BerSie:
Nennen Sie mir das aufregendste Buch, das Sie je gelesen haben!
Christian Erdmann:
Ich empfinde bei Büchern wie bei Filmen oder Musik viel zu häufig „Das ist das Beste, was ich je…“, um die Frage wirklich beantworten zu können. Sehr aufregend war aber, als ich mit 20 Rimbaud entdeckte, seine Werke in zwei Tagen und zwei Nächten las, das Essen vergaß, direkt danach Enid Starkies Rimbaud-Biographie „Das trunkene Schiff“ aus der Bibliothek entlieh und nicht mehr zurückgab („Weiß nicht… muß mir jemand im Bus aus der Tasche gezogen haben…“) (später aber ein Exemplar legal erworben) (Verbrechen aus Leidenschaft, schon die griechischen Götter haben da ein Auge zugedrückt).
Sehr aufregend war auch die Lektüre von Stefan Zweigs „Ungeduld des Herzens“, die ich mit durch hohes Fieber bedingte Visionen ergänzte. Zwei andere Romane, deren Lektüre auch sehr intensiv für mich war, die aber beide in eine Art goldenes Herbstlicht getaucht sind, in Septembersonne, sind Jens Peter Jacobsens „Niels Lyhne“ und Rilkes „Malte Laurids Brigge“. Bulgakow, „Der Meister und Margarita“. Thomas Mann, „Der Zauberberg“. David Pirie, „Vampir Filmkult“. Nick Cave, „And the Ass saw the Angel“, yes, sehr aufregend, als dieser von mir sehr geliebte Sänger auch noch seinen Roman vollendete, und so einen großartigen. Sacher-Masoch, „Venus im Pelz“, und Sade, „Die Philosophie im Boudoir“, aber wie gesagt, ich bin leicht erregbar. Es gibt sehr viele „aufregendste“ Bücher, aber wenn ich mich auf EINS beschränken soll: alles von Dostojewski und Kafka.
thedirtydozen:
Nicht zu vergessen die „Sternstunden der Menschheit“! Eine Sternstunde der deutschen Literatur: ein Buch voller Lieblingssätze.
Christian Erdmann:
Ähnlich erging es mir bei Zweigs Schriften über Hölderlin, Kleist, Nietzsche / Dostojewski, Balzac, Dickens. Zweigs Ruf, ein „Frauenversteher“ zu sein, muß in den Hintergrund treten gegenüber der Tatsache, daß er ein Alleversteher ist. Bei Dostojewski wünsche ich mir immer, man könnte wie Wanja in „Erniedrigte und Beleidigte“ ständig von einer Romanfigur zur anderen gehen, aber des Gesamtoeuvres; bei Zweigs Sprache ist es einfacher – man möchte einfach ein Buch von Zweig sein.
fabi82:
Hätte man nicht besser sagen können.
Siebziger:
Forschere Seelen würden vielleicht „Sensibelchen“ meckern (…) Jeder seiner Sätze ist reif fürs Poesiealbum, und bei Stefan Zweig hat man nie das Gefühl, daß es gekünstelt ist, es klingt alles wahrhaftig und originär, also glaubwürdig.
Christian Erdmann:
„Sensibelchen“ – dann hätte man aber Stefan Zweig nicht nur als Mensch, sondern auch als Schriftsteller nicht verstanden. Alles, woran er je glaubte, und wovon jede seiner Zeilen Zeugnis ablegt, ging im Inferno unter. Damit ist ja nicht allein die sichtbare Zerstörung gemeint, nicht allein
„Wie kann ich arbeiten, wenn ich las, daß über einer englischen Stadt soundsoviele Bomben abgeworfen sind, daß im Atlantischen Ozean ein französischer Dampfer torpediert wurde, der dann mit soundsovielen Passagieren unterging. Ich mag die Zeitungen nicht mehr aufschlagen…“ – „Wie kann ich atmen, schlafen, essen, wie kann ich arbeiten, wenn ich weiß, daß diese sinnlose Zerstörung am Werke ist, daß tausende und abertausende unschuldiger Menschen von ihr dahingerafft werden.“
Wir haben von seinen Essays gesprochen – wie selbstlos hat er geistige Größe und Schöpfertum bei anderen bewundert. Welch anderer Schriftsteller war so sehr geistiger Kosmopolit, war so sehr von feiner, zarter, einfühlsamer Empathie. Wie recht hat Zweig mit diesem Satz:
„Nie hat eine Generation einen solchen moralischen Rückfall aus solcher geistigen Höhe erlitten wie die unsere.“
Auch wenn es tausend historisch relevante Dinge dazu zu sagen gibt: das bleibt Teil eines Unbegreiflichen auch für uns – wie war der Nationalsozialismus möglich nach Thomas Mann, nach Stefan Zweig, nach Rilke, nach nehmen Sie, wen Sie wollen, nach all diesen Büchern, die von Deutschen gelesen worden sind. Thomas Mann war über Zweigs Suizid ungehalten, auch Werfel klagte, Zweig habe mit dieser Tat dem Feind zum Triumph verholfen. Aber man muß einfach sehen, von wo aus gerade Zweig stürzte, wenn er sagte (zu Zuckmayer), die Welt, „die wir geliebt haben, ist unwiederbringlich dahin“.
Joseph Roth hatte ihm, Zweig, schon 1933 geschrieben: „Inzwischen wird Ihnen klar sein, dass wir großen Katastrophen zutreiben. Abgesehen von den privaten – unsere literarische Existenz ist ja vernichtet – führt das Ganze zum neuen Krieg. Ich gebe keinen Heller mehr für unser Leben. Es ist gelungen, die Barbarei regieren zu lassen. Machen Sie sich keine Illusionen. Die Hölle regiert.“ – Zweig hat das lange nicht glauben wollen. Dieses Nichtwahrhabenwollen dessen, was da geschieht, ich kann es nachvollziehen bei einem, der so sehr versuchte, die Höhe des Menschen für die Menschen festzuhalten. Die Vernichtung von Humanität und Toleranz war die Vernichtung seiner geistigen Heimat. Er muß gefühlt haben, daß sein ganzes Werk durchgestrichen ist. Wer hätte ihm sagen können, dort in diesem Bungalow in Petropolis, was er uns heute noch bedeutet.
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„Literatur – was lohnt es noch, zu lesen?“

2 replies on “Stefan Zweig”
Applaus. Und so aktuell wieder. „Aus großer Höhe abstürzen…“ Eben.
„Die Sternstunden der Menschheit“ und „Die Welt von gestern“ wurden mir große Augenöffner/Bildabrunder/Weiterbringer…
Stell dir vor, du bist Ossi vor dem Mauerfall noch in der dahinsiechenden DäDeräRetätä und liest die „Sternstunden..“ und darinnen die Episode über „Lenins Waggon“ und somit zum ersten Mal und ohne Vorwarnung eine Art entlarvtes Staatsgeheimnis: Der kaiserliche Generalstab und die Deutsche Reichsbank machte Lenin groß! Nicht die revolutionäre Arbeiterklasse!
Und ein paar Jahre später las ich die Tagebücher von Graf Keßler und darinnen seine Wahrnehmung der Lage an der Ostfront 1918/19 – und siehe: Nu weiß ich auch, wer den Kleinrussen eingeredet hat, dass sie keine Russen sind. Wieder derselbe Generalstab in der Absicht des ewig gültigen „Teile und herrsche!“ nach Brest-Litowsk – Und dann war ich wieder bei Zweig:
Man mag weder Nachrichten sehen noch Leitartikel lesen…
Die Idiotie galoppiert erneut.
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Hätte nie gedacht, nochmal zu erleben, wie die gute alte Russophobie und die gute alte teutonische Schneidigkeit gemeinsam wieder auferstehen. Beängstigend. Und wie Du sagst: nur noch 4,97 % Vernunft.
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