen weiter oben Ausschau nach dem Wanderer und dem Skifahrer. Gute Reise.
Nach ein paar Schritten hörte ich Estragon in meinem Rücken rufen: Sie sind also auch nicht Godot? Ich sah mich um. Kratzfuß hatte die Wegweiser jetzt sorgfältig verpackt.
Christian Erdmann:
WELL I STAND UP NEXT TO A MOUNTAIN AND I CHOP IT DOWN WITH THE EDGE OF MY HAND!
An der Weggabelung werden für gewöhnlich schwarze Küken hochgeworfen, das haben Sie vergessen. Aber sehr schön vergessen.
Von den Kurtisanen am Kreuzweg spricht Flaubert in der „Versuchung des heiligen Antonius“.
Beeindruckend: die frühe Erzählung „November“, sozusagen Flauberts „Werther“, halb verschmäht, halb vom Autor geliebt wie keine andere, erst posthum veröffentlicht, eine Geschichte, von der Flaubert selbst mal seiner Louise schrieb: wenn du bei „November“ gut zugehört hast, mußt du tausend unsagbare Dinge erraten haben, die dir erklären, was ich bin. – Die Prostituierte als „ideale“ Verkörperung des Unerreichbaren, Marie als Verkörperung des ewig Ersehnten, das sich, o urfranzösisches Ideal, selbst nach etwas sehnt. Nichts für die Nüchternen. Einfach eine Reise durch den Hexenkessel der erotischen Phantasmen zwischen Traum und Realität, wofür der junge Flaubert eine Sprache ziseliert, deren Schönheit ihn zugleich als Psychologen auf Zickzackkurs ausweist, das Abnorme, das es nicht „wie alle Welt machen“ will, hüllt sich ins Negligé preziöser Erhabenheit und endet doch im: „Ich habe sie nie wiedergesehen.“
Aber wie auf Marcuses Grabstein steht: „Weitermachen“.
[SPIEGEL ONLINE Forum „Literatur – Was lohnt es noch, zu lesen?“, August 2008]
Kommentarsektion Antirationalistischer Block
08.04.2012
ray05:
Hab November damals gelesen. Es war doch Flaubert, der sagte: Ich bin ein Mystiker und ich glaube an nichts. Oder? Kann auch Cioran gewesen sein, oder beide. Seltsam hier zu lesen, dass ich Sie irgendwann mal siezte. :)
09.04.2012
Christian Erdmann:
Keine Ahnung, ob Cioran den Satz nur als Flaubert-Satz ausgibt, aber er gefällt mir außerordentlich.
Schön, das zu erfahren (November). Als ich so Mitte 20 war, führte ich zwischen den Pastelltönen der insel taschenbuch-Umschläge eine Existenz, die ich nur zum Luftholen unterbrach, Kameliendame, Manon Lescaut, Niels Lyhne, November, Lucinde, Hyperion, whatnot, Zeug, das mir auch beibrachte, kreuzbrav vor dem mit erhobenem Zeigefinger dastehenden Realitätsprinzip zu erscheinen, während im Verborgenen dieses Wesen namens Aljoscha entstand. :)