Manchmal, wenn Aljoscha aufs Meer hinaus sah, meinte er sich an sein Schiff erinnern zu können, an das Ächzen und Knarren der Planken und Spanten, an das verzerrte Gesicht des Steuermanns, an Admiral Nelson, der nachts bei rauher See bisweilen aufstand, um die Schiffskatze zu trösten. Das ließ seine erste Ehe scheitern.
Es war ihm selber ein Rätsel, aber wenn er wollte, konnte Aljoscha nahezu waschechtes Cockney-Englisch sprechen. Und in einem verschämten Winkel seines Herzens glaubte er, daß er in einem früheren Leben hinter einem der Fenster aufgewachsen war, unter denen die Huren von Whitechapel Wünsche weckten und nicht selten auch an Ort und Stelle erfüllten, daß er dann ausgerückt war zu den Docks von Bristol oder Plymouth, in Moloneys Bar seine Seele für ein paar Silbermünzen und eine Blasphemie verkauft hatte und dann an Bord gegangen war. Dafür sprach unbedingt, daß die alten Lieder aus England, Irland oder Schottland, die vom Leben der wehmütigen Seemänner und der tapferen Fabrikmädchen handelten, von blutigen Schurken wie Long Lankin, von der toten Braut, die als Geist zurückkehrt, oder von Thomas The Rhymer, den die Elfenkönigin ins Elfenland entführt, in Aljoscha stets den ungereimten Wunsch weckten, in der Zeit dieser Lieder gelebt zu haben – bis er sich eben sagte: das habe ich dann ja wohl, verflucht.
Oft war es Musik, bei der die Melodie sich über einem einzigen beständig durchgehaltenen Akkord erhob; schon das machte Aljoscha völlig widerstandslos. Wie ein fester Blick, in dem die Macht von tausend Worten liegt. Eine Weite tat sich auf zum Auf-die-Knie-Sinken, und jede Melodie darin klang wie das erste oder letzte Lied auf Erden. Und wenn dann auch noch D-Dur die Tonart war! A Sailor’s Life, ein ganzes Seemannsleben in D-Dur… Aljoscha konnte keine Noten lesen, aber sobald er Musik hörte, bei der er sich wünschte, daß sie niemals aufhört, konnte er 100 Guineas darauf setzen, daß D-Dur im Spiel war.
Wenn er also in einem früheren Leben Seemann gewesen und ertrunken war, wenn ihn die Undinen auf den Meeresgrund gezogen hatten, wenn in diesem Leben nun sein Ohr so überaus empfänglich für D-Dur war, und wenn das Meer uns ein Gedächtnis gibt für das letzte, was man hört nach einem Schiffbruch, dann konnte das zusammengefaßt nur eins bedeuten: die Undinen sangen in D-Dur.
[Christian Erdmann: Aljoscha der Idiot]
Sandy Dennys Stimme geleitet dich zurück in vergangene Zeiten. Wenn sie Fotheringay singt, siehst du ein letztes Mal die Sonne untergehen mit den Augen der Maria Stuart, am Abend vor ihrer Hinrichtung. Du spürst den Stein der alten Burgmauer, an den sie ihre Hand legt, als sie in der Fensternische steht. Ich würde jeden verstehen, der, wenn er zum ersten Mal diese Stimme hört, das Gefühl hat, er habe noch nie eine schönere Stimme gehört. Tatsächlich kennen viele Menschen ihre Stimme, dank eines beeindruckenden Gastauftritts auf einem Album einer begnadeten Band, von dem bislang 37 Millionen Exemplare verkauft wurden. (Sie hat nie einen Penny dafür erhalten und nie um einen Penny gebeten). Sehr viel weniger Menschen kennen ihre Arbeit mit Fairport Convention oder ihr Solowerk. Als einer ihrer signature songs gilt Who Knows Where The Time Goes; und diese sechs Worte beschreiben, was aus Sandy Dennys Stimme spricht. Ihre Stimme beschwört das Vergehen der Zeit, sie ist voll winterlicher Melancholie und tiefer Traurigkeit, sie ist aber auch die Schönheit im Verfließenden; sie ist Wehmut, Abschied, sie hat irgendein undurchschaubares Verhältnis zur Zeit, wie es Capricornmädchen eignet; sie kennt Geheimnisse der Vergangenheit. Greil Marcus schrieb einmal, Sandy Denny singe über Adelige und Leibeigene, als singe sie über everyday life; „and she sang about everday life as if from a perspective of a woman a thousand years gone.“
Fairport Convention spielen eine Art American Folk, bis Sandy Denny in die Band kommt und ihre Liebe für „die alten Lieder aus England, Irland oder Schottland“ mitbringt. Sie singt „A Sailor’s Life“, eine traditionelle Folkballade, von der es zahllose Variationen gibt, im dressing room zum Aufwärmen. Am 26. Februar 1969, backstage im Adam und Eve Club in Southampton, beginnen die anderen Bandmitglieder, sie dabei zu begleiten, und an diesem Abend spielen Fairport Convention den Song zum ersten Mal auf der Bühne. Der große Joe Boyd – der Produzent, der auch Nick Drake protegierte, und ohne den Nick verloren war -, geht hinter die Bühne und sagt: Das müssen wir aufnehmen, das ist phantastisch. Band: Was, wenn wir noch einen traditional musician dazunehmen, jemanden wie Dave Swarbrick? Boyd: Gut, ich rufe ihn an. Verblüffte Band: Oh, you know Dave Swarbrick?!
Boyd sagt, es habe vielleicht einen run-through mit Swarbrick gegeben vorher, aber was wir in diesen unvergleichlich wunderbaren 11 Minuten hören, ist one single take, direkt aufgenommen, keine Nachbearbeitung, keine Overdubs.
Die LP „Unhalfbricking“ entsteht zwischen Januar und April 1969. Kurz nach dieser Aufnahme von „A Sailor’s Life“ verunglückt am 12. Mai 1969 nach einem Auftritt in Birmingham der tour van der Band auf der M1 schwer; bei dem Unfall kommen Schlagzeuger Martin Lamble und Jeannie Franklyn, die Freundin des Gitarristen Richard Thompson, ums Leben. (Farewell, Farewell von „Liege & Lief“ ist auch Thompsons Abschied von den beiden). Martin Lamble ist bei seinem Tod erst 19 Jahre alt.
Das brillante Können dieser blutjungen Musiker – Richard Thompson ist bei den Aufnahmen 19, Simon Nicol 18, der zu diesem Zeitpunkt bereits legendäre Dave Swarbrick ist gerade 27 -, das sich auf „A Sailor’s Life“ entfaltet, fließt in eine der großartigsten Instrumentalpassagen aller Zeiten, und Sandy Denny – niemand sang wie sie.
„Sandy had a way of really living a song. And I think she was able to do it because she had a very acute imagination. You could almost describe Sandy as someone who didn’t have any skin. She was so hypersensitive to every little thing in the world, it was as if she lived more vividly than the rest of us. And I think that ability to get right inside a song, inside the persona of a song, was really quite extraordinary.“ – Richard Thompson.
„No one came anywhere near Sandy. She was the best. She just had that very special quality when she sang a beautiful song. It broke your heart.“ – Ashley Hutchings.
„A Sailor’s Life“ hat mir tausendmal das Herz gebrochen. Sandy Denny singt untröstliche Verzweiflung mit kristallklarer Stimme; emotionale Intensität von absoluter Reinheit, ohne gesangliche Tricks, erhaben, tief berührend, haunting.
Das qualvolle Warten der Geliebten auf ihren sailor boy: Thompson, Nicol, Swarbrick, Hutchings und Lamble sind das Meer, das noch ruhig ist, aber schon drohend, mit Martin Lambles crashing waves. Sie macht sich auf die Suche nach ihm, mit ihrem bonny boat, und die Musik beschreibt die gefährliche, aber zunächst noch hoffnungsvolle Fahrt. Sie fragt die Seeleute eines vorbeifahrenden Schiffes, und sie antworten ihr: wir haben ihn aus den Augen verloren, wir fürchten, er ist ertrunken. Vom Schmerz gebrochen, ohne ihren William mag sie nicht leben, steuert sie ihr Boot gegen einen Felsen. Wie die Musik sich ab etwa 6:10 zu überwältigender Dramatik steigert, die den stürmischen Verlauf der schicksalhaften Seefahrt illustriert, wie das unglaubliche, scheinbar telepathische Zusammenspiel aller, besonders von Thompsons Gitarre und Swarbricks klagender Violine, die Verzweiflung des Mädchens und das aufgewühlte, tosende, immer wütendere Meer illustriert, das alles zu vernichten droht – ganz groß, das Werk von Genies. Zuletzt beruhigt sich das Meer, aber nach der Tragödie, die wir gerade miterlebt haben, kann uns auch die anbrechende Dämmerung nach dem Sturm nicht trösten.
Der einzige Trost ist, daß wir gerade eine unbegreiflich grandiose historische Aufnahme gehört haben.
Und es ist die Geburtsstunde des britischen Electric Folk Rock. Dave Swarbrick bleibt gleich in der Band und bereits im Dezember 1969 veröffentlichen Fairport Convention „Liege & Lief“, und das Album gilt noch heute als der Klassiker des Genres. Sandy Denny verläßt Fairport Convention nach den Aufnahmen für „Liege & Lief“, auch Ashley Hutchings, für den diese alten Songs zur Obsession geworden sind, nimmt seinen Hut und gründet Steeleye Span. Steeleye Span mit Maddy Prior und Fairport Convention mit Sandy Denny sind die beiden Bands, deren Musik die Passage in „Aljoscha der Idiot“ inspirierte, und noch immer können diese beiden Stimmen mit mir machen, was sie wollen.
A sailor’s life, it is a merry life
He robs young girls of their heart’s delight
Leaving them behind to weep and to mourn
They never know when they will return.
„Well there’s four and twenty all in a row
My true love he makes the finest show
He’s proper tall, genteel withal
And if I don’t have him, I’ll have none at all.“
„Oh father, build for me a bonny boat
That on the wide ocean I may float
And every Queen’s ship that we pass by
There I’ll enquire for my sailor boy.“
They had not sailed long upon the deep
When a Queen’s ship they chanced to meet
„You sailors all, pray tell me true
Does my sweet William sail among your crew?“
„Oh no, fair maiden, he is not here
For he’s been drownded we greatly fear
On yon green island as we passed it by
There we lost sight of your sailor boy.“
Well she wrung her hands and she tore her hair
She was like a young girl in great despair
And her little boat against a rock did run
„How can I live now? My sweet William is gone.“
Sandy Denny, Gesang. Richard Thompson, Leadgitarre. Simon Nicol, Gitarre. Dave Swarbrick, Violine. Ashley Hutchings, Bass. Martin Lamble, Schlagzeug.

Ich besaß einmal ein klassisches Matrosenhemd. Eines Tages kam ich in diesem Matrosenhemd und weißer Seemannshose verspätet zu einer Philosophie-Vorlesung in den vollbesetzten Hörsaal, und der Professor unterbrach kurz seinen Vortrag, um zu bemerken: „Ah, die Marine ist auch schon da!“
Natürlich hatte so ein Matrosenhemd Konnotationen, die nicht dazu paßten, daß ich Hand in Hand mit IHR ging. Ich hatte offenbar sowieso eine Ausstrahlung, die auf manche Schwule anziehend wirkte, ich fühlte mich geehrt und verneinte freundlich. Für mein Matrosenhemd gab es andere Gründe. Dieses Video. Und „A Sailor’s Life“. Weil ich in einem früheren Leben… und so weiter.
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