Orava Castle, Slovakia.

Im Sommer 1920 lernt der Regisseur Friedrich Wilhelm Murnau den Grafiker Albin Grau kennen, der für Murnaus Film „Der Gang in die Nacht“ (mit Conrad Veidt) die Filmplakate gestaltet. Der enigmatische, im Okkulten versierte Grau gehört der Pansophischen Loge der Lichtsuchenden Brüder an, offenbar auch dem seit der Mitgliedschaft Aleister Crowleys skandalumwitterten O.T.O. (Ordo Templi Orientis), in späteren Jahren trifft er Crowley auch persönlich. 1921 gründet Albin Grau mit anderen Mitgliedern der esoterischen Kreise Berlins die Prana-Filmproduktion. Grau gewinnt Murnau für die Regie von NOSFERATU – EINE SYMPHONIE DES GRAUENS, den ersten – und letzten – Film, den die Prana produziert. Grau selbst übernimmt die künstlerische Leitung, zeichnet detaillierte Entwürfe für den ganzen Film, entwirft Dekorationen, Kostüme und Werbeplakate. Ein „wahrhaft okkulter“ Film soll es werden.


„Nach dem Roman ‚Dracula‘ von Bram Stoker. Frei verfaßt von Henrik Galeen“, verkünden die Credits von NOSFERATU. Galeen ist mit Hanns Heinz Ewers bekannt, hat an den Filmen „Der Golem“ (1914) und „Der Golem, wie er in die Welt kam“ (1920) mitgearbeitet und führt 1926 Regie bei „Der Student von Prag“ mit Conrad Veidt. Murnau und Grau haben keine Verfilmungsrechte für den Stoker-Roman, Galeen ändert Zeit und Ort der Vorlage, verändert die Handlung, ebenso die Namen der Protagonisten, dennoch verklagt Stokers Witwe Florence Balcombe, nachdem ein anonymer Brief aus Berlin sie über die Existenz des Films informiert hat, die Prana-Filmproduktion; das Urteil ordnet 1924 die Vernichtung aller existierenden Negative und Filmkopien an. Die Prana erklärt sich zwischenzeitlich für bankrott. Ende der 1920er tauchen erste – rechtzeitig in Sicherheit gebrachte – Prints von NOSFERATU in den USA wieder auf.

Murnau beginnt mit den Dreharbeiten zu NOSFERATU – EINE SYMPHONIE DES GRAUENS im Juli 1921, zunächst in Lübeck. Ende Juli befindet sich das Filmteam in Wismar, wo man per Zeitungsannonce „30 bis 50 lebende Ratten“ für Filmaufnahmen sucht, in den ersten Augusttagen erscheinen Berichte über die Dreharbeiten in den Zeitungen von Wismar. Dann geht es weiter nach List auf Sylt, wo die Strandszenen gedreht werden. Im August 1921 bricht Murnau mit seinem Team in die Slowakei auf. Neben Grau und Galeen sowie Kameramann Fritz Arno Wagner ist auch Murnaus Freund als „Künstlerischer Berater“ dabei, der Maler Walter Spies, der am 17. August 1921 aus Prag eine Karte an seinen Bruder schreibt: man sei auf dem Weg in die Hohe Tatra. In Prag wird die einzige Kamera der Produktion beschlagnahmt und drei Tage lang von Zollbeamten des Masaryk-Bahnhofs einbehalten, „bis wir diese gegen 5000 Kronen Zollgebühr und einige Bestechungsgelder auslösen konnten“. Im Zeitungsartikel „Filmreise zur Hohen Tatra“ berichtet Albin Grau weiter:
„Endlich kamen wir in Poprad an, vor uns die gigantische Tatra. Wir mieteten zwei Wagen, Pferde und eine Postkutsche, und stiegen hinauf bis zur Schlesierhütte auf 1700 Metern Höhe. Wir gingen alle zu Fuß, nur die Kutscher blieben auf ihrem Kutschbock. Alle halbe Stunde hielten sie an und tranken einen kräftigen Schluck Schnaps. Bei den Filmaufnahmen unterwegs zeigten sie viel Geschick und verhielten sich wie gut geschulte Statisten.“
„Wir verbrachten die Nacht in einer Hütte unweit der polnischen Grenze. Am nächsten Tag stiegen wir, schwer beladen mit den Geräten, hinauf zum Gebirgskamm, und nach einem Aufstieg von sieben Stunden erreichten wir den Gipfel. Herrliche Luft. Die gigantischen Berge. Ein Bild von bezwingender Gewalt.“
Schließlich:
„Von Poprad gingen wir durch Kralovany bis Dolny Kubin.“
Aus einer Karte von Walter Spies geht hervor, daß sie am 25. August 1921 bereits dort sind.
Die Arwaburg befindet sich bei Oravsky Podzamok, 10 Kilometer von Dolny Kubin entfernt.


Sonnabend, 06.09.2014
93 Jahre später.
Zugfahren in der Slowakei ist alles andere als kostspielig, die 259 km von Bratislava nach Dolny Kubin (4 Stunden Fahrzeit) kosten genau 11,62 € pro Person. Mit uns im Abteil ein junges Paar, Madames Augen in Hubot-Blau verwirren den jungen Mann, in äußerst hübschem Englisch bekennen sie Liebe zu Rammstein, leider können wir ihrem entzückten Grusel das gerollte R nicht auch noch bieten. Leicht verspätet erreichen wir Kralovany, laufen durch einen Tunnel zum anderen Gleis, wo schon ein Zug wartet, „Dolny Kubin?“ – „Ano!“ – Und dann rollen wir sehr langsam auf eingleisiger Strecke durch das schon beeindruckend wilde Land der Kleinen Fatra, an der Orava entlang. Madame ist hingerissen, als sie einen Adler seine Kreise ziehen sieht. Ein echter Karpatenadler, put that in your bleeding book.
Gegen 16 Uhr erreichen wir Dolny Kubin. Warnung. Dolny Kubin ist ein kleiner Ort. Aber er hat zwei Bahnhöfe. Wir steigen in Dolny Kubin zast. aus. Was immer zast. bedeutet. Es bedeutet wahrscheinlich: Wenn Sie hier den Zug verlassen, wird die Lage undurchsichtig, und die beiden orientierungslosen Mädchen, die Sie ansprechen, haben auch keinen Plan, welche Richtung es nun einzuschlagen gilt. Ein alter Mann nutzt den ereignislosen Samstagnachmittag, um langsam die Straße zu überqueren und uns davon abzuhalten, für immer in den Karpaten zu verschwinden. Er weist uns die Richtung mit Zeichensprache und einigen verständlichen Brocken. Der Teil von Dolny Kubin, den wir dann durchqueren, ist sozialistische Hochhausarchitektur aus dem Katalog von 1968, aber wir bereiten uns ja ohnehin auf das HOTEL PARK vor, in dem noch Zobelmützendeals à la „Gorky Park“ stattgefunden haben, dead sure. Unser Zielpunkt ist diese Sleepy Hollow-Holzbrücke, die wir dann auch finden und überqueren, im Hotel wird das Foyer gerade von einer Hochzeitsgesellschaft vollständig eingenommen, wir warten erst einmal draußen und entdecken auf der Speisekarte Gegrillten Hermelin. Geht in Ordnung: ein hiesiger Weißschimmelkäse.

Wir bekommen Zimmer 310, und auf diesem Hotelkorridor

steht plötzlich eine The Shining-Erscheinung, ein kleiner Junge, vielleicht vier Jahre alt, im eleganten schwarzen Anzug, ein surrealer Zwerg. Bevor er „Come play with us“ sagen kann, stöckelt seine todschicke Mama ins Bild und lächelt surreal. Albin, das ist surreal.
Wir begeben uns auf die Suche nach dem anderen Bahnhof, von dem aus der Zug nach Oravsky Podzamok fahren soll, to appreciate the situation, wie Lawrence von Arabien sagt, kaufen ein und finden für ein Abendessen outside das Restaurant Lucia, am Hviezdoslavovo namestie, das heißt, wir blicken auf jenen Platz, von dem Albin Grau schreibt:
„Einen der Wagen hatten wir auf dem vollen Marktplatz unter den staunenden Blicken der Einwohner zur Geisterkutsche umgebaut.“
Gedreht wurden die berühmten Kutschenszenen aus NOSFERATU in Vratna Dolina, etwa 20 km von Dolny Kubin entfernt. Vorbereitet wurde die Kutsche aber genau hier:

Dolny Kubin, in the evening:



„Murnau’s somewhat inconsistent notes in the screenplay indicate that the arrival at and departure from the „Carpathian inn“ were filmed at Dolny Kubin, where he was also reported to have hired Jozef Sárený as an extra for the role of the head coachman.“ (Martin Votruba)
Wir erreichen Dolny Kubin am 6. September; der 6. September 1879 war der Geburtstag des geheimnisvollen Nosferatu-Darstellers Max Schreck. Einige Tage zuvor gab es auf der Arwaburg ein nächtliches Fest zu Ehren des berühmten Vampirs.


Sonntag, 07.09.2014
6 Uhr morgens im rätselhaften Dolny Kubin, panisches Glockengeläut, ab 7 Uhr lärmt unfaßbar laute Musik durch den Ort. Vom Hotelbalkon läßt sich die Quelle des dionysischen Sonntagmorgenspektakels nicht ausmachen, genaugenommen sieht man, abgesehen von den Senioren, die unten vor dem Hotel resolut ihren Reisebus stürmen, keine Seele. Keine Ahnung, ob sich ein Junggesellenabschied am Rande des Malá Fatra-Gebirges so anhört oder ob die hiesige Kirche eine frühe Charme-Offensive mit Eurodance und Streetpunk startet. Als ein Dropkick Murphys-CanCan verebbt und Eno-artiger Drone über dem Städtchen schwebt, läßt sich die bizarre Schönheit nicht leugnen. Trotzdem bleibt es unheimlich. Das Zimmertelefon klingelt, aber niemand meldet sich. Fehlen noch die Douglastannen. Das ist osteuropäisches Twin Peaks hier. Parole des Tages, mit David Lynch-Stimme: „They’re planning their actions, Coop.“
Wo sind wir eigentlich?

Gar nicht so weit entfernt von den berühmten Wintersporthochburgen Zakopane (im südlichen Teil Polens) und Strbske Pleso.

Pünktlich um 10:00 besteigen wir den Zug, denn pünktlich um 10:00 soll der Zug nach Oravsky Podzamok abfahren. Leider ist es der Zug nach Kralovany. Wir rollen also nochmals gemächlich durch das Reich des Karpatenadlers. „Albin, wir fahren in die falsche Richtung.“ Als ich der Großmutter auf dem Nebensitz ein fragend-verzweifeltes „Prosim, Oravsky Podzamok?“ antrage, erklärt sie mir eine Minute lang die Sachlage, die recht ungünstig anmutet, auf Slowakisch. Leider ist Slowakisch nicht unser Fachbereich. Doch anders als Jonathan Harker in Stokers „Dracula“ in seinem Reisebericht vermerkt („Die fremdartigsten Gestalten, die wir sahen, waren die Slowaken. Sie sehen zwar sehr malerisch aus, wirken aber nicht sehr vertrauenerweckend. Auf der Bühne würden sie sofort als altorientalische Räuber durchgehen. Sie sind jedoch, wie man mir berichtete, sehr harmlos …“), gibt es scheinbar jederzeit und überall einen Slowaken, der bereit ist, aufzustehen und in der Verwirrung auf Deutsch auszuhelfen. Der junge Mann, der uns seine Hilfe anbietet, bringt beim Schaffner in Erfahrung, daß um 11:28 ein Zug von Kralovany nach Oravsky Podzamok abfährt. Nun gut, Albin. Tatsächlich sogar eine glückliche Fügung, denn während wir den kleinen Bahnhof von Kralovany in seiner ewigen Unwandelbarkeit ausloten,

verzieht sich der Morgendunst. Wenn man sich schon zur Arwaburg durchschlägt, möchte man sie nicht in Nebel eingehüllt vorfinden. Stattdessen bietet sich, da man den Bahnsteig von Oravsky Podzamok verläßt, dieser Anblick.

Die Burg liegt auf einer steilen, 112 Meter hohen, seit der Hallstattzeit besiedelten Felsklippe über dem Orava-Fluß. Für die Anwesenheit der Slawen auf dem Platz der Burganlage gibt es Zeugnisse aus dem 9. Jahrhundert. Aus der Holzbefestigung dieser großmährischen Burgstätte entstand die Arwaburg im 13. Jahrhundert, nach der mongolischen Invasion Ungarns 1241, die erste schriftliche Erwähnung einer steinernen Burg findet sich 1267. Oravsky Hrad diente als Grenzfestung und als Schutzburg an der Handelsroute nach Polen.
300 Jahre blieb die Arwaburg königliche Festung, verwaltet von Kastellanen; Ende des 15. Jahrhunderts erwarb Matthias Corvinus die Burg, König von Ungarn, Gegenkönig von Böhmen und Eroberer weiter Teile der Habsburgischen Erblande. Unter Matthias kam es ab 1474 zu umfangreichen Bauarbeiten, ebenso unter Jan von Dubovec, der 1534 in den Besitz der Burg gelangte. Unter den Erben des Jan von Dubovec kam es zum Streit, und die Burg wurde schließlich 1556 an Ferenc Thurzo verpfändet. So ging die Arwaburg an eine der reichsten und einflußreichsten Adelsfamilien des damaligen Ungarn. Unter den Thurzo kam es ebenfalls zu bedeutenden baulichen Veränderungen und Erweiterungen.
Georg (György) Thurzo, Palatin von Ungarn, verhaftete die als „Blutgräfin“ bekannte hohe Adlige Elisabeth Báthory im Auftrag des ungarischen Königs, setzte sie auf ihrer Burg Čachtice gefangen und organisierte den Prozeß. Eben dieser György Thurzo ist in einer Krypta der Burgkapelle von Oravsky Hrad bestattet.

Während man die Burg halb umrundet, um zum Eingang zu gelangen,

wird jener Turm sichtbar, auf den in NOSFERATU der Lenker der Geisterkutsche, Nosferatu selbst, mit der Reitpeitsche zeigt, um Hutter ins Kommende zu befehligen:


Es ist ein Wehrturm, der Archívna veža heißt, Archivturm. Murnau filmte ihn von einer Burgterrasse aus, die nicht Teil der Führung ist, man sieht diesen Turm also nur auf dem Weg zur Burg.

Der Eingang zur Burg 1921:

2014:



Phantastisch, hier zu stehen, on holy ground, genau dort, wo Murnau zusah, wie Gustav von Wangenheim in den frame von Fritz Arno Wagner wandert. Der Aufgang, der zum Burgtor führt, ist deutlich steiler, als es im Film erscheint. Location filming, Aufnahmen an Originalschauplätzen, das war 1921 ein höchst ungewöhnliches Vorgehen; Landschaften, ganze Städte erstanden als Atelierbauten in den Filmstudios. Als Murnau mit seinem Team durch wilde Tatralandschaften zog, war das eine noch unerhörte Guerilla-Taktik, eine Frühform von rogue film-making.
Vor Gustav von Wangenheim öffnet sich das Tor zur Burg auf mysteriöse Weise; weniger mysteriös öffnet eine junge Slowakin, die für die nächsten zwei Stunden unsere Führerin sein wird, das Tor um 13:15. Man kommt nur mit Führung in die Burg, wir bewegen uns meistens am Ende einer Schar von 25, vielleicht 30 Menschen, loitering with intent, die Tour ist auf Slowakisch, aber wir sind vorbereitet, zur Orientierung haben wir ausgedruckte NOSFERATU-Screenshots als Dossier dabei.
Hutter betritt die Burg des Grafen Orlok: der erste Burghof.

Der erste Burghof in diesem Moment aus Hutters Perspektive:

Im Hintergrund ist schon jener Tunnel zu sehen, aus dem Max Schreck als Orlok / Nosferatu auftaucht, um Hutter in Empfang zu nehmen. Dieser Tunnel zwischen zwei Burgtoren entstand unter Georg Thurzo. Über dem Tunnel befindet sich die nicht zugängliche Terrasse, auf der Murnau den Archivturm filmen konnte, ebenso den in der Nähe des Archivturms gelegenen Pavillonturm, in dem Hutter seinen Brief an Ellen schreibt.
Kurzer Blick zurück: als Gustav von Wangenheim den ersten Burghof betritt, schaut er kurz nach links, wo man eine Treppe erkennen kann:

Das obere Ende der Treppe ist hier im Hintergrund zu sehen:

Blick in den Tunnel:

Max Schreck in der berühmten Szene des Films, aus völliger Dunkelheit erscheinend. Die „genial photographierte schwarze Silhouette Orloks im leeren Burghof“, eines jener Bilder, durch die, so Béla Balázs 1923, „ein frostiger Luftzug aus dem Jenseits weht“.



Murnaus Standpunkt ziemlich genau getroffen.

Dann steht Murnaus Kamera im Tunnel. Genau hier steht auch Max Schreck, bevor er aus dem Dunkel auf die Kamera zugeht. Der Blick aus dem Tunnel mit derzeit dort befindlicher Kutsche, Max Schreck steht in der folgenden Szene zwischen den beiden Durchgängen, Nosferatu erwartet Hutter.




Ausschnitt aus dem Tunnelbild mit Kutsche, viragiert:

Bei dieser Aufnahme steht Murnaus Kamera dann wieder mit den beiden Protagonisten im Hof zwischen beiden Durchgängen:


Orlok fordert Hutter auf, ihm zu folgen; auch unsere Führung bewegt sich nun weiter durch diesen Tunnel.


Am Ende des Tunnels kommt man erneut in einen kleinen Hof:

Es ist der – seit 1921 erheblich veränderte – Hof, in dem der Nosferatu die Särge, mit denen er nach Wisborg aufbricht, auf seinen Pferdewagen lädt.

Wie man sieht, wurde das Geländer links zur Gänze erneuert; Murnaus Kamera stand auf der Burgebene über dem Tunnel.



Dann erreichen wir den Großen Burghof.





Die Führung bewegt sich nun durch Innenräume, verwinkelte Gänge, Aufstiege, weitere Höfe, dann wieder auf Außentreppen, durch den mittleren Burgkomplex bis zum obersten Burgteil, wo Zeitgenossen mit Höhenangst offenbar eine kleine Warnung erhalten, tatsächlich ersparen sich zwei ältere Herrschaften den allerletzten steilen Aufstieg.

Es ist nicht ausgeschlossen, wenn auch nicht mehr nachweisbar, daß Franz Kafka sich für seinen Roman „Das Schloß“ auch von der Arwaburg inspirieren ließ:
„Nur 90 Kilometer von Oravský hrad entfernt befindet sich das Lungensanatorium von Matliary; hier hält sich zu eben der Zeit, da Murnaus Team in der Burg arbeitet, Kafka auf. […] Am 8. August 1921, wenige Tage bevor Murnau in Dolný Kubín eintrifft, unternimmt Kafka gemeinsam mit einer Reihe von Mitpatienten einen längeren Ausflug in der Tatra. Die erste Station ist der Höhenkurort Szentivány Csorbató, der am Tschirmer See (heute Strbské Pleso) liegt. Dort schreibt Kafka eine Ansichtspostkarte an seine Schwester Ottla in Prag, auf der auch zwei seiner Reisebegleiterinnen – die Patientinnen Annie Nittmann und Elena Roth – mit ihrem Namen unterzeichnen. Es ist durchaus denkbar, dass die Gruppe anschließend die Burg Oravský hrad besucht hat, die zu den bedeutendsten Sehenswürdigkeiten der westlichen Tatra gehörte und mit ihrem 1868 gegründeten Museum ein besonders prominentes Ausflugsziel darstellte.
Von Strbské Pleso zur Gemeinde Oravský Podzámok beträgt die Entfernung nur 92 Kilometer. In Strbské Pleso existierte damals eine Zahnradbahn, die zum Bahnhof Strba fuhr; von dort ging ein Zug bis Kral’ovany, das durch Droschkenverkehr mit dem Städtchen Árvaváralja am Fuß der Burg verbunden war. Insgesamt hätte der einfache Weg vom Sanatorium über Strbské Pleso bis zur Anlage von Oravský hrad nicht mehr als drei Stunden gekostet. Es blieb also genügend Zeit für eine Besichtigung der Burg und die Rückreise mit der Bahn.“
(Peter-André Alt, Die Burg des Grauens – Franz Kafka und Murnaus „Nosferatu“, sueddeutsche.de, 10. Mai 2010)

Auch nicht ausgeschlossen, daß Kafka den Film dann tatsächlich im Kino gesehen hat. Am 27. Januar 1923 erlebte „Nosferatu“ seine Prager Premiere in einem Saal des Louvre-Cafés.

„Die Dreharbeiten im Schloß Oravsky verliefen ruhig und zügig“, heißt es in „Die Sprache der Schatten“ von Luciano Berriatua.
Albin Grau: „Die geisterhaft bleiche Gestalt des Nosferatu-Darstellers wurde von der Bevölkerung mit entsetzten Blicken beobachtet und wie der Teufel gemieden.“

Oh no it isn’t?

Yes it is.


Hier erkennt man einen kleinen Teil jener Terrasse, auf der Murnau den Archivturm und den Pavillonturm filmen konnte. Und jene Bergwälder, die in der Pavillonturmszene zu sehen sind.


Die Innenaufnahmen für NOSFERATU wurden in Berlin-Johannisthal gedreht, inspiriert von den Originalaufnahmen auf Oravsky Hrad. Also entstanden im Jofa-Atelier auch die Szenen in der Gruft, in denen Hutter entdeckt, wo sich Graf Orlok bei Tag aufhält – in einem Sarg, verborgen vor dem tödlichen Licht der Sonne.




Beim Abstieg entdecken wir diese Treppe, die allerdings so aussieht, als könnte sie in die Gruft von Nosferatu führen. Passend viragiert:

Unsere Führerin verabschiedet sich auf der Burgebene über dem Großen Burghof, die Gruppe spendet Applaus und löst sich auf, und da uns niemand dazu auffordert, zügig dem Ausgang entgegenzugehen, wandeln wir einfach langsam weiter auf den Steinen, die 1921 die Nosferatu-Welt bedeuteten.

Maybe touched by Murnau, Max Schreck, Albin Grau, und dem „törichten Gustav“, wie John Malkovich als F. W. Murnau ihn nennt in „Shadow of the Vampire“.


Schließlich identifizieren wir noch dieses Tor. Im Film erscheint es als Eingang zur Gruft, als Hutter „das Entsetzen seiner Nächte zu ergründen“ sucht:







Als wir den Großen Burghof wieder erreichen, sehen wir die charmante Führerin vor der Burgkapelle, keine anderen Lebewesen mehr im Hof, ich rufe „Oh, certainly we’re too late for this now?“ Da schließt diese wunderbare junge Dame, obwohl ihr Tagewerk getan ist, eigens für uns die Kapelle nochmals auf. So sehen wir auch noch die letzte Ruhestätte des Georg Thurzo. In der Kapelle sind keine Fotos erlaubt, dies sind Wappen und Inschrift über dem Eingang:

Sie fragt uns, woher wir kommen, erzählt uns, daß sie schon einige Male in Deutschland war. Im ersten Burghof, schon fast beim Eingangstor, begutachtet sie unsere Nosferatu-Screenshot-Kopien, und ich darf noch einmal zurücklaufen, für ein Bild vom jetzt leeren Großen Burghof. 1921 lief Gustav von Wangenheim hier noch auf einem Grasweg an Bäumen vorbei.



„Es gelang uns schließlich doch, alle geplanten Aufnahmen zu realisieren. Nach einem heftigen Streit über die Entlohnung der Kutscher verließen wir zufrieden das Dorf.“
Miss Führerin und wir geben uns die Hand für einen geradezu herzlichen Abschied, wir bleiben noch eine Weile beim Burgtor sitzen, stunned. Auf dem Rückweg dann sieht man noch einmal den „Archivturm“ und auch den Pavillonturm, in dem Hutter an Ellen schreibt:




Im Restaurant am Fuße des Felsens gibt es Thurzo-Bier, hergestellt von einer lokalen Brauerei (Kastelan). Direkt neben mir läßt die Maid vor Aufregung alle Gläser vom Tablett fallen. God only knows.

Das Bahnhofsgebäude von Oravsky Podzamok scheint leer, aber irgendwo da drinnen halten sich Gestalten auf, ein Hund bellt uns aus zwanzig Metern Entfernung unentwegt an, irgendwann, schließlich brauchen wir noch Fahrkarten für die Rückfahrt, klopfe ich an die Scheibe, unterbreche vermutlich ein sinistres Kartenspiel in einem Hinterzimmer, das so weit hinter ist, daß es in dieser Realität gar nicht mehr zum Gebäude gehört. „Albin, wir können froh sein, wenn sie uns nicht essen.“ Just kidding. Visit Slovakia. The Beautiful People.


Anhang: Kommentarsektion Antirationalistischer Block

7 replies on “Burg Orava – Nosferatu Revisited”
„Boah!“ … auf Nosferatus Spuren zu wandeln … DAS macht mich doch etwas … hmmm, wie sagen, nicht fassungslos, aber doch etwas flau im Magen. Max Schreck als Nosferatu fand ich als junges Mädchen so abgrundtief schrecklich, der grub sich dermaßen tief in mich rein, hat sich anno dazumal in mir ganz fest verankert, dass mich sicherlich eine Dekade lang in gewissen Momenten des Allein-Seins Schauer darob plagten, wo er plötzlich in mir aufploppte und Besitz von mir ergriff. Ehrlich gesagt, hat mich kein Film bis dato mehr erschüttert als jener hier, auf dessen Spuren ihr euch da begeben habt. Ich empfinde ja schon das Erzählen ob der Zugfahrt, das Einchecken in dem „Shining-Hotel“, als sehr, ja, keine Ahnung … es löst etwas aus bei mir … weil ich mich da bzgl. des Hintergrundwissens einfühlen kann, in mir sofort Bilder zu laufen beginnen, ich mich augenblicklich in der „Geschichte“ bewege. Ich empfinde euer Nachspüren auf alle Fälle äußerst bemerkenswert! Hätte ich wohl auch mal machen sollen, weil … nüchtern betrachtet, hätte es mir wahrscheinlich dann früher den Grusel genommen (oder auch nicht … ihn womöglich noch bestärkt) :-oh
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Zwar habe ich den Eindruck, daß Du ohnehin ein sehr empfängliches Wesen bist, aber was für ein wunderbares Zeugnis für die Kraft von Murnaus Bildern und für die wirklich einzigartige Präsenz von Max Schreck in diesem Film Deine Beschreibung ist! Kennst Du den Film „Shadow of the Vampire“, von 2000? John Malkovich als Murnau, Udo Kier als Albin Grau, Eddie Izzard als Gustav von Wangenheim und Willem Dafoe als, nun ja, „Max Schreck“. Hommage an die legendären Dreharbeiten und Phantasie über die Idee, daß Nosferatu überhaupt nicht von einem Schauspieler namens Max Schreck dargestellt wird. :) Eine Phantasie, der man mühelos folgt, eben weil Max Schreck als Nosferatu wirklich überwältigend schaurig und absolut nicht-mehr-menschlich wirkt. – Mir fiel die Arwaburg auch ein, als Du von Deiner Liebe zu Burgen berichtet hast. Der Ort hat eine unvergleichliche Aura, aber natürlich in jedem Winkel aufgeladen mit ihm, dem Nosferatu. Ja, vielleicht, wenn Du die Arwaburg besuchst, werdet Ihr noch Freunde. A woman in white, ein spukendes Burgfräulein, haben sie da schon, also keine Sorge, daß sie Dich dabehalten. :)
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„Shadow of the Vampire“ kenne ich nicht, aber schon alleine John Malkovich wegen sicher sehr sehenswert; den mag ich nämlich sehr.
Du, ich bin da nicht in Sorge darob, dass ich in irgend einer Burg festgehalten werde, Christian, ich habe, nein, ich bin seit Geburt an meine eigene Burg; schwer einnehmbar. ;-)
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Schwer einnehmbar doch ausnehmend einnehmend. Danke für all Deine anregenden und charmanten Beiträge hier this year, it was a pleasure. Hab ein neues Jahr vom Feinsten! :)
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*rotwerd*, danke Dir, und … DAS wünsche ich dir auch … von Herzen! ;-)
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Hallo Christian,
Selbst nicht mehr genau wissend wann und wo ich diesen Kultfilm das erste Mal geschaut habe … grüble sehr unüblich ob meiner Gedächtnislücke … ist ja das zweite Mal, dass ich an diesem Deinem Erlebnisbericht, an dieser Eurer Reise full of verve mehr als teilnehme … mag sagen, dass ich es in Deinem ebenfalls wunderbaren älterem Blog bereits gelesen und nun noch einmal mehr als gelesen habe. Vielen untoten *g undiabolical* Dank Dir für Dein erneutes Ausgraben, für Deine phantastische Zusammenstellung und belichtete Präsentation dieses Films in Deinem deklamativen Licht!
Deine Präsentation wie immer ein Genuss für mich und viel mehr als nur Cabinetstückchen ;-) und auch ein wunderschönes Labyrinth inklusive Deinem höchst eigentümlichen Plot ;-)
. .. hope you like đђᵗat
Ꝝ lebhafte Grüße Dir Du junggeblieben Fledertier und auch ein unausgerutschtes Ankommen im sich mehr und mehr näherndem neuen Jahr von mir zu Dir
NowHere Axel
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Danke fürs Mitreisen! Nicht ganz so undiabolical, daß Murnaus Schädel 2015 aus der Grabkammer der Familiengruft in Berlin gestohlen wurde. Hoffe, es gibt eine eigene Hölle für Schädeldiebe, aber der Film wird wohl auch die nächsten 100 Jahre noch seine Macht ausüben auf die Menschen. Sofern die Menschen sich dafür entscheiden, noch 100 Jahre als Erdlinge durchzuhalten, that is. Wünsche Dir auch das beste 2025, das es jemals gab!
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