

Mein Vater, Otto Braun, war das vierte von fünf Kindern, geboren in Olsztyn (Allenstein) im heutigen Polen. Er studierte in Leipzig, Gießen und Wien, rauchte seine erste Zigarre im Wiener Dom-Café, liebte Chopin und konnte Chopin sogar sehr passabel auf dem Klavier spielen. Zweimal ging er in Wien zu Huren, aber im letzten Augenblick verließ ihn beide Male der Mut, es war ihm „zu sachlich“.
Im Adventssingen 2020 schrieb ich auf Antirat davon, wie sehr mir ein Song von Taylor Swift unter die Haut ging – „Epiphany“:
„Der Song hat noch eine andere Dimension für mich. ‚Crawling up the beaches now‘. Dann das plötzliche ‚Sir, I think he’s bleeding out‘. Dann nur noch ‚And some things you just can’t speak about.‘
Mein Vater war Anfang 50, als ich zur Welt kam. Er hatte einen jüngeren Bruder, den er sehr liebte. Sein Name war Arthur. Arthur wurde kurz vor dem D-Day an die französische Küste geschickt. Aber dort in der unübersichtlichen Lage ist er einfach verschwunden. Niemand konnte sich später an ihn erinnern. Niemand kennt sein Grab. Irgendwo sofort nach seiner Ankunft bei Dunkerque gestorben, das ist die wahrscheinlichste Version, auch wenn mein Vater eine andere Möglichkeit wohl nie ausschloß. Crawling up the beaches now, so habe ich ihn immer gesehen. Arthur liebte die Künste, und die Damen liebten ihn. Das erzählte mir mein Vater, aber er konnte nicht wirklich über seinen Bruder sprechen. Er hat mir nur einmal gesagt, daß ich große Ähnlichkeit mit Arthur hätte. Ich weiß es nicht, ich habe nur ein Foto von den beiden Jungen mit ihrer Mutter, da ist Arthur 6 Jahre alt oder so. In meiner Vorstellung war Arthur nicht ganz von dieser Welt, und darum schon gar nicht gemacht für einen Krieg, aus dem er dann folgerichtig einfach entschwand. Wohin, God only knows.“
Einmal, mit 20, fuhr ich mit dem Zug bis nach Oostende, dann mit der Küsten-Straßenbahn bis nach De Panne, und von dort wanderte ich am Strand bis nach Frankreich, durch Bray-Dunes bis nach Zuydcoote, um ein Mädchen zu besuchen, in das ich seit der Schulzeit ein bißchen verliebt war. Oder verliebt zu sein glaubte. Sie hatte keine großen Gefühle für mich, aber sie hatte mich eingeladen, sie verbrachte dort ihre Ferien, und ich wollte nicht den ganzen Sommer in Hamburg bleiben. Mit meinem Seesack ging ich also wie Kerouac auf dem Sand am Nachmittag der roten Sonne, und alles, was ich noch weiß von der Zeit mit Katja, ist der hitzeflirrende Mittag, an dem ein riesiges Insekt auf mich zuflog, dessen Kopf aussah wie ein Totenschädel. Nach drei Tagen brach ich wieder auf, und es war phantastisch, in den Dünen zu liegen, das Glitzern der Sonne auf dem Wasser, der wunderbare Wind, und ich las „Die Verwandlung“ von Franz Kafka, right there, und ich schrieb irgendwas in den Sand, und ich wünschte, ich könnte mich noch daran erinnern, was ich schrieb. Damals wußte ich noch nicht, daß der Bruder meines Vaters irgendwo dort an dieser Küste… verschwunden war. Aber ich denke trotzdem, daß ich nicht wegen Katja an diesen Ort gekommen war, sondern wegen Arthur.
Abgesehen von Arthurs Geschichte erzählte mir mein Vater dies: sein Vater, Paul Braun, war Lehrer für Musik und zwei weitere Fächer an einer Höheren Mädchenschule, gab Klavierkonzerte und hatte eine halbverrückte Schwester. Weder meinen Großvater Paul noch meine Großmutter Elma habe ich je kennengelernt.
Elma stammte aus der Linie, von der mein Vater sagte, daß sie in „Deutschordensgebiet“ führte, also ins Baltikum, und hörte auf den schönen Namen Knoblauch. Mein Vater schilderte die Knoblauchs als hochgewachsene, blonde Frauen mit traditionell niedrigem Blutdruck, die regelmäßig in Ohnmacht fielen.
Das eher sanguinische Temperament der Brauns erklärte mein Vater auch damit, daß in seiner Linie väterlicherseits ein Vorfahr aus irgendeiner heute französischen Grenzregion in den Raum des heutigen Baden-Württemberg gezogen sei. Er sagte „Burgund“, aber vielleicht ging es auch um die Gegend um Straßburg und Colmar. Um 1700 soll dann jedenfalls diese Linie die Wanderschaft von Baden-Württemberg nach Ostpreußen unternommen haben.
Elma Knoblauch nun, meine Großmutter väterlicherseits, war die Tochter von Eduard Knoblauch. Mein Urgroßvater Eduard war Lehrer irgendwo in der Nähe von Olsztyn, der Name des Ortes ist mir entfallen. Eduard war verehelicht mit Maria Rosky vom Gut „Adlig Schönau“. Ihre Schwester Clara Rosky – all dies sind Erzählungen meines Vaters – residierte auf dem benachbarten Gut „Adlig Demuth“, und die Geschichte dieser beiden Güter ließe sich zurückverfolgen bis etwa 1300. Tatsächlich findet man bei Wikipedia dies über ein Geschlecht namens Ludwig von Demuth:
„Das Geschlecht derer Ludwig nennt sich (…) nach seinem Stammgut Demuth im ehemaligen Kreis Braunsberg. Hier hat die Familie Ludwig von Demuth seit dem 14. Jahrhundert auch das Gut Schönau, einen Abbau von Demuth, besessen. (…) Ludwig und Ekkehard und ihren rechtmäßigen Erben und Nachfolgern wurden 1301 im Namen des Kapitels des Bistums Ermland 40 Hufen im altpreußischen Felde Demyta übertragen, zu kulmischem Recht und ewigem Besitz. Das Besitztum Ludwigs und Ekkehards wurde darauf Demuth genannt und etwas später mehr Land zum Gut Demuth hinzuerworben, das dann als Gut Schönau abgetrennt wurde. 1656 ist Ludwig Ludwigs Besitzer von Adlig Schönau.“
Demity (Demuth) und Jarzębiec (Schönau) liegen nordöstlich von Elbląg (Elbing), etwa auf halber Strecke zwischen Danzig und Kaliningrad.
Der Vater von Eduard Knoblauch, dessen Vornamen ich nicht weiß, mein Ur-Urgroßvater also, war Förster in Masuren.
Meine Mutter, Maria Erdmann, hatte 9 Geschwister. Sie war die Tochter von Bernhard Erdmann und Rosa Erdmann, geborene Graw. Mein Großvater Bernhard stammte aus Stępień (Stangendorf) im nördlichen Ermland, nicht weit vom Frischen Haff. Meine Großmutter Rosa kam aus Lubomino (Arnsdorf), wo auch meine Mutter geboren ist.
Franz Graw, mein Urgroßvater mütterlicherseits, war verheiratet mit Katharina Schwarz. Katharina war eine von drei Halbschwestern – drei Töchter, die ihre Mutter, Dorothea Schwarz, mit drei verschiedenen Vätern hatte (Katharinas Vater hieß Joseph). Und diese Dorothea war die Tochter von Taddäus Schwarz, geboren 1796, und einer Magdalena, geboren 1800. Danach (davor) weiß ich nichts mehr.
Die heutige polnische Woiwodschaft Ermland-Masuren ist also ein Homeland meiner Ahnen. Daß die Linie, die ins Baltikum führt, von der ich nur aus Erzählungen meines Vaters wußte, mit 15,4 % nachgewiesen ist, scheint mir ein ziemlich schlagender Beweis für die Zuverlässigkeit dieses DNA-Tests von MyHeritage. „Osteuropäisch“ wird unter „Genetische Gruppen“ noch spezifiziert in: Polen und Tschechien. Habe ich also auch böhmische Vorfahren?
Hier, wie auch bei den schönen und überraschenden 10,5 % „Däne“, den 13,8 % „Niederländer“ und dem einen Prozent „Schwede“ spielt der Dreißigjährige Krieg sicher die entscheidende Rolle. Der (zweite) Prager Fenstersturz am 23. Mai 1618 und der Aufstand der protestantischen böhmischen Stände war bekanntlich Auslöser für die verheerenden Auseinandersetzungen mit einer schier unentwirrbaren Zahl von Teilkriegen, Truppenbewegungen und erzwungenen Auswanderungen zwischen 1618 und 1648.
Nach der Schlacht am Weißen Berg in der Nähe von Prag im November 1620 ließ der Habsburger Kaiser Ferdinand II., um den Protestantismus zurückzudrängen, 30.000 Familien aus Böhmen vertreiben.
Wie Maria Rosky und Clara Rosky nach Demity und Jarzębiec gekommen sind, warum sie irgendwann im 19. Jahrhundert auf Adlig Demuth und Adlig Schönau lebten, keine Ahnung. Auf iGenea fand ich aber zur Herkunft des Namens Rosky:



Whatever. 1627 zog der böhmische Feldherr Wallenstein mit seinem Heer von Schlesien aus nach Norden, ein Jahrhundert nach Ende des Dreißigjährigen Krieges gab es die Besiedlung des Oderbruchs mit nichtpreußischen Kolonisten ab 1753, insbesondere durch Siedler aus Böhmen.
Dänemark schied 1629 aus dem Dreißigjährigen Krieg aus, aber bis dahin gab es genug Zeit, mich zu einem Zehntel-Wikinger zu machen. Die Schweden marodierten ohnehin überall in Europa, die Niederlande gehörte zur Haager Allianz, im Dreißigjährigen Krieg spielten aber auch niederländische Söldner eine große Rolle. Das Farbdiagramm auf MyHeritage für die 13,8 % Niederlande umfaßt aber auch das ehemalige Flandern und eben auch die Region um Straßburg und Colmar.
Die 1,8 % müssen mit Transylvanien zu tun haben („Listen to them, the children of the night! What music they make!“), und am allerrätselhaftesten sind die 1,2 % „Engländer“. Was war das denn? Vor dem Witchfinder General geflohen?

Hinter dem himmelblau erleuchteten Eckfenster bin ich geboren.
3 replies on “My Heritage”
Sehr interessante Familiengeschichte. Besonders dieses unsichtbare Band zu Deinem Onkel.
Aus ähnlichen Gründen bin ich anno ’98 mal auf einer Dienstreise nach Nordböhmen (vorübergehend Sudetenland) „abgedriftet“, ein paar Ortschaften weiter – und dann stand ich vor der Fleischerei meiner Großeltern. Das Haus, von dem Großmutter so lebendig erzählen konnte….ihr Lebenswerk. Futsch seit ’45.
Der „Engländer“ lässt sich ebenfalls mit dem 30jährigen Krieg erklären.
Bei Wittstock wurde auf dem ehemaligen Schlachtfeld um 2005 herum ein Massengrab von 75 Skeletten gefunden. Die Analyse ergab, dass die Mehrzahl von ihnen Engländer bzw. genauer Schotten waren.
Man hat einen von ihnen wie Ötzi „wiederhergestellt“ für das Museum des 30jährigen Krieges dort.
Interessante Erscheinung. Einen Kopf kleiner als ich und Träger sehr vieler Mangelernährungsdefizite im Knochenbau. Die „Kranken-Akte“ hängt daneben.
Daraus ergibt sich: Ähnlich den Abenteurern aus Westeuropa, die heute in der Ukraine kämpfen, hat es damals eine Landsknechtswanderung aus ganz Europa nach Deutschland gegeben, weil ja das Landsknecht-Sein sooooo viel Beute und schnellen Reichtum versprach. Die haben damals bei der Anwerbung schon so gelogen wie heute.
Tschechische Namen in Ostpreußen funktioniert auch gut: König Friedrich Wilhelm I. nahm einst die vertriebenen Salzburger Protestanten auf und siedelte sie vorwiegend dort an. Die Salzburger mussten auf ihrem Zug durch Böhmen – und dort gab es mehrere Verfolgungswellen gegen die übriggebliebenen Hussiten (Anhänger von Jan Hus, dessen Reformidee sich weit über die deutsche Reformation im Untergrund erhalten konnte). Da mag sich manche tschech./deutsche Familie den Salzburgern angeschlossen haben.
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Dankeschön, sehr spannend! Wenn ich es richtig verstehe, reicht der Zeithorizont, für den MyHeritage bei diesem Test Zuverlässigkeit beansprucht, zurück bis etwa 1600, so daß die Wirren des Dreißigjährigen Krieges tatsächlich von hoher Bedeutung sind, aber weiter zurück geht es dann auch nicht mit der Differenzierung. Bei den Schweden haben wohl nicht wenige Schotten gekämpft. Ich nehme an, der Test unterscheidet zwischen Engländern und Schotten, aber es werden sicher auch Engländer als Söldner unterwegs gewesen sein.
Sehr interessant das mit den Salzburger Exulanten, die auf ihrem Weg nach Preußen böhmische Protestanten mitgezogen haben könnten. Las gerade, daß der erste Salzburger Zug am 29. April 1732 in Potsdam eintraf, vom König selbst in Augenschein genommen. „Der Zug wird von Zeitzeugen so beschrieben: ‚Durcheinander gemischt gebückte, zitternde Greise in weißem Haar mit starken Männern und Jünglingen im blühenden Alter; erschöpfte und ermattete alte Weiber mit kraftvollen Frauen und jugendschönen Mädchen. Auch an Kindern fehlte es nicht… Dann folgten Wagen voll von Reisegerät, Siechen, Kinderbetterinnen, Entkräfteten, Säuglingen, Neugeborenen und Wiegen.‘ In Berlin teilten sich die Züge, einige wählten den Weg nach Stettin und anschließenden Seeweg nach Königsberg, andere den Landweg.“
Erwähnt hatte ich ja die Besiedlung des Oderbruchs seit 1753: In „Unterm Birnbaum“ erfindet Theodor Fontane (in Anlehnung an das ihm vertraute Letschin) den Ort Tschechin, ein Name, der auf die böhmische Abkunft vieler der dort angesiedelten Kolonisten hindeutet.
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Dazu fällt mir nu wieder ein, dass Hanns von Zobeltitz seine Heimat, die Neumark rechts der Oder „Knödelländchen“ genannt hat. Knödel gehören eigentlich nicht so weit nach Norden. Muss also auch mit angesiedelten Tschechen oder Deutschböhmen zusammenhängen. Passt also.
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