

SPIEGEL ONLINE Forum
28.09.2010
Christian Erdmann:
Am Donnerstag zeigt arte um 0:45 „Blut an den Lippen“ von 1971, Regie Harry Kümel, der auch „Malpertuis“ gemacht hat. Garantiert nicht jedermanns Sache, aber allein Delphine Seyrig als moderne Bathory-Vamp-Version lohnt das frühe Aufstehen.
30.09.2010
ray05:
Wecker gestellt wegen Blut an den Lippen. Madame Seyrig ist außerhalb jeder Diskussion. Sage nur Nymphenburg. Und dann: Andrea Rau. Auch außerhalb jeder Diskussion. Ach, ich schenk Dir jetzt was, schau:


Christian Erdmann:
Auf der Ile Saint-Louis, als wir die Regenrinne aus „The Ninth Gate“ gefunden hatten und somit das Haus, aus dem Johnny Depp kommt, das sich dann als Hôtel de Lauzun herausstellte, Club des Hachichins, stießen wir dann auch auf das Haus, in dem Nancy Cunard wohnte, die der dritte bedeutende Ray, außer Dir und Put a Raygun to my Head, so vortrefflich in Szene setzte,

danke also fürs Geschenk, Du weißt einfach, wie Du „Jetzt reichts, du schläfst heute auf dem Sofa!“ verhinderst. :)
Das Suchtmittel in Marienbad heißt Delphine, for sure. In „Les lèvres rouges“ / „Daughters of Darkness“ ist Andrea Rau eine Art, hm, Zofe für Delphine Seyrig, sehr entzückend mit ihrer Pagenkopf-Frisur, und sie wurde Kult als eine der schönsten – wie sage ich das, ohne zu spoilern – also es hat mit Wasser zu tun.
In den verfallenden Luxus eines riesigen, menschenleeren Hotels in Ostende tritt „die halluzinatorische Gestalt der Gräfin Bathory in enganliegendem Silberlamé, maskenhaft weiß geschminkt und mit tadelloser Dauerwelle – das genaue Abbild eines Vamps der dreißiger Jahre“ – so David Pirie in „Vampir Filmkult“, der auch Delphines „disziplinierte erotische Gier“ und den „entsetzlichen Stil ihrer Grausamkeit“ zu würdigen weiß. Mind you: 1971, Kunstkino, slow, mit allem strangeness-Pipapo, das der moderne Oberchecker „ungeschickt“ nennen wird, heutigen „Twilight“-Aficionados und Herzog-Bashern muß das schrecklich langweilig erscheinen, wenn gar nichts geht, bleibt immer noch Kümels „Malpertuis“, der ist MUSS.



ray05:
Club des Hachichins…
Christian Erdmann:
Klasse. Danke. Das Dritte, das mir bei Delphine Seyrig einfällt: ihr strahlendes „Wie Hitler!“ in „Geraubte Küsse“. Strömt einem schon die Libido über. Memo from Aljoscha: „The Hashishin“, Ry Cooder, „Performance“, im Film allzusehr im Hintergrund, es gibt kein besseres Sitar-Tabla-Dulcimer-und-Maultrommel-Stück, ‚ma sagen.
04.10.2010
ray05:
Oh ja! … :)
Mise-en-scène: Wunderbar die folgende lange Coffee-for-two-Einstellung. Austausch der Figuren Ehemann/Dienstbote in EINEM Move mit Tempogewinn. Unmittelbare physische Aktivierung des Seyrigvampirs: Mit Herrschaft über das Tablett („ICH werde servieren“) Herrschaft über die Szene mit Raumgewinn und direktem Swing ins Vorzimmer des Ungeheuerlichen zwischen Moccatischchen und Musikapparat. Ist gleich Herrschaft über Doinel gleich Raumgewinn im Kopf des Zusehers. Hypnotisierendes Servierritual, Todesangst des Opfers mit strammer Eiffelturmsymbolik. Alles EINE Einstellung bis zur Vorbereitung des berühmten Flucht-Montageclashs durch Zwischenschnitt ins Opferantlitz. Alfredismus pur. :)
Christian Erdmann:
… kapital, kapital. :) Unvergeßlich auch der Schnitt auf Lonsdale nach „Comme Hitler!“: klonk. Ein so wunderbar behämmert pißnelkiges Klonk gilt es erstmal zu leisten. Größer war Lonsdale nur noch mit Mademoiselle Rosenblum. :)
Bei „Daughters of Darkness“ wurde auch nochmal klar, daß Delphine Seyrigs Stimme zu den drei erotischsten Stimmen der Filmgeschichte gehört. Das bringt uns zu Marie-France Pisier. Der nächste obskure Film, der auf meiner Lieblingsliste landen wird, ist „Le Vampire de Düsseldorf“ von 1965, mit Robert Hossein als Peter Kürten, Hossein auch Regie und Beteiligung an Story und Drehbuch. Das hier ist Hossein mit Marie-France Pisier, und da habe ich dann schon keine weiteren Fragen mehr. :)


ray05:
Nun, vor „Daughters“ erfuhr ich wieder mal, dass es eine direkte Proportionalität zwischen der Anzahl entgangener Filmgenüsse ab null Uhr und zu Klump gehauener Elektrowecker geben muss. Die Kürtensache kenne ich auch nicht, aber Pisier musste ja mal die Clawdia Chauchat geben. Beim Geissendörfer. Von wegen Steppenwolfslichter! Von wegen kirgisenäugig! Ich kann mir beim besten Willen keine ordentliche Zauberbergverfilmung vorstellen; einfach, weil ich mir keine materialisierte Clawdia Chauchat vorstellen kann. :)
05.10.2010
Christian Erdmann:
Versteh schon. Hab Affinität zu dieser Verfilmung ja schon zugegeben, einmal, weil sie mir nach demotivierendem Deutschleistungskurs mal nahelegte, den „Zauberberg“ endlich auch mal zu lesen :), Christoph Eichhorn als Castorp, Hans Christian Blech als Hofrat Behrens, Rod Steiger, Flavio Bucci als Settembrini, Marie-France Pisier als Clawdia, für mich gingen die Figuren sehr gut durch, und später habe ich liebevoll Patina drübergestrichen, vielleicht über Gebühr. Wußte damals noch nicht, daß der kleine magere Mann von ätzender Häßlichkeit, an dem alles „scharf“ ist, „scharf sentenziös“, nach Georg Lukács modelliert ist. Katia: „Er legte sofort mit der Entwicklung seiner Theorien los, redete ununterbrochen auf uns ein und dozierte eine volle Stunde lang in unserem Zimmer. Mein Mann kam gar nicht zu Wort; er konnte gerade sagen: Ja, ja, das war ja sehr interessant. Da ging Lukács schon wieder weg.“ – Da wirkt Charles Aznavour vielleicht zu scheu, zu wehmütig, zu hintersinnig, nicht ätzend genug… mag sein. :)
22.10.2010
Monika Cate:
Sah „Last Year at Marienbad“ mit Delphine Seyrig drei Mal in drei Tagen, jedesmal ein anderer Film und er hätte diese Qualität auch beim nächsten und hundertsten Mal. Er bestätigte all das, was ich vorher gelesen hatte und was mich faszinierte Last Year und die Krönung war der tiefe persönliche Bezug, der sich herstellte, weil er mir bei aller Andersartigkeit soviel näher war mit dem, was er sichtbar machte, als die Mehrzahl von anderen Filmen, die ich bisher gesehen habe. Ich könnte fast sagen, er ist mein liebster Film, jedenfalls im Augenblick :) Er müsste mit auf die Insel, nein, er ist eine Insel. An keiner Stelle wiederholte er sich beim wiederholten Sehen, es waren immer neue Verbindungen, die sich fast wie von selbst herstellten zwischen den Figuren, den Korridoren, und mir. Nie fühlte ich mich als Betrachter, eher waren die Bilder, die Figuren, die Abläufe, die Gespräche Teile von mir, wie alte Bekannte.
Christian Erdmann:
„Am nächsten Morgen, nach Träumen schwer und süß, befindet sich Aljoscha in einem langen Korridor. Das Haupt-Gebäude, die Baukunst des Bewußtseins, muß von unermeßlicher Größe sein. Äußerst erstaunliche Architektur voller absurder, barocker, widersinniger, labyrinthischer, der Logik spottender und alles in allem doch wieder klarer Konstruktionen, die jedes Wort in Schweigen und jedes Schweigen in ein Wort verwandeln können. Das Echo ist eine Frage des Standpunkts. Die Begegnung ist eine Frage der Zeit.“
Das ist Marienbad. Irgendwann vor „Cat People“ war er Wegzeichen für Aljoscha, im Briefwechsel mit Pjotr würde man mehr darüber finden. :) Die Konstruktion des Roman-Anfangs trägt im Grunde dem in Filmthreads nicht beschreibbaren Phänomen Rechnung, daß sich Seinsströme durch Filme hindurch, nein, fast muß man sagen, in Form eines Films einen Weg in die Psyche bahnen und in der Innenwelt eine noch undefinierbare Determiniertheit mitgestalten. Nicht Determinismus, denn zwischen Erstaunen und Erkühnen machen wir dieses Schicksal. Just like you say: „nie fühlte ich mich als Betrachter“. Genau! das erklärt, warum Aljoscha „am nächsten Morgen“ von seinen nächtlichen Träumen in einen „langen Korridor“ gelangt und dieser zur „Baukunst des Bewußtseins“ gehört. Es ist das Wissen, daß es jetzt nach Marienbad geht, daß Marienbad schon immer da war.

Anhang: Kommentarsektion Antirationalistischer Block
11.06.2011
ray05:
Hätte jetzt wieder schwören können, dass die berühmte Kloschüsselszene aus „Charme discret“ ist und nicht aus „Fantôme“. Ist freilich genau andersherum. Seltsam, ich kann die beiden Filme nur als einen großen Monsterfilm denken. FSK ab 12, okay mit 12 hab ich den ganzen Bunuel-Kram hintereinander im TV gesehen – die große Bunuelreihe, muss so 1976 gewesen sein – mit Tristana & Viridiana & Archibaldo de la Cruz, Milchstraße [für den war ich eindeutig zu jung :)], Belle de Jour [für den auch :)]. Ah ja, Anne-Marie Deschodt als Mlle. Rosenblum, irrsinnig, die Frau, aber seltsam: mir fällt jetzt auf Anhieb kein Streifen ein, in dem Deschodt eine Hauptrolle gespielt hätte. War, glaube ich, mit Louis Malle liiert; Louis Malle, ausgerechnet. Kennst Du „Atlantic City, USA“ mit Susan Sarandon? Wieder ein Film auf meiner TODO-Liste, hab den fast völlig vergessen.
Gruß, Ray
12.06.2011
Antirationalistischer Block / Christian Erdmann:
Bunuel hat die ja auch beinahe als einen einzigen Film verstanden. :) Haben Dich damals auch all diese Bunuel-Frauen nicht mehr losgelassen? Irgendwann kam mein ex-bester Freund aus unserer Straße mal wieder vorbei. Das war der, der mir ein Paket mit 20 Zappa-Platten geschickt hatte, zum Anhören; und der dementsprechend komplizierte Rhythmen auf meine Sessellehne trommelte, während er dasaß und Befehl gab, daß ich mir an diesem Abend „Belle de Jour“ im TV anzusehen hätte: weil ich mich umgehend in Catherine Deneuve verlieben würde. So geschah es.
Ja, „Atlantic City, U.S.A.“ kenne ich, ist aber lange her, weiß nur noch, wie beeindruckend ich Burt Lancaster darin fand. Anne-Marie Deschodt und Louis Malle?! Wußte ich nicht! :)
Im September 2002 gesucht und gefunden: das Grab von Delphine Seyrig auf dem Montparnasse-Friedhof, Paris.

Delphine Seyrig als Countess Bathory erwidert die schmachtende Zärtlichkeit ihrer Zofe Ilona mit eleganter Noblesse und wird, da sich der vermeintlich normale Bräutigam als Paradebeispiel toxischer heterosexueller Maskulinität mit sadistischen Tendenzen entpuppt, zur verführerischen Rachegöttin. Harry Kümel hat einen der besten Vampirfilme der Siebziger, einen der besten Vampirfilme überhaupt erschaffen. „We sense that the past did not really look like this, but feel that it should have“, schreibt David J. Hogan in „Dark Romance“ über Delphine Seyrig in „Daughters of Darkness“.
Andrea Rau, die einst bei John Cranko in Stuttgart im Corps de Ballet tanzte, erzählt 2022 in einem Radio-Interview beim Filmfest Oldenburg, daß sie immer noch mit Harry Kümel befreundet sei und nur gute Erinnerungen an die Dreharbeiten habe. Sie sei aber immer verwundert, wenn man sie „ausgrabe“.
Die Wahrheit ist:
„Der belgische Filmemacher Harry Kümel, dessen ‚Daughters of Darkness‘ als einer der Schlüsselfilme der siebziger Jahre gilt, sagte über sie: ‚Es war eine wahre Freude, mit ihr zu arbeiten. Ihr Charisma war das eines Super-Filmstars. Auch die große Schauspielerin Delphine Seyrig, die es wissen musste, hielt sie für eine Sensation auf der Leinwand.‘
Die Rede ist von Andrea Rau, die in Kümels lesbischem Vampirdrama die Zofe der Gräfin Bathory spielt und mit ihrer devot mysteriösen Erscheinung, ihrem strengen Bubikopf gleichsam so unendlich viel Erotik und Melancholie ausstrahlt, dass ihre schiere Präsenz die einer Leinwandgöttin war. A Star was Born – viel unbekümmerter und erotischer als das ‚Schätzchen der Nation‘ Uschi Glas, die den Hauch des Bürgerlichen nie ganz abstreifen konnte. Eine Anna Karina, der nur noch der Belmondo an ihrer Seite fehlte. Nie Femme Fatale, immer nouvelle vague.“
(Website des Filmfest Oldenburg)