




Lieblingsfilme: Was ist ‚großes Kino‘? [SPIEGEL ONLINE Forum], 2007 – 2009.
Christian Erdmann:
Während hier alles brachliegt, breche ich eine Lanze für Stanley Kubricks „Barry Lyndon“. Entgegen aller anderslautenden Gerüchte ist der Film nur lang, aber in keiner Sekunde langweilig. Im Zeitalter der screenshots ist es möglich, sich Gainsborough-Bilder an die Wand zu hängen, die nicht von Gainsborough sind, weil sie von Kubrick sind. Schauspieler, von denen man das nicht unbedingt erwartet – Ryan O’Neal, Marisa Berenson – gehen einem plötzlich mit der stillen Intensität an die Nieren, die Kubrick in ihre Gesichter gezaubert hat. Von Nebendarstellern wie Murray Melvin als Reverend Runt gar nicht zu reden, der seine geheime Liebe zu Lady Lyndon unter seiner zimperlichen Pietät verbirgt; wenn man Melvin am Spieltisch sieht, wie er der Blicke zwischen Redmond Barry und Lady Lyndon gewahr wird, und man Zeuge wird, mit welch minimalen Mitteln er ausdrückt, daß für ihn gerade eine Welt zusammenbricht, möchte man Helmut Berger zustimmen: „Es gibt keine Charlotte Rampling mehr“.
Der Film ist ebenso ätzende Satire wie distanziert-zärtliche Annäherung. Man fällt in Szenen hinein, bis die Erzählstimme ironisierende Kontrapunkte setzt. Ein ständiges Wechselbad zwischen tiefer, süßer Romantik (Barry und Lady Lyndon auf dem Balkon) und knallharter Entlarvung von Opportunismus und Oberflächlichkeit.
Bei der Duellszene zwischen Barry Lyndon und Lord Bullingdon nach 2½ Stunden war seinerzeit die Hälfte der Kritiker, die nach „Clockwork Orange“ von Kubrick offenbar alles, nur nicht dies, erwartet haben, vermutlich bereits eingeschlafen; mir hingegen stockte der Atem. Über 10 Minuten hinweg. Im Grunde ist „Barry Lyndon“ ein Actionfilm par excellence, nur daß der special effect, den Kubrick dabei einsetzt, darin besteht, die „Action“ aus Gesichtern hervorscheinen zu lassen, Gesichter entweder von einer dem Zeitalter entsprechenden Maskenhaftigkeit, oder, wie bei Redmonds Barrys Mutter, dem höflichen Highwayman-Räuber und seinem Sohn, oder dem englischen Offizier, den Redmond zu Beginn des Films brüskiert und hernach in einem Duell zu töten vermeint, von einer gnadenlos überzeugenden Authentizität. Souveräner und virtuoser als Kubrick, das in jeder Sekunde detailversessene Genie, führt niemand in die Mitte des 18. Jahrhunderts.
Händel, Vivaldi, Schubert, The Chieftains – nicht nur setzt Kubrick mit dem Einsatz der Musik immer, IMMER, auf unübertreffliche Weise Stimmungen, die Musik gehört so sehr zu diesen Bildern, daß man hinterher Schuberts Klaviertrio (opus 100) nicht mehr hören kann, ohne an Marisa Berensons stummes Leiden zu denken. Dös is faktisch, wie Joseph Roth immer sagte, außer für jene, die bei Schuberts Klaviertrio an Catherine Deneuve in „The Hunger“ denken, natürlich.
Unterschätztes Meisterwerk, ganz großes Kino.
Gwynplaine:
Auf jeden Fall! „Barry Lyndon“ bewundere ich sehr. Die Duell-Szene ist in der Tat sehr intensiv. Auch der Hass in Bullingdons Augen, als er von seinem Stief-Vater demütigende Prügel bezieht.
Christian Erdmann:
Das Großartige und Wunderbare ist, daß Kubricks angeblich immer so „kühler“ Blick und diese permanente Desillusionierung nicht verhindern, daß man genuine compassion mit diesen Figuren empfindet, noch nach 27 Stunden, als Redmond und Lady Lyndon am Bett ihres sterbenden Sohnes sitzen. Kubrick bringt einem, bei aller Kritik an ihnen, diese Figuren näher, als es viele andere „ach so intime“ Filme der 70er heute – wenigstens bei mir – vermögen. „Das siebente Siegel“ wird immer groß sein, aber „Szenen einer Ehe“? Gut, wichtig… aber nichts für mich.




BerSie:
Bei „Barry Lyndon“ möchte ich ergänzen, dass in den Innenräumen mit lichtstarken Objektiven nur bei Kerzenlicht gefilmt wurde! Damals eine Innovation!
Christian Erdmann:
Mit Equipment von der NASA! Marisa Berenson hat erzählt, daß bei manchen close-ups die Schauspieler sich keine Handbreit rühren durften, sonst wären sie aus dem Fokus verschwunden.
Ich könnte gar nicht aufzählen, wo überall ich, seit Marisa Berenson in „Barry Lyndon“, überhaupt nicht mit mir handeln lasse und auf Einwände bezüglich schauspielerischer Leistung sofort in verständnisloses Anstarren verfalle, im günstigsten Fall die Virtuosität zartester Mundwinkelbewegungen rühme und insgeheim eine Karriere als Minnesänger ins Auge fasse. Kann mich noch gut erinnern, wie mal, als ich 15 war oder so, Wolf von Lojewski den Film „The Jungle Princess“ mit Dorothy Lamour ansagte und dabei schwer didaktisch wurde. Als der Film vorbei war, beschloß ich: ich höre dich nicht, Wolf von Lojewski, nie mehr.







Christian Erdmann:
Marisa Berenson in „Barry Lyndon“ ist so verstandraubend, ich krieg‘ immer SO’N Hals wegen Redmond, wenn er seinen Tabakqualm in ihr Antlitz bläst.
Sagte ich schon, daß „Barry Lyndon“ der Lieblingsfilm von Brian Eno ist? Wahrscheinlich schon.
Das Leben ist ja auch deshalb oft so unverständlich, weil es Menschen gibt, die sich nicht sofort beim ersten Auftauchen von Lady Lyndon in Spa in sie verlieben.







[Kommentarsektion Antirationalistischer Block, 2012]
AugenBlickerin:
Es war einer dieser Tage, an denen nichts so ist, wie es sonst ist. Anfang oder Mitte der 90er Jahre, im großen Saal mit ebensolcher Leinwand, im Schloßtheater in Münster. Eigentlich wollte ich ‚Barry Lyndon‘ sehen, zum allerersten und bis heute letzten Mal. Irgendwie habe ich das auch, und dann doch wieder nicht. Normalerweise kann ich problemlos zwischen ‚Im Film, in der Geschichte sein‘ und ‚Zwischendurch einmal die Machart bewundern‘ wechseln, wobei ich meistens bis auf kleine Millisekundenausflüge komplett in der Geschichte bin beim ersten Viewing. Aber damals saß ich nur so da in diesem Kinosessel – völlig umsetzungshingerissen – und habe mich first and foremost seit der Kerzenszene den Restfilm über immer nur gefragt „Wie zum Henker haben die das gefilmt?“, weil nirgendwo Anzeichen für eine andere Beleuchtung als eben diese Kerzen auszumachen waren. Makes perfect sense, lichtstarke Objektive von der NASA. Was auch sonst, Kubrick halt … trotzdem, ich kann mich überhaupt nicht an die Geschichte erinnern, die Du – zusätzlich zur Umsetzung und vor allem Marisa Berenson – so wunderbar und bewundernd beschreibst. Lediglich Ryan O’Neal ist bei mir hängengeblieben nach ‚Paper Moon‘, dachte so bei mir „Was für ein gutaussehend-blasiertes Arschloch dieser Mann, in dieser Rolle, einfach großartig“, während ich den Film nicht sah. Da fällt mir ein, ich muss Peter Greenaway in meine Lieblingsfilmliste aufnehmen, weil ich bis ‚Prosperos Bücher‘ alle seine Filme eben in jenem Schloßtheater erwischt habe.
Anonym:
(Annette to Barry Lyndon)
…wenn ich Ihren Blog weiter verfolge, kann ich meinen Job an den Nagel hängen, nur noch all dies in mir, was mich so sehr an das erinnert, das ich liebte. Thackereys „Jahrmarkt der Eitelkeiten“ hat mal zu meinen geheimnisvollen Top Ten gehört, die man nie wirklich erklären kann. Eine Berührung ohne Grund. Den Film von Kubrick kenne ich noch nicht. Die Szene, die Sie zum Abspielen hineingestellt haben, ist a-tem-be-raubend. Ich werde mir nun ein Kino mieten, ein Glas Schampus einschenken und schauen! Monsieur, wie halten Sie all das aus!
Antirationalistischer Block / Christian Erdmann:
Britta: *Neglected masterpiece* wie „Marnie“, I seem to have a penchant for those. Mich verwirrt immer, wenn Kubricks Filme, zumal dieser, „kalt“ genannt werden. Weil jemand Leidenschaft, Herz und Seele in seiner Kunst nicht nach gängigen Klischee-Vorstellungen zeigt? Finde die zweite Hälfte von „Barry Lyndon“ in ihrer Intensität manchmal kaum auszuhalten. Ein guter Satz, den man bei imdb lesen kann:
„[…] so beautiful to look at that it almost becomes artistic pornography (in the sense of creating intense emotion).“ Auch: „The film’s greatest scene – the gambling table, where Barry and Lady Lyndon stare at each other in the candlelight like clockwork figures forced into humanity, is a masterpiece of cinema translating minimalist acting into genius …“
Ist es wichtig, daß der Erzähler mit ironischer Überlegenheit kommentiert, was wir sehen und hören? Schon. Bedeutender aber ist, wie die Intimität und Tiefe der Bilder, wie all die subtilen Gesten und Blicke die Selbstsicherheit des Erzählers unterminieren. Wie Ryan O’Neal Barry eine Komplexität gibt, die eine Beschreibung als irischer Halunke, Opportunist & upstart oberflächlich bleiben läßt. „Barry Lyndon“ betritt man wie eine Welt, und man gleitet durch sie wie durch einen Traum. Kubrick gibt einem die Zeit dazu. Und in there fühlt man, wie unendlich komplexer alles ist, als selbstgerechte Kommentare glauben machen wollen. So wie man hinter der makellosen Beherrschtheit und scheinbaren Unnahbarkeit bei Marisa Berenson a flood of emotions erkennt. Bis mit ihren Tränen die Geschichte absolutely heart-wrenching wird. Und man verläßt diese Welt mit derselben Melancholie, mit der man aus manchen Träumen erwacht.
Marisa Berenson bekam die Anweisung, schon Monate vor Drehbeginn jedes Sonnenlicht zu meiden. :)
Nach meinem Greenaway-Elaborat (pej.) auf SPON könnte ich auch forschen. Ray und ich hatten da mal diese Perückenphase. „Der Kontrakt des Zeichners“ und „Drowning By Numbers“, meine Favoriten von Greenaway.
Ich habe übrigens einen Brief von Murray Melvin (Reverend Runt), eine äußerst liebenswürdige Antwort, die er auf dem Briefpapier eines Theaters in Nordwales schrieb, wo er in einer Inszenierung von „The Devils“ gerade dieselbe Rolle spielte, die er auch in Ken Russells Film hatte (Father Mignon): „It’s a sort of rebirth and a very strange feeling.“
Annette: a-tem-be-raubend. Nichts weniger. Zu Zeiten kenne ich überhaupt keine atemberaubendere Szene der Filmgeschichte, hands down. Es wäre mir aber sehr lieb, wenn wir all das zusammen aushalten könnten, zumindest bis wir alle unseren Job an den Nagel hängen und auf dem Zauberberg der geheimnisvollen Top 10(0)(0) einchecken, empfangen von Händels Sarabande im Kubrick-Arrangement, ready for one spellbinding experience after another. Naja. Sorry it took me wild. Was ich eher NICHT mehr aushalte, ist dieser ganze Dödelkram, mit dem man zugeschüttet wird.
Matt Packer, thequietus.com, 29.07.2016:
For Barry Lyndon is not just a hidden gem in the Kubrick canon that struggles for attention among glitzier company. It is, by monolith-shattering light years, the director’s greatest achievement – certainly the Kubrick Fan’s Kubrick Film; the one that his most ardent devotees consider to be the optimal showcase for all of his finest flourishes: ravishing symmetry, plunging depth-of-field, immaculate script structure, clever casting – every supporting player as crucial to the overall mosaic as the leads – and outstanding performances, particularly from co-stars Ryan O’Neal and Marisa Berenson. Oh, yes… and matchless, faultless music timing – the kind that, if you really focus on it, sprains your mind with its agonising levels of concentration.
Ryan O’Neal’s lead performance is flat-out astonishing, and confoundingly under-acknowledged. This is, in every sense, his captain Willard or Michael Corleone: a whole, three-dimensional figure who feels more like a real person than a scripted character worn by an actor. O’Neal sells Redmond’s three-hour transition from sympathetic underdog to contemptible bum with exquisite subtlety.
Marisa Berenson doesn’t even make her first appearance in the film until the 99th of its 187 minutes, but more than earns her co-star billing, exuding ornate poise and bone-China fragility as a woman who doesn’t realise she has let a morally rabid dog into her home until it’s too late. Drawn at first to Redmond’s chivalric veneer – a mirage cultivated on the Chevalier’s watch – the Countess of Lyndon eventually crumples into the countenance of a bagged-up cat that has been hurled into a river in the company of a brick. Never much of a household name, despite her superb showing in the film, Berenson follows Lolita’s Sue Lyon and 2001’s Keir Dullea in the distinguished line of ace Kubrick finds that are almost wholly identified by their work with the director.
Marisa Berenson:
„I liked him [Kubrick] very much. He had a lot of dry humour. Contrary to what people think – they have this image of Stanley as this difficult ogre – he wasn’t at all. He was a perfectionist but every great director I’ve worked with has been a perfectionist. You have to be to make extraordinary films.“