
Kryoniker:
Gestern lief im TV „Die 39 Stufen“ von Hitchcock. Der Film ist von 1935 und dafür in Sachen Storytelling und Schnitt erstaunlich modern. Hitchcock war ein Visionär.
Aber das nenne ich mal einen „Agententhriller“: Absolut null Insiderwissen über Spionage und Geheimdienste, da wird nur ominös von „Staatsgeheimnissen“, „lautlosen Antrieben“ und einer geheimnisumwitterten geheimen Geheimgilde orakelt.
Aljoscha der Idiot / Christian Erdmann:
So, dann rekapitulier‘ doch mal die Formel für den Flugzeugantrieb, die Mr. Memory am Ende von sich gibt. :) – Georg Seeßlen hat mal geschrieben: „Man könnte sagen, wer einmal in einem Hitchcock-Film war, kommt nie wieder ganz heraus.“ So ist das. Jeder einzelne Film von Hitchcock erscheint mir mehr und mehr als vollendetes Wunderwerk, das man auch gar nicht mehr verlassen will, von dem aus man auch einen prima erbarmenden Blick auf das weniger Göttliche werfen kann. Jeder einzelne Film wie eine Kunstsammlung, ein Louvre an Schätzen, man könnte höchstens sagen, daß Raumnot herrscht, so voll sind die mit Brillanz auf jeder Ebene.
Wenn in „The Lady Vanishes“ Paul Lukas als Dr. Hartz verkündet, er habe Michael Redgrave (Gilbert) und Margaret Lockwood (Iris) paralysierendes Hydrocin verabreichen lassen, sagt Gilbert zu Iris: machen Sie alles Mögliche, um nicht einzuschlafen. Dann schwingt er sich durchs Zugfenster, um Miss Froy zu retten. In deren Abteil trifft er auf die Nonne mit den High Heels, die ihm sagt, „It’s all right, you haven’t been drugged“, sie habe den Befehl des Doktors nicht ausgeführt. Weitere Turbulenzen, irgendwann geht die Tür auf, hinter der wir kurz die entzückende Margaret Lockwood sehen, wie sie gerade Streckübungen macht, entschlossen und sexy. „Cut it out, kid, you’re not drugged, I’ll explain later!“ Allein für so eine Szene weigere ich mich, diesen Film zu verlassen.
Überhaupt, die Chemie zwischen Redgrave und Lockwood, zwischen Robert Donat und Madeleine Carroll, zwischen Cary Grant und Eva Marie Saint – diesen Funkenflug zu inszenieren beherrschte keiner so wie Hitchcock. Und ich weiß nicht, wer es 1935 noch gewagt hätte, aus dem Klick einer Handschelle das zu machen, was Hitchcock in „The 39 Steps“ daraus machte – darauf zu beharren, daß Madeleine Carroll sich in dieser Bondage-Situation die Strümpfe auszieht. :) Und so wenig sich Hitchcock-Filme insgesamt um Plausibilität zu bekümmern scheinen, so recht haben sie doch immer wieder auch darin: das Schicksal schliddert immer an der Farce entlang. Wie Hölderlin schon sagte: Wo aber Gefahr ist, wächst auch Screwball.
[SPIEGEL ONLINE Forum Lieblingsfilme – was ist „großes Kino“? – 28.04.2010]
(1:14:20)
Kommentarsektion Antirationalistischer Block
05.05.2012
Paganini’s:
An meine Geburt kann ich mich nicht mehr erinnern, aber auch nicht an ein Leben vor Hitchcock! Ich habe ihn nie auf der Kinoleinwand kennengelernt, sondern „nur“ im TV! Umso mehr musste ich vermutlich durch ihn sozialisierende Prägung erfahren! Hitchcock war immer! Übereinandergeschlagene Frauenbeine, gefangene Männerblicke, Strümpfe und Whiskey…! Ich wäre Ich, auch ohne Hitchcock!? Ja, aber anders!
07.05.2012
Antirationalistischer Block / Christian Erdmann:
Das ist wahr, Hitchcock war fast wie ein Familienmitglied, eine Art unberechenbarer Onkel, buchstäblich a household name. „Hitchcock“ hieß: Angstlust will never end. Ja, er war immer, und meine Initiation war „Die Vögel“. Abgesehen vom tagelangen Mißtrauen den Krähen gegenüber, den Tagen in der Zwischenwelt, war es eben auch Hitchcock, der mich lehrte, daß schöne Frauen in eleganten Kostümen ultraperfekt in einer Nußschale sitzen und den Außenbordmotor bedienen wie nichts. :) Und daß da draußen, vor der Tür, überall Risse sind in der Wirklichkeit, durch die Ungeahntes einfällt.
Bin eigentlich an dem Punkt angekommen, die Plausibilität bei Hitchcock plausibler zu finden als die Plausibilität selbst. Man könnte ja sagen, es sei unplausibel, daß Grace Kelly in „Dial M for Murder“ am Hörer siebenmal „Hello“ sagt.
Dial M for Murder, Grace Kelly
Und ich sage, wer das unplausibel findet, versteht nichts von Filmen, versteht nichts vom Leben, versteht nichts von Frauen, versteht überhaupt nichts und befindet sich auf einer Stufe mit Manni, Ralle und Dödel. :) Hitchcock, Strümpfe, Whiskey – war es nicht Brandy? Aber suspense [Hitchc.], suspenders [Brit.], wer wäre ich, da einen Zusammenhang leugnen zu wollen.

Aljoscha der Idiot / Christian Erdmann:
Der unterschätzteste Hitchcock-Film: „Marnie“.
Hitchcocks spezifische Art von Stilisierung, die trotzdem immer an Emotionen rührt und im Dienste psychologischer Tiefe steht, die Verwendung von Künstlichkeit in Stilmitteln wie den unfaßbar offensichtlichen Backprojektionen und gemalten Kulissen, das grenzt hier ans „Fuck you“, aber es grenzt eben nur, ohne so offensichtlich zu sein wie in „Frenzy“, wo er nur noch disgusting sein wollte, ohne daß die obsessive Faszination am atemberaubend attraktiven, aber hochkomplexen Frauencharakter ihn antrieb. Meine eigene Faszination am Charakter Marnie und an Tippi Hedren mal außen vor: Robin Wood hat wohl als erster festgestellt, daß Hitchcock in „Marnie“ im Grunde in der Traditionslinie des deutschen Expressionismus steht, er hat ja in deutschen Studios angefangen und war von Fritz Lang sehr beeindruckt.
Die Beziehung zwischen Marnie und Mark Rutland ist eine von Hitchcocks absoluten Meisterleistungen, die Rutland-Rolle ist auch eine von Connerys besten Leistungen – er will Marnie verstehen, ihr helfen, will Prinz mit Retterrüstung sein, gewiß, aber er will sie auch besitzen, vergewaltigt sie; und Connery ist hier groß darin, die smarte „Verläßlichkeit“, die wir kürzlich auch Rod Taylor zuschrieben, von Anfang an mit etwas Dunklem und Bedrohlichem aufzuladen. Er ist nicht einfach „protective“, er ist auch sexual predator mit einer Obsession. Im Grunde ist er fast noch komplizierter als Marnie: er sucht das verstörte Mädchen hinter der Superbitch, will aber die Superbitch behalten. Der Film wurde gehaßt, aber anders als bei Powells „Peeping Tom“ scheint nie so richtig klar, warum eigentlich genau; auch das betrachte ich als grandiose Leistung Hitchcocks.
Eine der Antworten dürfte sicher auch die Art gewesen sein, wie Marnie, in ihrem Ultraglamour (ist eigentlich jedem klar, daß Holly Golightly bei Capote ein Callgirl ist? Ich weiß nicht), ihren Hass auf Männer umsetzt, die Diskrepanz zwischen äußerer Attraktion und innerer Repulsion könnte nicht größer sein. Das Großartige ist aber, daß Connery sie trotzdem – oder deshalb – um so mehr will. Und auch Marnie will etwas gegen ihren Willen. Das psychosexuelle Wirrwarr, das daraus resultiert, ist phantastisch umgesetzt.
[SPIEGEL ONLINE Forum Lieblingsfilme – was ist „großes Kino“? – 25.11.2009]




Aljoscha der Idiot / Christian Erdmann:
Ein sehr ergetzlicher Hitchcock, den selten jemand auf dem Radar hat, ist „Young And Innocent“ von 1937, der völlig unbekümmert von einer unglaubwürdigen Szene zur nächsten springt, mit einer Nova Pilbeam als lead actress, die aussieht wie eine Tochter Marlene Dietrichs ohne Interesse am Vampsein, und sehr viel interessanter Kamera-Arbeit, vor allem eine lange Fahrt von einem panoramischen Blick in einen Tanzsaal auf ein paar Augen (genial), insgesamt den Suspense auf die leichte Schulter nehmend und easy-going, überaus charmant und unterhaltsam.
[SPIEGEL ONLINE Forum Lieblingsfilme – was ist „großes Kino“? – 29.11.2009]
Aljoscha der Idiot / Christian Erdmann:
Mit Hitchcock ist man ja aufgewachsen, aber dann kommt die Phase, wo man erkennt: ganz gleich, wie oft du einen Hitchcock-Film gesehen hast, du bekommst die Geschichte nicht mehr hundertprozentig zusammen, und du freust dich auf das nächste Mal wie auf ein erstes Mal, von dem du aber schon weißt, daß es großartig sein wird. Frieda Grafe schrieb mal: „Hitchcocks Geschichten sind keine Erzählungen alten Stils. … Der Beweis: hinterher hat man größte Mühe, auf die Reihe zu bekommen, was man gesehen hat.“
Diese Kunst, im Grunde ständig auf die Konstruktion des Phantastischen zu verweisen, ohne die Geiselnahme kortikaler Zentren auch nur eine Sekunde zu unterbrechen, das haben Hitchcock und Lynch wirklich gemeinsam. Wahrscheinlich ist es dieses Traumartige bei Hitchcock, das mir Tippi Hedren als ideale Hitchcock-Heroine erscheinen läßt. Was könnte traumhafter sein als die ultraperfekt gestylte, hyperrealistisch in Szene gesetzte Melanie Daniels im Umgang mit dem Außenbordmotor? :)
[SPIEGEL ONLINE Forum Lieblingsfilme – was ist „großes Kino“? – 05.03.2010]








Anselmi:
Von den Franzosen mal abgesehen, könnte niemand auf die Idee verfallen, The Lady Vanishes tiefenpsychologisch zu analysieren.
Aljoscha der Idiot / Christian Erdmann:
„Die 39 Stufen“ – hätte ich die Chance auf eine Nacht in einem schottischen Gasthaus ans Handgelenk von Madeleine Carroll gekettet, ist das letzte, was man braucht, ein deutelnder Franzose. Deleuze ich mir nicht reinreden.
[SPIEGEL ONLINE Forum Lieblingsfilme – was ist „großes Kino“? – 12.07.2006]

Im II. Weltkrieg stellt Madeleine Carroll ihr Château in der Nähe von Paris für mehr als 150 Kriegswaisenkinder zur Verfügung. 1944 ist sie als Red Cross Nurse an der Front, im American Army Air Force’s 61st Station Hospital in Foggia. Nach dem Krieg hilft sie ehemaligen Gefangenen der Konzentrationslager.
„In America you call this man ‚Hitch‘. In France we call him ‚Monsieur Hitchcock‘. You respect him because he shoots scenes of love as if they were scenes of murder. We respect him because he shoots scenes of murder like scenes of love.“
Francois Truffaut, AFI Life Achievement Award, Los Angeles 1979