John Dunkel:
Zu Weihnachten hab ich mir die Die Brüder Karamasow gewünscht. Mal gucken, ob der Weihnachtsmann da mitspielt. (Zusammen mit Solschenizyns Archipel Gulag hätte ich dann einen russischen Winter vor mir.)
Christian Erdmann:
„Der Idiot“, „Die Dämonen“, „Die Brüder Karamasow“, „Schuld und Sühne“, darüber kommt ja generell schon mal gar nichts mehr. Außer vielleicht mein heimlicher Dostojewski-Lieblingsroman „Erniedrigte und Beleidigte“, und seine beiden Erzählungen „Die Sanfte“ und „Weiße Nächte“. Würde plötzlich das Dekret eines betrunkenen Königs verlangen, daß man nur das Werk eines einzigen Autors mit ins Exil nehmen dürfte, für mich wäre es Dostojewski, nicht Shakespeare, nicht einmal Sacher-Masoch, obwohl Dostojewski bestätigt, daß Freud darin irrte, Sadismus als primär anzusehen… Masochismus ist primär. Als Wunsch, sich dem Ungeheuren auszuliefern. Die ungeheure geistige Dimension des Masochismus, diese Einwilligung, zu erleiden, dieser Wille zur Vermischung von Lust und Pein, diese Gestalten in der permanenten Erregung des Suspense! Die Lust an der Zufügung als Lust an der Hinzufügung. Masochismus als ideelle Neuordnung der Welt. Diese Figuren, die eine wahre Wollust zeigen, sich bloßzustellen, Schwächen und Fehler aller Welt zu erzählen. Dieses Hin- und Herjagen zwischen Zeigenwollen und Verbergenwollen. Dieses Verführen zum Schlechtbehandeltwerden. Dieses Zeugensuchen für das Ertragen des Leides. Dieses auffällig Verborgene, das… das…
„Ah, auch du leidest zuweilen darunter, daß ein Gedanke nicht in Worte zu fassen ist! Dieses edle Leiden, mein Freund, wird auch nur Auserwählten zuteil: ein Narr ist immer mit dem zufrieden, was er gesagt hat, und dazu spricht er immer mehr aus, als not tut; sie tun das gern auf Vorrat.“ – Aus „Der Jüngling“.
Weltfremd werden, weil man vor ungestillter Liebe die Welt für weltfremd hält, unwirklich werden aus gewollter Unfähigkeit, die Wirklichkeit leidenschaftslos zur Kenntnis zu nehmen. Have some Toska, John.
„Der Jüngling“, 89: „Aber vielleicht ist es besser, von den Menschen gekränkt zu werden: sie befreien einen wenigstens von dem Unglück, sie zu lieben.“
93: „Als Ergebnis zeigte es sich, daß der Dumme allein ich war, weiter niemand.“
Ty Coon:
Ich hab Schuld & Sühne letztes Jahr in einer Klinik gelesen und begeistert aufgesogen, dabei aber bestimmt nur die Hälfte verstanden. Ich kann mit diesem christlichen Brimborium nicht soviel anfangen, aber man weiß ja vorher wenigstens so ungefähr, was einen erwartet. Dostojewskij ist vor allem in den Dialogen und in den versteckten Nebensätzen wirklich stark. Doch es braucht schon Ruhe und Muße, um sich in so ein Werk zu vertiefen; zwei Dinge, die nicht jeder hat.
Christian Erdmann:
Wenn man bei Dostojewski etwas ausblenden kann, dann das „christliche Brimborium“. Dostojewski ist vor allem als Psychologe stark, und zwar da, wo der common sense endet. All diese Figuren sind Amokläufer im common sense, Besessene, besessen davon, sich für ihre Idee peitschen zu lassen. Wenn du das Gefühl hast, daß die Menschen um dich herum sich bei dem, was du tust, nur noch mit dem Zeigefinger an die Stirn tippen – es gibt einen, der dich versteht, und der heißt Fjodor. Einer, der weiß, warum der Weg, den man dir vor die Füße schiebt, nicht der Weg ist, den du gehen kannst, weil du ein Geheimnis, eine Idee, eine Obsession im Herzen hast, und das, während ständig ohne jeden Rückhalt bloßgelegt wird, Seelen wie Handgranaten in das Leben der anderen geworfen werden. Wenn Camus lakonisch sagt, „An sich neigt der Mensch dazu, sich zu verzetteln“, tröstet Dostojewski mit der dem common sense unbekannten Versicherung, daß der menschliche Geist und das menschliche Herz im Grunde ständig mit den phantastischsten Situationen konfrontiert sind. Und das, schrieb Dostojewski einmal an Strachov, was die meisten Menschen für „phantastisch“ halten, ist für ihn „das innerste Wesen der Wahrheit“. Mindestens: daß man nicht einfach und jederzeit Ja oder Nein sagen kann. Daß Ambivalenz auszuhalten ist. Mittendrin Heilige Narren wie Myschkin mit ihrem intuitiven, hellseherischen Verstehen.
Aus den Dialogen, den „versteckten Nebensätzen“, ebenso den nicht versteckten Nebensätzen, den inneren Monologen und allem, was mir jetzt gerade nicht einfällt :), sprechen Charaktere, die sich weigern, zu kapitulieren, obwohl sie alle um das wissen, wovor es zu kapitulieren lohnt. Selbst Stawrogin mit seiner schrecklichen Indifferenz weiß es – er ist ex-Romantiker.
Mayallix:
Dostojewskijs „Jüngling“ lässt mich immer an Karl Marx denken. Die Sache mit dem Geld und dass der Mensch das Geld anbetet.
Christian Erdmann:
Mag so sein. Dostojewskijs „Jüngling“ scheint mir aber eher ein typischer Fall dafür, wie einer der Gedanken, die transportiert werden sollen, weit zurücktritt hinter viel Eigentlicheres, und beim Verfolgen Arkaschas, der wiederum die Wege des ruhelosen Wersilow verfolgt, seines Vaters, zwischen der Erleuchtung, die Wersilows Liebe zur passiven, duldenden Sofija gilt, Arkadijs Mutter, und seiner Verfallenheit an Katerina, ist Karl Marx in etwa das letzte, woran ich denke. Ich denke eher an Bob Dylans Satz aus „Renaldo and Clara“: „Truth is on many levels“. Wersilow selbst sagt von sich, er könne zwei entgegengesetzte Gefühle zu ein und derselben Zeit fühlen. Und er verbeugt sich vor einer ganz anderen Idee als dem, wie Arkascha sagt, „dummen goldenen Kalb“. Im Grunde weiß er, daß er an einem Punkt zumindest vorübergehend wahnsinnig werden „muß“, um die Verständnislosigkeit, die ihm entgegenschlägt, zu „legitimieren“. Bis zuletzt sucht er einen Menschen seines Schlages, schleudert Katerina entgegen, er wisse, sie und er seien Menschen eines Wahnsinns, obwohl er zugleich weiß, daß sie eine ganz gewöhnliche Frau ist, die das „Heitere“ sucht, (atemberaubend übrigens, wie Dostojewski hier mit einer Dialogzeile den ganzen Wersilow beschwört, wie plastisch er dasteht in diesem einen einzigen Wort, das er antwortet, als Katerina sagt: „Ich liebe heitere Menschen…“ – „Heitere?“) -, und er weiß, daß sie nur deshalb alle Vollkommenheiten besitzen müsste, weil sie solche Macht über ihn hat. Daß nach der katastrophalen Klimax Wersilow endlich Sofija heiratet, mag man dann wiederum als Umsetzung eines „Gedankens“ auffassen, Vereinigung der höchsten, verfeinertsten Intelligenzija mit dem „einfachen“ Volk Russlands, aber blah. All dies brettert für mich immer viel zu sehr über die Komplexität auch der vorgestellten Charaktere hinweg, deren Entgleiten über irgendeinen Plan hinaus ja auch Dostojewskis Werk ist, somit die Größe bei Dostojewski u.a. ja gerade darin liegt, daß seine Charaktere zu vielschichtig sind, um als Transporteure bloßer Ideen daherzukommen.
[SPIEGEL ONLINE Forum „Literatur – Was lohnt es noch, zu lesen?“]
„Von mir aus will ich noch bemerken, daß fast jede Wirklichkeit, wenn sie auch ihre unwiderleglichen Gesetze hat, unwahrscheinlich und unglaublich erscheint. Und je wirklicher sie ist, desto unwahrscheinlicher sieht sie mitunter aus.“
(Fjodor Dostojewskij, Der Idiot, München 1979, 495)
2 Antworten auf „Dostojewski“
Grossartig
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Danke Dir herzlich! ❤️😊
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