![The Fool. Tarotkarte von A. E. Waite.](https://christian-erdmann.com/wp-content/uploads/2024/05/tarot-waite-the-fool.png)
Muffin Man:
Lesenswert wäre der, der nicht einfängt, was an Nichtigem kursiert, sondern Schrifttum darauf konzentriert, wohin der Mensch sich idealerweise weiterentwickeln könnte. Pech für diesen „Auserwählten“, in den Augen seiner Mitwelt nur ein Narr zu sein…
ray05:
Es geht doch um das WIE [schreibe ich] und nicht um das WAS, das wissen Sie doch; ich verstehe nicht, warum Sie den NARREN negativ konnotieren…
Muffin Man:
Ein Narr darf zwar alles sagen, er wird jedoch nichts bewirken.
Eben diese Wirkungslosigkeit ist seine Tragik.
easystreets:
Muffin Man, das stimmt so nicht. Der Narr ist eine Figur, der unentschieden in der Mitte von zu verteidigenden Burgen sich aufhält und in der Groteske sich entsprechend der Groteske verhält. Der Narr ist auch der Weise, der Wahrsager und Wahrlacher, wie Nietzsche es seinen Zarathustra sagen läßt. Eine Mittlergestalt. Bewirken? Aktiv wirken? Passiv bewirken? Durch Dasein sein. Der Schamane ist eben so eine Figur. Ein Substanzmischer und Sichäußerer. Ein Weltenwanderer, auch zwischen denen der Zeit. Ein Mahner, kein Moraliger, einer, der den Wahnsinn auf sich zieht und ihn personifiziert darstellt, so quasi ihn aus der Welt zieht, stellvertretend; ein Reinigender, ein Heilsbringer. Einer, der die Informationen aus der Vergangenheit gegenwärtig hält, indem er sie heraufholt, wieder und immer wieder. Eben keiner, der ein Ziel braucht zum Los- & Draufstürzen. Kein Totaler-Krieg-Woller. Ein Strukturaufweicher. Die Literatur ist voll davon. Nur personifiziert muß er sein, voll sein von den Substanzen, zwischen denen er nicht mehr unterscheiden kann, sie aber eint. Der Narr selbst ist nicht. Er hat keinen Körper, er ist voll und ganz in seiner Funktion. Er ist die Summe seiner Umgebung. Einer, der am 30. Januar 1933 laut lachend, Rad schlagend, weinend und schreiend Unter den Linden entlang läuft, bis er von der SA eingefangen wird – das ist ein Narr. Was soll er sein? Gott, der Allmächtige? Der mit dem Riesenschwert, der eingreifen kann und es tut? Der Zeus, der Blitze wirft? Die tiefste Anteilnahme dürfte sich im Narren personifizieren.
Christian Erdmann / Aljoscha der Idiot:
Als Revolutionär nach unten Jakob von Gunten. Dies war ein Literaturtip.
easystreets:
Ich fange mit Deinem Buch an, was die Hausaufgaben betrifft, machen wir es so. Wenn man drüber nachdenkt, über den Narren… es gibt keinen Gott, es gibt keinen Teufel und von beiden keine Menschwerdung. Nur im Narren, im duplex, personifiziert sich Beides, das Göttliche, Einende, wie das Teuflische, Teilende-Zweiende, und das zugleich und gleichermaßen. Die einzige Figur, die sich verläßt, um leer und geleert zu empfangen. „Der Offenbarung williges Gefäß“, sozusagen. Das ist die Reinform. Die Wirklichkeit ist teuflisch, göttlich und närrisch-neckend zugleich, klar, was sonst. „Was liebt, das neckt sich“ kommt ja daher.
Die Figur hat zumindest Einblicke hinter die Fassaden des Menschen… Das Besondere ist seine geistige Überlegenheit und seine Fähigkeit zur List. Seine Streiche lassen ihn den Zorn auf sich ziehen. Er hat viele Gesichter und trägt viele Namen, so wie auch Schelm oder Trickster. Er ist eine Wandlungsgestalt, auch ein Schöpferischer. Eine Doppelnatur mit notorischer Unintelligenz in seiner Kommunikation. Eine interessante Figur.
Christian Erdmann / Aljoscha der Idiot:
Sehr. Eine Ur-Trickster-Gestalt ist Hermes / Merkur, listenreicher Gott der Übergänge und der Transformation, und darum ist Hermeneutik ja auch so tricky, ständiges Springen im Dreieck, dem klassischen Dreieck der Zeichenwissenschaft. Nach Platon übernimmt Eros das hermeneuein, das Hin- und Herlaufen als universaler Mittler, als irgendwo Dazwischenseiender ist Eros ja auch Urbild des Philosophen. Sokrates mußte sterben, weil er alle am Kragen packte und rief: was meinst du eigentlich? Der Narr öffnet, was sich bereits verschlossen hat. Was der göttliche Narr u.a. spiegelt: daß Auslegung immer auch mit performance zu tun hat. Indem er das Umpolen der Wahrheitsreferenzen bis zur Karikatur treibt, macht er deutlich, wieviele vermeintliche Wahrheiten Riesen auf tönernen Füßen sind. Wie komme ich vom vorläufig Wahren ins wirklich Wahre?
Erstmal, indem ich auch die Kreativität des anderen verstehe, sein Genie, seine Irrtümer, sein Genie im Irrtum. Hermeneutik als Kreativität im Nachvollzug, und am wahrsten ist vielleicht die Interaktion selbst. Der Narr selbst tanzt ja, wie die Schöpfer des Tarot als Hommage auch an Dionysos abzubilden wußten, permanent am Abgrund. Aber er fällt nie, weil ihm der Abgrund nicht bekannt ist. Der Narr galt in fast allen Kulturen als möglicher Botschafter des Allerhöchsten.
Zu „Jakob von Gunten“: Walser schrieb so, wie er dann starb. Mit einem unverständlichen Lächeln rückwärts in den Schnee fallend. Unaufdringlich, eindringlich, rätselhaft anmutig, befremdlich und faszinierend. Jakob ist „gern unterdrückt“ und „kann nur in den untersten Regionen atmen“, aber er weiß, daß das Institut Benjamenta, wo Diener geformt werden sollen, ihn verdummt, und er läßt sich nicht verdummen. Er ist sokratischer Hineintäuscher ins Wahre: „In mir lebt eine sonderbare Energie, das Leben von Grund auf kennen zu lernen, und eine unbegreifliche Lust, Menschen und Dinge zu stacheln, daß sie sich mir offenbaren.“ Seine „Ungezogenheiten“ enthüllen ihn als Selbsterzieher, als Außensteher, dem eine Beziehung im klassischen Sinne nicht möglich ist, auch, weil er sich eigentlich ständig auf einer anderen Stufe der Realität befindet, wo u.a. kein zwanghaftes Auflösenmüssen vermeintlicher Paradoxien ihn noch interessiert. Fräulein Benjamenta führt ihn in die geheimnisvollen inneren Gemächer des Instituts, und der Gang führt auf eine winterliche Eisbahn. You can take it from there. Seine geistige Überlegenheit, seine List, seine notorische Unintelligenz in der Kommunikation, jedenfalls im Hinblick auf Verbindlichkeit: wir wissen nicht einmal, was ihm das alles wert ist, nützt, schadet. Am Ende geht er irgendwohin, Richtung Wüste. Scheint es. „Wir werden reisen. Schon gut. Mir paßt dieser Mensch, und ich frage mich nicht mehr, warum. Ich fühle, daß das Leben Wallungen verlangt, nicht Überlegungen.“ Vielleicht dachte Rimbaud das auch, als er Dichtung abbrach und scheinbar sinnlose Wanderschaft begann: „Gott geht mit den Gedankenlosen.“
Diener sind auch in Liebesdramen häufig die Trickster.
Das Tarot as we know it in Europa geht mindestens bis ins 14. Jahrhundert zurück, die Vorstellungsinhalte der Bilder sind natürlich weitaus älter, die erste Karte darin: The Fool, Le Mat, Der Narr.
Es geht um die „groteske Negation“, immer leicht teuflisch angehaucht, weil ordnungszersetzend. Die Narrenkappe wurde ja nicht von deutschen Karnevalsdeppen erfunden, es ist eine altehrwürdige groteske Gegenkrone bei Ritualen der Umkehrung.
Was all das mit Literatur zu tun hat? Wie könnte man überhaupt Shakespeare verstehen ohne Verständnis für den Narren? Die Spitzen des jester’s hat repräsentieren die Eselsohren, die man als guter jester früher noch trug. Wie gerade der größte Narr, zeitweise tatsächlich ein Eselsdasein fristend, prädestiniert ist, auserwählt ist, in das Kultgeheimnis der Isis eingeweiht zu werden, beschrieb Apuleius im 2. Jhdt. in „Der goldene Esel“ – ein phantastischer, anarchischer, wunderbar burlesker, am Ende doch erhabener Roman.
Die Präsenz des Narren in der Literatur, praktisch unüberschaubar. Aber der Narr stand immer essentiell für Redefreiheit und ist schon deshalb geradezu Schutzheiliger der Literatur. Zu seinen besten Künsten gehörte das Rätsel.
Falls das untergegangen sein sollte: es lohnt, „Jakob von Gunten“ zu lesen.
[SPIEGEL ONLINE Forum „Literatur – Was lohnt es noch, zu lesen?“, Oktober 2008]
![Robert Walser: Jakob von Gunten.](https://christian-erdmann.com/wp-content/uploads/2024/05/robert-walser-jakob-von-gunten.png)
Anhang: Kommentarsektion Antirationalistischer Block
09.06.20216
ray05:
Hab mal nachgesehen, was die Geselln in meinem Bücherregal so treiben. Und siehe da: Jakob von Gunten schmiegt sich eng an Karl Roßmann, den Kafka nach Amerika schickte; seiner Kumpanei mit Tonio Kröger und M. L. Brigge wird das aber wohl keinen Abbruch tun. Obwohl Tonio für Jakobs Geschmack allzu gescheit daherredet. Jakob ist der Joker. Dienen ist natürlich eine Kunst, vielleicht die größte.
10.06.2016
Antirationalistischer Block / Christian Erdmann:
Jakob bei mir zwischen Trakl und dem armen Chatterton. :) Gotta Serve Somebody: gestern Polanskis „Venus im Pelz“ endlich gesehen, wird dem bedeutenden Buch von Sacher-Masoch ganz wunderbar gerecht. Kafka wie Sacher-Masoch exemplarisch für das – vermeintliche – Paradox: wie es möglich ist, daß sich im Setting einer restriktiven Konstellation größtmögliche Freiheit entfaltet, Denken und Bewußtsein zum wahrhaft Außerordentlichen vordringen.
Wie Kafka dieses Setting auch bewußt beibehält, hatten wir ja -> hier ein wenig beleuchtet, phänomenal an der „Venus im Pelz“ bei Sacher-Masoch nun freilich, wie Wanda Severins Setting immer wieder übersteigt.
Und doch, es gehört zum Höchsten der individuellen Freiheit überhaupt, das Hierarchische bestehen zu lassen, wo es bereichernd ist, nicht Zufügung, sondern Hinzufügung. Unendlich diffiziles Thema, but well, you know… „Beuge dich vor ihr, solange du ein Rückgrat hast.“ – meint dasselbe. Weil du frei bist. Die Macht zu erkennen, vor der es sich zu beugen lohnt. Some call it Sphinx. :)
Auch der Narr ist sein eigener Herr, aber anders. Zu seiner Rolle gehört es, selbst wenn es ihn den Hals kostet, auch tatsächliche Unterdrückung als bloßes Setting zu entlarven. Der Narr als Kasper persifliert ja Gewaltausübung nur noch, mit dieser seltsam gefalteten Klatsche (slapstick). Der Narr, der sich als Diener tarnt, hat eine dieser Persiflage nachgeformte Haltung, nur eben umgekehrt: ihr Mächtigen glaubt, mir aufs Haupt zu schlagen, ich aber weiß, euer Schlagwerkzeug ist nur aus Pappe, ihr erreicht mich nicht.
Und dann das Dienen als Hingabe an etwas. Das darf man ein Ritual äußerster Bewußtheit nennen, oder eine schöne Kunst, ja.
08.07.2016
Anonym:
Nie hatte ich die „Greta Garbo der Off-Literatur-Branche“ verstanden. Hier schon…
6 Antworten auf „Jakob von Gunten / The Fool“
Mit den Jünglingsfiguren seiner Romane habe ich nie viel anfangen können. Mir gefallen vor allem Walsers Prosastücke, die dem Skizzenhaften, Beiläufigen einen vollendeten Ausdruck geben.
LikeGefällt 1 Person
Diese Träume, so real, daß man eigentlich vom geträumten Theaterbesuch noch den Garderobenzettel haben müßte, von denen aber beim Aufwachen nur das Gefühl geblieben ist, man sei gerade aus einer abgrundtiefen Welt emporgestiegen, und man weiß nur noch vage, warum man die Sehnsucht hat, dorthin zurückzukehren; Träume von unermeßlicher Ausdehnung in Zeit und Raum. Ich erinnere mich an eines der Prosastücke von Walser, das „Die Verlassene“ hieß, und mir war, als hätte er einen dieser Träume genauestens protokolliert.
LikeGefällt 2 Personen
Die Prosastücke von Walser haben allerdings eine merkwürdige Zeitlosigkeit. Es ist die Geschichte von einem träumenden Wanderer zwischen Wiesen und Wälder und von einem Flaneur, der in den Strassen von Schaufenster zu Schaufenster geht und über die Interieurs von Gaststätten reportiert. Sehr schön ist in diesem Zusammenhang auch jenes Bild, das Carl Seelig in seinen „Wanderungen mit Robert Walser“ überliefert hat.
LikeGefällt 2 Personen
Danke für den Hinweis auf Seelig, Platz ist freigehalten dafür. Ich bin einmal einer jungen Dame begegnet, die sich mit Walsers Mikrogrammen beschäftigte und darüber dann auch ein 500 Seiten starkes Werk publiziert hat, 2010. Das muß ich auch noch lesen. Da ich jetzt gerade „Life“ von Keith Richards lese, zur selben Zeit erschienen, konkludiere ich, daß ich zu jeder Party 14 Jahre zu spät komme.
Anyway, bei Interesse: -> Kirsten Scheffler
LikeGefällt 2 Personen
Danke für den Link! Es gibt ja einige Leute, die sich mit dem Werk von Robert Walser beschäftigt haben. Ich denke hier erst mal an Bernhard Echte und Werner Morlang, die Entzifferer und Herausgeber der vierbändigen Ausgabe „Aus dem Bleistiftgebiet“, dann auch an Jürg Amanns literarische Walser-Biografie und seinen Roman „Verirren oder Das plötzliche Schweigen des Robert Walser“.
LikeGefällt 1 Person
Morlang und Echte gehören mit Champollion zum Hochadel der Entzifferer. „Heute hat Fräulein geweint. Warum? Mitten in der Schulstunde stürzten ihr plötzlich die Tränen aus den Augen. Das berührt mich seltsam. Jedenfalls werde ich die Augen offen behalten. Es macht mir Spaß, auf irgend etwas, was keinen Ton geben will, zu horchen. Ich passe auf, und das verschönert das Leben, denn ohne aufpassen zu müssen, gibt es eigentlich gar kein Leben.“ – Kafka pflegte ja periodisch in Max Brods Wohnung zu stürzen, wenn er eine besondere Entdeckung gemacht hatte, und „Jakob von Gunten“ war so ein Anlaß. Auch die Prosastücke liebte Kafka ungemein. Die Passage in „Jakob von Gunten“, in der das Fräulein in die inneren Gemächer führt, gehört für mich zum Schönsten, was es in deutscher Sprache gibt.
LikeGefällt 1 Person