
Dies sind die ersten vier Zeilen aus „Marlene Dietrich’s Favourite Poem“ – „O lieb‘, so lang du lieben kannst“ von Ferdinand Freiligrath. Am 20. Juli 2025 entdeckte ich sie als Grabinschrift auf dem Ohlsdorfer Friedhof.

Freiligrath schrieb das Gedicht als Neunzehnjähriger im Jahre 1829.
O lieb‘, so lang du lieben kannst!
O lieb‘, so lang du lieben magst!
Die Stunde kommt, die Stunde kommt,
Wo du an Gräbern stehst und klagst!
Und sorge, daß dein Herze glüht
Und Liebe hegt und Liebe trägt,
So lang ihm noch ein ander Herz
In Liebe warm entgegenschlägt!
Und wer dir seine Brust erschließt,
O thu‘ ihm, was du kannst, zu lieb!
Und mach‘ ihm jede Stunde froh,
Und mach‘ ihm keine Stunde trüb!
Und hüte deine Zunge wohl,
Bald ist ein böses Wort gesagt!
O Gott, es war nicht bös gemeint, ―
Der Andre aber geht und klagt.
O lieb‘, so lang du lieben kannst!
O lieb‘, so lang du lieben magst!
Die Stunde kommt, die Stunde kommt,
Wo du an Gräbern stehst und klagst!
Dann kniest du nieder an der Gruft
Und birgst die Augen, trüb und naß,
― Sie sehn den Andern nimmermehr ―
In’s lange, feuchte Kirchhofsgras.
Und sprichst: O schau‘ auf mich herab,
Der hier an deinem Grabe weint!
Vergib, daß ich gekränkt dich hab‘!
O Gott, es war nicht bös gemeint!
Er aber sieht und hört dich nicht,
Kommt nicht, daß du ihn froh umfängst;
Der Mund, der oft dich küßte, spricht
Nie wieder: ich vergab dir längst!
Er that’s, vergab dir lange schon,
Doch manche heiße Thräne fiel
Um dich und um dein herbes Wort ―
Doch still ― er ruht, er ist am Ziel!
O lieb‘, so lang du lieben kannst!
O lieb‘, so lang du lieben magst!
Die Stunde kommt, die Stunde kommt,
Wo du an Gräbern stehst und klagst!
Ein Versuch der Übertragung ins Englische von mir:
Oh, love, as long as love you can!
Oh, love, as long as love you may!
The hour is coming, the hour is coming,
When you will stand at graves and mourn.
And make sure to let your heart glow
Let it cherish love and carry love
As long as there’s another heart
Beating for you with love so warm
And whoever opens up his heart for you,
Oh, to him, do all you can, in love!
And make his every hour happy,
And make no hour sad for him!
And guard your tongue with care,
Too soon an evil word is spoken!
Oh God, it wasn’t meant to hurt ―
But the other goes away in grief.
Oh, love, as long as love you can!
Oh, love, as long as love you may!
The hour is coming, the hour is coming,
When you will stand at graves and mourn.
Then you kneel down at the tomb
And hide your eyes, all cloudy, wet,
– Him they’ll never see again –
In the churchyard’s tall damp grass.
And you say: Oh, look down upon me,
Who weeps here at your grave!
Forgive me please for hurting you
Oh God, I didn’t mean you harm
But he doesn’t see you, doesn’t hear you,
Won’t come for you to embrace him joyfully
The mouth that often kissed you speaks
No more: I forgave you long ago!
He did; he forgave you long ago,
Yet many a hot tear has been shed
Over you and your harsh words ―
But quiet now ― he’s resting, he has reached the end!
Oh, love, as long as love you can!
Oh, love, as long as love you may!
The hour is coming, the hour is coming,
When you will stand at graves and mourn.
Über die Bedeutung von Peter Murphy in meinem Leben: Ich wüßte nicht wo anfangen. In „Eliza“ von „Lion“ (2014) singt Peter Murphy die Zeile: „I’m a painter on the hearts of those I sing for.“ Der vierte Track auf dem Album „Deep“, das Peter Murphy im Dezember 1989 veröffentlichte, ist „Marlene Dietrich’s Favourite Poem“, und auch mit diesem Song hat er auf mein Herz gemalt, eines der allerschönsten Gemälde.
Marlene Dietrich. Für die Liste meiner 111 Lieblingsfilme wählte ich „Shanghai Express“, aber ich hätte auch „Morocco“, „Dishonored“, „Blonde Venus“, „The Scarlet Empress“, „The Devil Is A Woman“, „Knight Without Armour“, „Destry Rides Again“, „A Foreign Affair“, „Witness for the Prosecution“ oder „Touch of Evil“ hinzufügen können. Wenn es im Himmel kein Hinterzimmer gibt, in dem Marlene Dietrich-Filme laufen, ist es nicht der Himmel.
„Marlene“ ist ein Film von Maximilian Schell aus dem Jahre 1984. Marlene Dietrich und Maximilian Schell kannten und schätzten sich seit den Dreharbeiten zu „Urteil von Nürnberg“ (1961), und Schell hatte häufig den Wunsch geäußert, mit ihr einen Dokumentarfilm über ihr Leben zu drehen. 1982 willigte sie schließlich ein unter der Bedingung, daß sie nur zu hören ist, aber nicht im Bild erscheint. Schell war einverstanden und dachte vielleicht, irgerndwann würde sie seinem Charme erliegen und ihre Meinung über das Filmverbot ändern, aber Marlene blieb eisern.
„Das ist es wahrscheinlich, was sie geheimnisvoll macht: daß eine so schöne und begabte Frau, die tun kann, was sie will, nur tut, was sie für unbedingt richtig hält, und daß sie so klug und mutig war, die Regeln aufzustellen, die sie befolgt.“ – Ernest Hemingway
Schell besucht die legendäre Schauspielerin in ihrer Wohnung in der Pariser Avenue Montaigne für vertraglich vereinbarte 40 Stunden Interview, und die ursprüngliche Absicht Marlenes, möglichst wenig von ihrem Innersten preiszugeben, schmilzt vor allem in der Szene gegen Ende des Films, als Schell und Marlene zusammen Teile von Freiligraths Gedicht rezitieren.
Bei der Zeile „Der Andre aber geht und klagt“, die sie mitspricht, bricht sie in Tränen aus, wir hören es in ihrer Stimme. Schell zitiert weiter, zuletzt schluchzt Marlene:
„Ich kann das ja leider nicht sagen. Dann muß ich heulen. Kann nicht, kann nicht… o Gott, o Gott… es ist… es ist vielleicht ein kitschiges Gedicht, aber ich weiß nicht, nein… meine Mutter liebte das sehr. Das sagen doch so viele Leute, es war nicht bös gemeint… und was die schönste Zeile darin ist… Der Andre aber geht und klagt… vielleicht heutzutage zu sentimental… vielleicht.“
Ich habe mein Leben mit einem Capricorn Girl verbracht, und ich habe keine Ahnung, ob Astrologie nur Spielerei ist oder nicht, aber ich weiß, daß dieser Satz von Marlene – „Ich weigere mich einfach, auf jegliche Art von Humbug hereinzufallen und nachzugeben.“ – einen Wesenszug des Steinbockmädchens perfekt beschreibt. Ebenso: „Da ich Dilettantismus hasse, würde ich mich nie an etwas wagen, das ich nicht eines Tages beherrschen könnte.“ Kenneth Tynan über Marlenes Stil: „Es ist das, was übrigbleibt, wenn man auf jede Anbiederung, Sentimentalität und alle Arten herzergreifenden Kitsches unbarmherzig verzichtet. Da bleiben nur noch Stahl und Seide, schimmernd und unverwüstlich.“
Marlene fragte Josef von Sternberg, wie sie in der letzten Szene von „Dishonored“, als ein Erschießungskommando Marie Kolverer hinrichtet, in den Schnee fallen soll. „Ich kann doch nicht falsch fallen!“ Kriegswitwe, Prostituierte, Spionin X-27 und als Verräterin Angeklagte: Maries Bestehen auf Haltung, Eleganz und darauf, vor den Schüssen noch einmal die Lippen nachzuziehen und die Strümpfe zu richten, ist ein letzter Triumph über das Schicksal; nicht einmal dem Tod ist es erlaubt, sie ihrer Würde zu berauben.
Sie ist hart gegen sich selbst und streng mit anderen, äußerst diszipliniert und auf die exzentrischste Weise ausschweifend, sie trägt ihre Träume trotzig durch die Wüste, ihre Loyalität, einmal gewonnen, widersteht jeder Gefahr bis in den letzten Winkel der Unterwelt, und man könnte sagen, sie ist hart im Nehmen. Ich sah, wie über ihrem Haar der Regen zögerte zu fallen, und wenn ein Capricornmädchen in Tränen ausbricht, dann hat die Welt gerade kurz aufgehört, sich zu drehen.
Und dann ist der Schutzwall um diese Seele plötzlich nicht mehr da, hot tears flow as she recalls her favourite worded token – und wir weinen mit ihr. Daß Peter Murphy, von dieser Szene ergriffen, diese Hommage an Marlene schreibt – the beauty of humanity. „Marlene Dietrich’s Favourite Poem“ hat einen verzauberten Klangteppich aus Akustikgitarren und Harfe, die verhallte elektrische Gitarre prophezeit ominös einen sich öffnenden Abgrund. Die 10 Sekunden ab 4:35, wenn Murphys Stimme sich erhebt für „Forgive me please for hurting so, don’t go away heartbroken, no“ – das ist der Moment, in dem er uns nochmals in Tränen hat. Mich jedenfalls.
Und nein, Freiligraths Gedicht ist nicht „sentimental“, nicht kitschig. Wie können wir so gedankenlos sein gegen das Beste, das uns im Leben zuteil wird? You get one shot at life. Irgendwann ist es zu spät für Verzeihen.
My mother loved it so, she said.
Im toten Winkel meines Lebens liegt ein Sternberg, letzte Szene: Nordlicht fällt auf eine nie falsch fallende Marlene.
My mother loved it so, she said
Sad eyed pearl and drop lips
Glancing pierce through writer man
Spoke hushed and frailing hips
Her old eyes skim in creasing lids
A tear falls as she describes
Approaching death with a yearning heart
With pride and no despise
Hot tears flow as she recounts
Her favourite worded token
Forgive me please for hurting so
Don’t go away heartbroken no
Just wise owl tones no velvet lies
Crush her velvet call
Oh Marlene suffer all the fools
Who write you on the wall
And hold your tongue about your life
Or dead hands will change the plot
Will make your loving sound like snakes
Like you were never hot
Hot tears flow as she recounts
Her favourite worded token
Forgive me please for hurting so
Don’t go away heartbroken no
Mother loved it so, she said
Sad eyed pearl and drop lips yeah
Glancing pierce through writer man
Spoke hushed and frailing lips yeah
Old eyes skim in creasing lids
A tear falls as she describes
Approaching death with a yearning heart
With pride and no despise
Hot tears flow as she recounts
Her favourite worded token
Forgive me please for hurting so
Don’t go away heartbroken no


Peter Murphy, „Thorns“ Series, 2023
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