Ein Akt aus dem SPIEGEL ONLINE Forum
„Literatur – Was lohnt es noch, zu lesen?“
stoppelfeld:
Leidet der Deutsche an der „Krankheit zum Tode“?
avenir:
Wenn einem diese Krankheit zugeschrieben werden darf, dann wohl weniger dem Deutschen, sondern vielmehr dem Österreicher. Die Mesalliance des Wieners mit dem Tod ist wohl ein beredtes Beispiel hierfür. Die Lieder von Hans Moser bis Wolfgang Ambros, durchsetzt mit morbiden Zeilen.
Doch für den Österreicher ist der Tod nur selten eine ernste Angelegenheit. In der Literatur nimmt allenfalls Josef Winkler, der Büchnerpreisträger, den Tod wirklich ernst. Die Mehrzahl der österreichischen Schriftsteller geht mit dem Tod humorvoll um. Man lese nur Robert Menasse oder Norbert Gstrein. Sogar Thomas Bernhard geht den Tod humorvoll an, was nicht heißen soll, dass er darüber seine Witze macht. Es ist ein beißender Humor, dem sich der Tod hier ausgesetzt sieht.
Was kommt dabei raus? Der Tod wird ins Leben geholt, er gehört zu uns. Dabei muss man nicht todtraurig sein, sondern sich auch über ihn lustig machen. Dies ist ein Topos, der stark im katholischen Glauben verankert ist. Der ernste Glauben ist immer mit einem verschmitzten Lächeln verbunden.
Christian Erdmann [Aljoscha der Idiot]:
Wieso haben die Franzosen eigentlich Madame la Mort und wir bloß Gevatter Schnitter?
river runner:
Wieso haben die Spanier „La Palida“, und warum heisst sie bei uns „Der Bleiche“?
Lo sorprendió la Pálida una tarde.
Ihn überraschte eines Abends der Bleiche.
Lieber Aljoscha, kannst du mir erklären, warum der Borges den Gracían nicht abkann? Schon wieder steht der Vorwurf der Eitelkeit im Raum: „Sólo un vano herbatio… nur ein eitles Herbarium.“ Ist das fair von Borges, oder hat der das einfach nur so dahingeschrieben, weil es sich reimt?
Christian Erdmann:
Ah, la Pálida! … hing gerade dem Gedanken nach, daß die rationalistische Tradition der Franzosen nie ihre genuine Nähe zur Erotik verhindert, ich meine, wo sonst gibt es ein Buch wie die „Liaisons Dangereuses“, die „Schlimmen Liebschaften“ von Choderlos de Laclos, das derart Sprache und Erotik verbindet, die Sprache der Erotik und die Erotik der Sprache, und demnach es ganz natürlich scheint, wenn die Franzosen das Verlangen haben, sich einen „gut ausgearbeiteten Tod“ (Rilke in „Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“) wenigstens sprachlich noch als bittersüße Umarmung vorzustellen. Jetzt müssen wir das also mindestens auf Spanien erweitern, bzw. was steckt überhaupt hinter dem weiblich personifizierten Tod als image?
Lieber Aljoscha, kannst du mir erklären, warum der Borges den Gracían nicht abkann?
Hm. Wegen schweren Leidenschaftslos seyns?
„Leidenschaftslos seyn: eine Eigenschaft der höchsten Geistesgröße, deren Ueberlegenheit selbst sie loskauft vom Joche gemeiner äußerer Eindrücke.“ (Gracian)
Was ich verlange, wenn das Drüben noch was vorhat: einen Blick werfen auf die Archetypen und die Herrlichkeiten und Muster, nach denen alles geschieht. Ich vermute ja, wenn man das sähe, würde man eh gleich tot umfallen.
Na gut, gewisser Widerspruch hier. Epikur sagt ja, sind wir, ist der Tod nicht; ist der Tod, sind wir nicht. Und er hat ja bekanntlich zugleich recht und schmählich unrecht. Es gibt das Grauen vor diesem letzten „Zustand“, in dem eine Verwandlung an uns ohne uns stattfindet, es gibt die Furcht davor, daß, wenn der Tod ist, auch wir gegenwärtig sein könnten. Es gibt ebenso die Furcht davor, daß wir als Tote gerade kein Vermissungserlebnis haben werden. Horror vacui. Daß der Tod ein Problem für die Lebenden ist, wird auch ohne Epikur klar. Daß der Tod ein Problem für die Toten sein könnte, bleibt trotz Epikur, wie man angloamerikanisch sagt, mind-boggling. Epikur will uns damit beruhigen, daß Totsein keine grauenvolle Erfahrung ist, weil Totsein überhaupt keine Erfahrung ist. Sehr tröstlich. Man stelle sich das vor: keine Erfahrung. Und viel Spaß noch beim Versuch, sich das vorzustellen. Wir können nicht anders: auch den Übergang ins Nichts denken wir als Übergang.
„Sterben hieße nichts anderes, als ein Nichts dem Nichts hinzugeben, aber das wäre dem Gefühl unmöglich, denn wie könnte man sich auch nur als Nichts mit Bewußtsein dem Nichts hingeben und nicht nur einem leeren Nichts, sondern einem brausenden Nichts, dessen Nichtigkeit nur in seiner Unfaßlichkeit besteht.“ (Kafka, Tagebücher)
Nachdem Rilkes Malte Laurids Brigge den Tod des Christoph Detlev Brigge beschrieben hat, den schweren Tod, der sich nicht drängen läßt – „Er war für zehn Wochen gekommen, und die blieb er. Und während dieser Zeit war er mehr Herr, als Christoph Detlev Brigge es je gewesen war, er war wie ein König, den man den Schrecklichen nennt, später und immer.“, schließt er:
„Warum soll ich tun, als wären jene Nächte nicht gewesen, da ich aufsaß vor Todesangst und mich daran klammerte, daß das Sitzen wenigstens noch etwas Lebendiges sei: daß Tote nicht saßen.“
Und wenn „die Toten im Grabe an irgend etwas denken, so ist es dieses: wie sie unter der Erde das benachbarte Grab erreichen können, um das Leichentuch der Abgeschiedenen zu lüpfen und sich ihrem Schlummer zu gatten…“ (Flaubert, November).
„Sterben! Was heißt das? Siehe, wir träumen, wenn wir vom Tode reden.“
„Sterben! Grab! Ich verstehe die Worte nicht!“ (Goethe, Werther)
schlafschule69:
… was steckt überhaupt hinter dem weiblich personifizierten Tod als image?
Genau kann ich das jetzt auch nicht sagen, aber ich musste spontan an Morgensterns Galgenbruders Lied denken:
Galgenbruders Lied an Sophie, die Henkersmaid
Sophie, mein Henkersmädel,
komm, küsse mir den Schädel!
Zwar ist mein Mund
ein schwarzer Schlund –
doch du bist gut und edel!
Sophie, mein Henkersmädel,
komm, streichle mir den Schädel!
Zwar ist mein Haupt
des Haars beraubt –
doch du bist gut und edel!
Sophie, mein Henkersmädel,
komm, schau mir in den Schädel!
Die Augen zwar,
sie fraß der Aar –
doch du bist gut und edel!
Reklov:
Wieso haben die Franzosen eigentlich Madame la Mort und wir bloß Gevatter Schnitter?
Es hängt mit der Sprache zusammen: la mort kommt von lateinisch mors, mortis fem.; Tod ist dagegen schon im Althochdeutschen als Verbalabstraktum zu „sterben“ ein Maskulinum, vgl. z. B. Kluge etc. Ähnliches gibt’s auch bei die Sonne / der Mond, im Lat. (und demzufolge in den romanischen Sprachen) sol, masc., luna, fem. (weswegen es unsinnig ist, im Sonnengesang von Franziskus (?) „fratre sole“ wörtlich mit „Bruder Sonne“ bzw. „sorore luna“ mit „Schwester Mond“ zu übersetzen).
Christian Erdmann:
„Touwen“, sterben, aha, naja. An sich verschiebt es die Frage für mich nur. Das Verbalabstraktum hätte doch rein theoretisch auch weiblich sein können, nein? Mentalität oder überlieferte Vorstellungen oder was auch immer hat es aber offensichtlich verhindert. Fänden Sie es sehr müßig, wenn man trotzdem weiterfragte, warum es eine römische weibliche Personifikation des Todes gab, im romanischen Sprachraum also diese Idee sich behaupten konnte, und warum man im Deutschen (im germanischen Sprachraum überhaupt? keine Ahnung) lieber den Tod schuf? Für Hel blieb da immerhin die Hölle, gut – aber ist das Degradierung oder Beförderung? Frag ja nur.
Reklov:
Ich betrachte solche Dinge (Wortstämme, -wurzeln) als Sprach“axiome“ und somit mit Aussicht auf Antwort kaum hinterfragbar. — Hel ist (wieder nach Kluge) die Todesgöttin. Im Germanischen ist der Tod also mask., seine Göttin fem.: Da haben wir also je nach Bedarf beides. Ähnliches hatten auch die Römer mit ihrem Unterweltherrscher Pluto(n), dem Bruder Jupiters und Neptuns. Die Römer und die Germanen hatten also zwei Wörter für ihre Vorstellung vom Tod: das den eigenen Tod betreffende war mors, das für den Herrscher der danach kommenden „Welt“ Pluto. Ähnlich auch mit Geschlechtsvertauschung die alten Germanen. Das Relikt von Hel ist im kath. Denken das Fegefeuer, das aber, soweit ich weiß – ich bin protestantisch erzogen -, keinen „Herrscher“ hat.
ray05:
… was steckt überhaupt hinter dem weiblich personifizierten Tod als image?
Nun, auch „das Leben“ ist ja weiblich [la vie] und l’existence ja auch; und jetzt kann ich mir gut vorstellen, dass der Lebenskreislauf von Geburt bis einschließlich Tod einfach komplett Frauensache ist. Wenn eine Frau das Leben schenkt, dann nimmt sie’s auch wieder. Warum wir Germanen hierzu einen „aktiv-männlichen“ Nichter, einen Auslöser und In-Marsch-Setzer brauchen, hm, keine Ahnung :)
tzscheche:
… daß die rationalistische Tradition der Franzosen nie ihre genuine Nähe zur Erotik verhindert, ich meine, wo sonst gibt es ein Buch wie die „Liaisons Dangereuses“, die „Schlimmen Liebschaften“ von Choderlos de Laclos, das derart Sprache und Erotik verbindet…
Wenn etwas die französische Kultur vor allen anderen auszeichnet, so ist es die ewige Lust zur steten Verfeinerung, zum raffinement.
Nichts ist dem Franzosen fremder als die Weltenschwere deutscher Romantik oder die Inbrunst angelsächsischer Dichtung. Was bedeuten schon Shakespeares bluttriefende Dramen gegen den Feingeist eines Racine oder eines Corneille ?
So liegt ja auch in dem von Ihnen zitierten Werk die Erotik nicht in der Erfüllung der Wollust, sondern vielmehr in der kunstvollen (und wortreichen) Inszenierung ihrer Anbahnung, bzw. sogar ihrer Verhinderung im allerletzten Moment.
Christian Erdmann:
Geradezu folgerichtig stammte dann auch der erste ernstzunehmende (weil er eben auch den Roman ernst nimmt) Essay zu Sacher-Masochs „Venus im Pelz“ von einem französischen Philosophen, Gilles Deleuze.
tzscheche:
Habe weder Sacher-Masoch, noch den dazugehörigen Essay gelesen, wohl aber Texte von Deleuze. Er ist ein vorzügliches Beispiel für die französische Lust am intellektuellen Spiel, die Fähigkeit, Welt sprachlich zu dekonstruieren und unter neuen Blickwinkeln wieder zusammenzufügen. Mille Plateaux ist so ein Text oder auch Le Pli: Leibniz et le baroque.
Christian Erdmann:
„Die Sprache der Erotik und die Erotik der Sprache“ (s.o.), man könnte auch sagen: bei denen ist Erotik Philosophie und Philosophie ist erotisch. Was schon mal eine ideale Voraussetzung dafür ist, daß man in Frankreich „den“ Philosophen nicht als Volltrottel betrachtet, der sich nur mit sinnlosem Zeugs beschäftigt. Der darf da richtig integriert sein in den Alltag, der Philosoph.
Bin auch sicher, daß in einem französischen Literaturforum die Verengung von „Belletristik“ auf „Romane“ sofort als Mißverständnis aufgeklärt würde.
@ray05:
Im Raum Tirol, Südbayern, Kärnten hat eine „Teadin“ überlebt. :)
Ob das jetzt tatsächlich Indiz dafür ist, daß der Tod „hierzulande ursprünglich ein weibliches Gesicht“ hatte, keine Ahnung.
ray05:
Apropos raffinement. Die Verfeinerung ist im Französischen auch männlich. :)
Christian Erdmann:
Die Frau ist ja auch schon verfeinert. :)
ray05:
Von wem? :)
Christian Erdmann:
Die kommen so auf die Welt. :)
ray05
Raffiniert ausgedacht. :)
river runner:
Lieber Aljoscha,
du grübelst mit „Hm“, ob Borges den Gracían wegen schweren Leidenschaftslos seyns abgelehnt hat. Dies ist zu vermuten. Aber ist seine Behauptung: „No hubo música en su alma… Er hatte keine Musik in der Seele…usw.“ wahr? Ich prüfe hier gerade die Frage, ob Baltasar Gracian leidenschaftlich oder nicht leidenschaftlich war.
Zu diesem Zweck habe ich zunächst einmal geprüft, ob Baltasar Gracian von irgendjemand leidenschaftlich geliebt wurde. Dazu habe ich bei amazon gelesen, dass sich Dein Buddy Nietzsche von ihm angezogen gefühlt haben soll. Könntest du einmal nachprüfen, ob Nietzsche leidenschaftliche Gefühle für Baltasar Gracian hatte?
Arthur Schopenhauer hat ihn sogar so sehr geliebt, dass er spanisch gelernt hat, nur um ihn übersetzen zu können. Der eher zurückhaltende Schopenhauer ist so auf Gracian abgefahren, dass er seinen „unvergleichlichen Criticón“ für „eines der besten Bücher der Welt“ hält, „vielleicht der größten und schönsten Allegorie, die je geschrieben worden“ Meine Frage an dich als Künstler und Philosoph: Was geht da ab, bei Nietzsche und Schopenhauer?
Aus der Buchbeschreibung: „Wenn Gracián ein Moralist ist, dann vor allem in dem Sinn, dass er die mores, die Sitten, vor allem aber die Unsitten wie kaum ein Zweiter kennt.“
Aljoscha, Baltasar Gracían ist mir ein Rätsel, da kann mich jetzt nur ein Nietzsche-Zitat von dir zu ihm weiterbringen.
Christian Erdmann:
Aber ich schlafe weder mit Gracian noch mit Nietzsche unterm Kopfkissen. :) Was Nietzsche neben dem kunstvollen Stil der Aphorismen und dem, was er für einen geschulten Psychologenblick hielt, beeindruckt haben könnte? Gracians „sabio“ war ein „Bewanderter“, ein kritischer Geist, ein Trugdurchschauer, ein Unabhängiger, aber auch ein kluger Lebenstaktiker, dem es vor allem um die innere Freiheit ging, für deren Bewahrung man auch mal, als Selbstschutz, Proteus sein muß, sich den Umständen entsprechend verstellen. Das von Dir geforderte Nietzsche-Zitat käme dann aus der „Fröhlichen Wissenschaft“:
„Und, um hier einiges zu verschweigen: so will ich doch meine Moral nicht verschweigen, welche zu mir sagt: Lebe im Verborgenen, damit du dir leben kannst !“
Vielleicht waren es auch die gar nicht so komplexen, verschlungenen, sondern die ganz einfachen Sachen bei Gracian, z.B.: „Sich keine Narren auf den Hals laden.“ :)
3 Antworten auf „Henkersmädel & Verfeinerung“
In einer echten Partnerschaft auf Augenhöhe lebt sich’s im Verborgenen nicht gut ;-) mag ich mal so gar nicht nebenbei närrisch mehr als behaupten. Narren sind auch weise, halten anderen Menschen teils metaphorische Bilder vor’s Antlitz, sind geistreiche Philosophen und mutige Wahrheitshinweisende, bringen Menschen zum Lachen. Ich denke grad so stante pede an indigene Völker, bei denen z. B. der Medizinmann durchaus auch mal das Pferd verkehrt herum ritt, sich am Schweif festhielt, um schallendes Gelächter zu erzeugen, was wiederum die Behandlung einer Krankheit erleichterte, weil existentielle Leichtigkeit die Schwere des Krankseins vertrieb ;-) Von kein Blatt vor ihren Mund haltenden Hofnarren ganz zu schweigen. Der für mich beeindruckendste war Äsop, von dem es auch heutzutage nicht viel so doch phänomenal Geniales zu bestaunen gilt.
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:)
https://christianerdmann.blogspot.com/2013/05/jakob-von-gunten-fool_22.html
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Hallo Christian
hab’s noch einmal in Deinem vorherigen Blog gelesen ;-) – wie schon zur Anfangszeit meines Dich Lesens sehr interessant –
anbei nicht mein ‚Senf‘ dazu so doch evtl. Dein Interesse Weckendes wenn nicht so sogar Inspirierendes
Alexander Knorr – Metatrickster
The Trickster
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