30.09.2007
Ich gehe doch nicht des guten Essens wegen ins Pariser Procope, sondern weil ich die Penunzen da verjuxen will, wo mir Diderot ins Essen hustet. Zum Haus pilgern, in dem Lautréamont verhungert ist, soviel Zeit muß sein, bevor die letzten Schuhe durchgewetzt sind. Halsabschneiderei ist überall, es kommt wirklich nur darauf an, wo man sich den Hals abschneiden läßt.
08.01.2008
„Ich kenne keine andere Gnade als die, geboren zu sein.“ (Lautréamont)
Avalokiteshvara, 11köpfiger Herr des großen Mitleids. Sein Kopf zersprang in Teile aus Mitleid mit den leidenden Wesen. Lautréamonts Kopf zersprang in Teile aus Mitleid mit den bitteren Farben. Und alle Teile schrieben gleichzeitig am „Maldoror“.
Paris, den 12. März 1870
Sehr geehrter Herr,
lassen Sie mich ein wenig zurückgreifen. Ich habe bei M. Lacroix (B. Montmartre, 15) ein poetisches Werk veröffentlichen lassen. Aber als es gedruckt war, weigerte er sich, es erscheinen zu lassen, weil das Leben darin in zu bitteren Farben gemalt war, und weil er den Staatsanwalt fürchtete. Es war etwas von der Art des Manfred von Byron und des Konrad von Mickiewicz, aber noch viel schrecklicher. Die Ausgabe hat 1.200 Franc gekostet, wovon ich 400 Francs schon vorgeschossen hatte.
Rue du Faubourg Montmartre No. 7. „Only later I found out that the hotel I used to stay in during my earlier visits to Paris, the Hotel Lausanne in Rue Geoffroy Marie, opposite the Les Folies Bergère cabaret, is just around the corner from the place where Lautréamont died.“ [ from a letter I wrote ]
26.03.2008
Lautréamont sei an einem „bösartigen Fieber“ erkrankt, sagte der Hotelbesitzer, aber vielleicht ist er auch einfach nur verhungert.
11.08.2008
Lautréamont ist quasi eingegangen, 24jährig, nachdem er den monströsen „Maldoror“ beendet hatte. Warum? Einfach nur Zufall, oder weil die Gewißheit, nach diesem Werk, in das man doch alles von sich hineinlegte, keinen Weg mehr offen zu haben, der das Überleben sichert, die Konstitution unwiderruflich schwächte?
31.10.2010
Passend zu Eurem Treiben hier: gestern, Spätnachmittag in der THALIA-Buchhandlung, ich hatte noch einen 10-Euro-Gutschein, wir begutachten also in der hintersten Ecke die „Klassiker“, Fischer hat diese hübsch gebundenen Retro-Ausgaben von Thomas Mann, da liegen die „Buddenbrooks“, meine Ausgabe ist von 1930, zerscheddert, ich denke also an einen Tausch, kostet aber 14. The Missus findet „Sleepy Hollow“ von Irving, ich taste mich weiter durch die Möglichkeiten. Verkäufer so um die 30 kommt: „Finden Sie, was Sie suchen?“ – „Ja. Kann mich nur nicht entscheiden.“ Er nickt, sieht uns da irgendwie weiter zu, kommt wieder mit einem Buch in der Hand. „Ich habe das Gefühl, das hier wäre etwas für Sie.“ – Aha? Und was überreicht er mir? Lautréamont, Die Gesänge des Maldoror. Ich liebe es, daß ich offenbar den Eindruck erwecke, ein perverser Libertin zu sein. Die Leute denken immer, ich hätte ein dunkles Geheimnis. Und das, äh… stimmt ja auch.
„Ja, phantastisch, aber das besitze ich schon, Edition Sirene, wo man die Seiten mit einem blutigen Messer aufschneiden mußte, wissen Sie? Sehr schön.“ Ich erzähle ihm also von diesem Gutschein, an sich hätte ich diese Buddenbrooks im Visier, kostet 14, ist aber ein bißchen angestoßen, sehen Sie? Ob er es auch für 12 machen würde? „Tja, ich weiß nicht… und wenn Sie den Zauberberg nähmen?“ The Missus: „Den kennt er auswendig.“ – So geht das noch eine Weile weiter, und wir haben alle viel Spaß. Später, wir stehen schon an der Kasse mit den Buddenbrooks, kommt er durch den ganzen Laden nochmal angerannt: „Das hier ist etwas für Sie. Ich weiß es.“ – Und er bringt mir noch so einen Skandalfranzosen.
[SPIEGEL ONLINE Forum]
(Wunderbarerweise durfte man die Seiten dieser Ausgabe tatsächlich aufschneiden.)
Comte de Lautréamont, eigentlich Isidore Lucien Ducasse, wurde 1846 in Montevideo, Uruguay geboren und starb 1870 in Paris. Einzelheiten seines Lebens und die Umstände seines Todes sind weitgehend unbekannt.
Eine kurze Biographie
Von Hartmut H. Gatzke
Isidore Ducasse wurde am 4. April 1846 in Montevideo geboren und starb unter ungeklärten Umständen am 24. November 1870 in Paris. Im Vorwort zu seinen Poésies schrieb er: Ich werde keine Memoiren hinterlassen, und es ist wirklich nicht viel, was seinen Biographen von ihm persönlich zur Verfügung stand: außer seinem Werk existieren lediglich sieben Briefe. Ein recht kurzer Brief an einen Kritiker, einer an Victor Hugo, zwei an seinen Bankier M. Darasse, drei an seinen Verleger Lacroix.
Sein Vater, Francois Ducasse, wurde am 12. März 1809 als viertes von acht Kindern im Dörfchen Bazet, in der Nähe von Tarbes in den Pyrenäen geboren. Mit dreißig Jahren, am 20. November 1839, wandert Ducasse, wie so viele Franzosen zu jener Zeit, nach Uruguay aus und heiratet dort am 31. Januar 1846 die im siebten Monat schwangere, erst vierundzwanzig Jahre alte Célestine Jacquette Davezac, die ihm wohl schon zuvor den Haushalt geführt hatte. Am 4. April wurde ihr einziges Kind Isidore Lucien geboren. Die Mutter starb schon im nächsten Jahr, am 10. Dezember 1847, kurz nach Isidores Taufe am 16.11.1847, wahrscheinlich an einer epidemischen Krankheit, denn sie wurde noch am gleichen Tag begraben.
Isidore war erst dreizehn Jahre alt, als er allein die etwa einmonatige Seereise von Montevideo nach Bordeaux antrat. Von Oktober 1859 bis August 1862 war er als Internatsschüler des kaiserlichen Gymnasiums von Tarbes eingeschrieben. Zum Vormund von Isidore hatte Francois Ducasse seinen Jugendfreund Jean Dazet aus Tarbes ernannt. Zum Sohn Dazets, Georges, etwa vier Jahre jünger, entwickelte Isidore eine tiefe Freundschaft, die er unter anderem in den Gesängen des Maldoror beschreiben wird.
Ah! Dazet! du, dessen Seele von der meinen unzertrennlich ist; du, der schönste der Söhne des Weibes, obgleich noch ein Jüngling; du, dessen Name dem größten Jugendfreunde Byrons gleicht, du, in dem die sanfte Tugend der Kommunikation und die göttlichen Grazien, einig und unzerstörbar verbunden, in edler Gemeinschaft beisammen wohnen, als wärest du ihre natürliche Residenz, warum bist du nicht bei mir, die Brust an meine Brust gepreßt …
(Die Gesänge des Maldoror, 1868, Erster Gesang, Strophe 9)
Am 11. August 1862 fand die Preisverleihung im Internat von Tarbes statt. Isidore verließ das Internat und tauchte 1863 in der Rhetorikklasse (was in etwa einer Unter- oder Oberprima entspricht) des Gymnasiums von Pau auf und bleibt dort bis zum August 1865.
Ein Jahr zuvor starb sein Vormund Jean Dazet. Isidore wohnte in den Jahren 1865 bis 1867 bei dessen Witwe Madeleine Dazet und ihrem Sohn Georges. Unbekannt bleibt, was Isidore in dieser Zeit unternommen hat. Als ihn jedoch sein Vater im Frühjahr 1867 nach Montevideo bat, stand in seinem Visum vom 25. Mai 1867 „ohne Beruf“. Isidore hielt sich nur kurz in Montevideo auf. Anscheinend konnte er seinen vermögenden Vater überzeugen, ihm Geld für eine schriftstellerische Karriere zur Verfügung zu stellen. Über den Bankier Darasse, der mit dem französischen Konsulat in Montevideo Geschäftsbeziehungen unterhielt, ließ Vater Ducasse seinem Sohn fortan die nötigen Gelder zukommen.
Seit Ende 1867 lebte Isidore Ducasse offenbar in Paris, zunächst in einem Hotel in Rue Notre-Dame-des-Victoires Nr. 23. Isidore musste zwar oft umziehen, arbeitet aber intensiv am ersten Gesang des Maldoror,
schreibt hauptsächlich nachts, am Klavier sitzend, und deklamierte seine Sätze beim Klang der Akkorde, was die Hotelbewohner zur Verzweiflung brachte. [s. Léon Genonceaux, 1890]
Anfang August 1868 ging das Manuskript in Druck. Der Erste Gesang erschien anonym Anfang November 1868 zuerst bei der Imprimerie Balitout, Questroy & Cie. In ihr kam der Name Dazet noch mehrfach vor. In seinem Brief an Victor Hugo vom 10.11.1868 schrieb Ducasse:
Sehr geehrter Herr,
ich schicke Ihnen 2 Exemplare einer Broschüre, die aus von mir ungewollten Gründen nicht im Monat August erscheinen konnte. Sie erscheint jetzt bei zwei Buchhändlern des Boulevard, und ich habe mich entschlossen, an etwa zwanzig Kritiker zu schreiben, damit sie mich kritisieren. Im Monat August wurde sie jedoch schon von der Zeitung La Jeunesse besprochen.
In einer zweiten Ausgabe, erschienen in Bordeaux in einer Sammlung Parfums de l’âme, finden wir anstelle des Namens nur D….. Offenbar hatten Georges Dazet und dessen Bruder Jean-Paul Dazet gegen die Nennung des Namens protestiert. Der große Buchstabe D und die vier folgenden Punkte waren ihnen aber immer noch zu deutlich, so daß die dritte Fassung, die bei dem Verleger Lacroix 1869 erscheint, statt des D…. abstoßende Tiere enthält. Die schon oben zitierte Passage liest sich nun so:
O Krake mit dem seidenen Blick! du, dessen Seele von der meinen unzertrennlich ist; du, der schönste Bewohner des Erdballs, der einem Serail von vierhundert Saugnäpfen befiehlt; du, in dem die sanfte Tugend der Kommunikation und die göttlichen Grazien, einig und unzerstörbar verbunden, in edler Gemeinschaft beisammen wohnen, als wärest du ihre natürliche Residenz, warum bist du nicht bei mir, deinen Quecksilberleib an meine Aluminiumbrust gepreßt …
Der erste Gesang wurde am 1.9.1868 in La Jeunesse, einer Zeitschrift für Literatur, Kritik und Philosophie, vom Leiter dieser Revue, Alfred Sircos, kurz besprochen. Ein Jahr später wurde die Gesamtausgabe (nicht mehr anonym, sondern unter dem Pseudonym Comte de Lautréamont) gedruckt, die aber nicht in den Buchhandel gelangte. Der Verleger Lacroix hatte, wie der Autor in einem seiner wenigen erhaltenen Briefe (12.3.1870) andeutete, die Auslieferung verweigert, weil das Leben darin in zu herben Formen gemalt ist und weil er den Staatsanwalt fürchtete.
Held dieses sechsteiligen Prosagedichtes ist Maldoror, dessen Namen wie der des Comte de Lautréamont mehrere Deutungen zuläßt. Maldoror kann als die aufgehende Sonne des Bösen (l’aurore du mal) oder der Vergolder des Bösen gelesen werden. Der Name Lautréamont wird mit dem Helden Duhamel Latréaumont des gleichnamigen Romans von Eugène Sue in Verbindung gebracht. Man vermutet, dass die Vokalumstellung von Ducasse beabsichtigt war und der Name nun, lesbar als l’autre Amon (der andere Engel, der Engel des Bösen), mystische und apokalyptische Bedeutung erhalten sollte.
Am 19.7.1870 erklärte Napoléon III. Preußen den Krieg. Die Lage für die später belagerte Stadt Paris und ihre Einwohner verschlimmerte sich rapide und wurde schon bald katastrophal. Seit dem 17.9. konnte niemand mehr Paris verlassen, geschweige denn hineinkommen. Die Tiere des Jardin des Plantes, Elefanten, Antilopen, Kängurus, wurden geschlachtet und für horrende Preise an reiche Leute verkauft. Ratten bekam man erst ab 2 Francs aufwärts. Am 24.11.1870 starb Isidore Ducasse, Schriftsteller, 24 Jahre alt, geboren in Montevideo (Südamerika), … um 8 Uhr in seinem Domizil, Rue du Faubourg Montmartre Nr. 7, ohne weitere Auskünfte.
Der belgische Buchhändler Jean-Baptiste Rosez hatte Lacroix den gesamten Bestand seines Lagers billig abgekauft und Lautréamonts Werk postum veröffentlicht. Diese Ausgabe war identisch mit der von 1869 und machte ein Werk bekannt, das zunächst nur wenig Leser fand. Einzig von Joris-Karl Huysmans ist ein positives Echo überliefert: „Ah! aber ja, mein lieber Destrée, das ist ein ganz verrücktes Talent, dieser Comte de Lautréamont … Was zum Teufel konnte wohl der Mensch im Leben machen, der diese furchtbaren Träume geschrieben hat?“ [Brief Huysmans an Destrée vom 27.9.1885].
Remy de Gourmont war bis 1891 Angestellter der Pariser Nationalbibliothek und entdeckte dort eine verschollene Publikation des ersten Gesanges von Maldoror, deren Varianten er im Mercure de France veröffentlichte und kommentierte. Andere berühmte Leser seiner Gesänge waren Maurice Maeterlinck und Andrè Gide, der es zuerst am 23. November 1905 las und am selben Tag in sein Tagebuch notierte:
„Ich habe eben, zunächst leise, dann laut den außerordentlichen sechsten Gesang des Maldoror (Kap. I, II und III) gelesen. Durch welchen Zufall kannte ich ihn noch nicht? Ich frage mich sogar, ob ich nicht überhaupt der einzige bin, der ihn bemerkt hat. ‚Je mehr der erste Band sich dem Ende zuneigt, spürt man, wie das Bewußtsein schwindet, schwindet…‘, schreibt Gourmont. Nehmen wir an, er hat diese Seiten nicht gelesen; das ist weniger kränkend für Gourmont, als anzunehmen, daß er sie gelesen hat, ohne sie zu bemerken.
Das ist nun etwas, was mich zur Raserei begeistert. Mit einem Sprung geht er da vom Abscheulichen zum Hervorragenden über. Großartig der Briefwechsel zwischen Maldoror und Mervyn, die Beschreibung des Eßzimmers der Familie, die Gestalt des Commodore, die kleinen Brüder, ‚das Barett von einer aus dem Flügel des Ziegenmelkervogels der Karoline gerissenen Feder überragt, mit bis zu den Knien reichender Samthose und Strümpfen aus roter Seide‘, die ’sich an den Händen fassen und sich in den Salon zurückziehen und dabei aufpassen, das Ebenholzparkett nur mit den Fußspitzen zu berühren‘ usw… usw… Ich muß das alles Copeau vorlesen. Welche Fülle in der ‚Voreingenommenheit‘ dieser Zeilen.“