SPIEGEL ONLINE Forum
20.11.2007
Christian Erdmann:
„Niels Lyhne“ von Jens Peter Jacobsen. Ein melancholischer Fin de siècle-Roman, ziselierte, ornamentale Sprache, großer Einfluß auf Rilke, auch auf Hofmannsthal. Niels, ebenfalls einer, der ständig allerfeinste Stimmungen spürt, aber nie weiß, wie man darauf reagiert; existentialistische Züge in der Art, wie Niels es gegen die Übermacht Gott aufnimmt und „stehend sterben“ will. Jacobsen läßt Niels‘ Wahrnehmung den poetischsten Zauber wirken, doch immer lauert die Desillusion mit zwei, drei schroffen Pinselstrichen. Eine Geschichte über die Unerreichbarkeit:
„Er hatte das Gefühl, das man in Träumen hat; da ist etwas, was ruft, und man will so gern kommen, aber es ist nicht möglich, einen Fuß zu heben, und man wird von seiner Ohnmacht angestachelt, siecht dahin vor Sehnsucht, fortzukommen, wird bis zum Wahnsinn von diesem Rufen aufgereizt, das nicht versteht, daß man gebunden ist.“
Nichts konnte so unangreiflich korrekt sein wie ihr Auftreten. In dem, was sie sagte und in dem, was sie sich sagen ließ, hielt sie sich innerhalb der Grenzen strengster Sprödigkeit und ihre Koketterie bestand darin, sich nicht im mindesten kokett zu zeigen, darin, unheilbar blind zu sein gegen den Eindruck, den sie machte und nicht den geringsten Unterschied zwischen ihren Anbetern zu machen. Aber gerade deshalb träumten sie alle berauschende Träume von dem Antlitz, das hinter der Maske sich bergen mußte, glaubten an ein Feuer unter dem Schnee, spürten einen Duft von Verderbtheit in dieser Unschuld auf. Niemand von ihnen wäre überrascht gewesen zu erfahren, daß sie einen heimlichen Liebhaber besitze, aber niemand von ihnen wollte seinen Namen im mindesten zu erraten suchen.
Also sah man Edele Lyhne.
Niels ging darauf zu; er war blutrot, und indem er sich über diese langsam sich rundenden Beine und über diese langen schmalen Füße beugte, die in ihren feinen, wiegenden Formen etwas von der Intelligenz einer Hand besaßen, wurde ihm ganz schwindlig, und als die eine Fußspitze sich im selben Augenblick mit einer plötzlichen Bewegung etwas nach unten krümmte, war er nahe daran umzufallen.
Sie war nicht mehr ein Mensch wie alle andern, sondern ein wunderbares, höheres Wesen, durch die Mystik einer seltsamen Schönheit zur Göttin erhoben, und es lag eine herzklopfende Wonne darin, sie zu beschauen, in seinem Herzen vor ihr zu knien, zu ihrem Fuße in selbstauslöschender Demut zu kriechen…
„Es gibt nichts in meiner Seele, das ich nicht morden, entwürdigen würde, wenn ich Sie dadurch gewinnen könnte.“
Es gibt Menschen, die ihren Kummer auf sich nehmen und ihn tragen können, starke Naturen, die ihre Stärke gerade in dem Gewicht der Bürde fühlen, während die, die schwächer sind, sich dem Kummer hingeben, willenlos, wie man sich in die Gewalt einer Krankheit ergibt und wie eine Krankheit durchdringt der Kummer sie, trinkt sich in ihr innerstes Wesen hinein und wird eins mit ihnen, wird in langsamem Kampf in ihnen umgestaltet und verliert sich in ihnen in völliger Genesung. Aber es gibt auch solche, für die der Kummer eine Gewalttat bedeutet, die gegen sie verübt ist, eine Grausamkeit, die sie niemals lernen als Prüfung oder Züchtigung, so wenig denn als einfaches Schicksal anzusehen. Es ist für sie das Ergebnis einer Tyrannei, eines ganz persönlich Hassenden, und es bleibt davon stets ein Stachel in ihrem Herzen zurück.
Weil er gelernt hat, in sich selbst zu lesen, glaubt er auch, daß alle andern das, was in ihm geschrieben steht, zu lesen vermögen …
„Ich will in solch eines Meerfrauenleibes eigentümliche Schönheit eingeweiht werden; sie sollte nackt sein wie eine Woge und des Meeres wilde Schönheit sollte in ihr spuken. Es müßte etwas von des Sommermeeres Phosphorschimmer über ihrer Haut sein, etwas von der Tangwälder schwarzem, verfilztem Grauen in ihrem Haar. Jawohl; des Wassers tausend Farben müssen in blinkendem Wechsel in ihren Augen kommen und gehen; die bleiche Brust muß kalt sein von einer wollüstig kühlenden Kälte, die Wellen rieseln ihren wiegenden Gang durch alle ihre Formen und es ist des Maelstroms Saugen in ihrem Kuß und es ist des Schaumes zerstäubende Weichheit in der Umschlingung ihrer Arme.“
Sie gehörte zu diesen bleichen, sanften jungfräulichen Naturen, die nicht den Mut oder vielleicht nicht den Instinkt besitzen, ihre Liebe auszulieben, bis da auch kein Selbst mehr auf dem tiefsten Grund ihrer Seelen zurückgeblieben ist. Nicht einmal den flüchtigsten Augenblick vermögen sie so zu greifen, daß sie sich blind mit fortgerissen unter die Wagenräder des Götzenbildes werfen. Das vermögen sie nicht; aber sonst können sie alles tun für den, den sie lieben. Die schwersten Pflichten können sie erfüllen, zu den schmerzlichsten Opfern sind sie bereit, und es gibt nicht die Demütigung, die zu ertragen sie sich fürchten.
Wenn sie mit einem Nähzeug dasaß und mit der sanften, ruhigen Stimme sprach, mit diesen klaren, treuen Augen aufsah, dann wurde sein ganzes Wesen von der unwiderstehlichen Gewalt eines starken und stillen Heimwehs zu ihr hingezogen. Er sehnte sich danach, sich vor ihr zu demütigen, das Knie zu beugen und sie heilig zu nennen. Stets sehnte er sich so seltsam nach ihr hin, nicht nur, wie sie war, sondern er sehnte sich nach ihrer Kindheit und allen den Tagen, wo er sie nicht gekannt hatte; und wenn sie allein waren, konnte er die Vergangenheit stets in ihrer Rede heraufbeschwören und sie dahin bringen, von ihren kleinen Leiden, ihren kleinen Verirrungen, kleinen Eigenarten, an denen jede Kindheit so reich ist, zu erzählen.
Es lag eine so frische, unbewußte Sinnlichkeit über ihrer ganzen Gestalt; wenn sie ging, flüsterte ihr Gang von ihrem Körper; es lag eine Nacktheit über ihren Bewegungen, eine träumende Beredsamkeit über ihrer Ruhe, aber sie konnte nichts dafür, weder für das eine noch das andere, es wäre ihr nicht möglich gewesen, es zu verbergen oder es zum Schweigen zu bringen, selbst wenn sie eine Ahnung davon gehabt hätte.
Niels erriet viel, Fennimore wäre unglücklich gewesen, wenn sie gewußt hätte, wie viel.
„Verstehst du, Fennimore, daß ein solches Geheimnis, das nicht mit schlichten Worten in die gewöhnliche, alltägliche Luft hineinerzählt werden kann, daß das einen Menschen zum Künstler zu stimmen vermag? Und sie können es nicht aussprechen, verstehst du, sie können nicht; man muß daran glauben, daß es da ist und still da drinnen lebt wie eine Zwiebel unter der Erde…“
„Du weißt nicht, wozu du uns verurteilst“, sagte er betrübt, „es wäre viel besser, wenn wir jetzt mit eisernen Absätzen drauflosträten, statt zu schonen. Glaube mir, Fennimore, wenn unsere Liebe nicht unser alles ist, das einzige, das erste in der Welt, das, was vor allem anderen gerettet werden muß, so daß wir draufloshauen, wo wir am liebsten heilen wollten, und Leid bringen, wo wir soviel lieber jeden Schatten von Leid fernhielten, wenn wir das jetzt nicht tun, so sollst du sehen, wie all das, worunter wir uns jetzt beugen, sich schwer auf unsere Schultern legt und uns in die Knie zwingt, so unbarmherzig und unerbittlich. – Ein Kampf auf den Knien, du weißt nicht, wie schwer der zu kämpfen ist!“
„… daß er glaubte, es würde das größte Glück sein, wenn er ihr in Worten danken dürfte, weil sie so schön und so lieblich war.“
„Er gehörte zu den Menschen, in denen ein Traum begraben liegt, der Helligkeit und Frieden um einen kleinen Fleck in ihrer Seele ausbreitet, wo sie am meisten sie selbst und am wenigsten sie selbst sind.“
„Seien Sie ganz ruhig, Sie streicht man nicht weg aus seinem Leben. Aber nehmen Sie sich in acht; einer Liebe wie der meinen begegnet eine Frau nicht zweimal in ihrem Leben.“
„Jener Stempel von der Melancholie der Ewigkeit, der ihrer Liebe ihr Gepräge verliehen hatte …“
„Als Hjerrild Niels Lyhne zum letztenmal sah, lag er da und fabelte von seiner Rüstung und davon, daß er stehend sterben wollte.“