Abandoned Barbies @Stilbruch Hamburg
Foto CE 04/2024
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Rezension #14
23. Dezember 2010
Ein Mann betritt das Reich hinter dem Selbstverständlichen
Von Lena Wilde
Der Schlaf der Vernunft kann Ungeheuer erzeugen. Doch auch bei Wachheit laufen der Vernunft allerhand Ungeheuer über den Weg, diese Erfahrung macht Aljoscha.
Der Philosophiestudent beginnt zu ahnen, dass das Leben nicht nur das scheinbar perfekt aufgeführte Theaterstück vor seinen Augen ist. Er erkennt, dass hinter der Bühne noch ganz andere Gestalten toben, ganz andere Mächte wirken, die seine Sinne allenfalls schemenhaft abbilden können.
Voller Furcht und Faszination betritt er die verborgenen Gebäude seines Hauptes und er bekommt einen Eindruck von den Welten, die sich neben uns drehen, während wir unter dem Eindruck völliger Kontrolle unseren wichtigen Geschäften nachgehen. Doch noch hat die Wissenschaft nicht alle Mythen gebändigt, noch spuken sie unerkannt in unserer Welt umher und sorgen in aufgeräumten Gemütern für Verwirrung.
So ist auch Aljoscha von der Deutung des Erahnten noch weit entfernt. Was ihm bleibt, ist die Feststellung, dass die Welt doch eigentlich recht weltfremd sei: Die Normalität zerfließt unter dem Blick des Betrachters, das Selbstverständliche geht munter seinen Launen nach und schert sich nicht um menschliches Gesetz.
Unermüdlich und unerschrocken stellt sich Aljoscha jeder neuen Frage und jedem neuen Eindruck, der seine gewohnte Welt zum Wanken bringt und ihr jede Konstante raubt. Und ein ums andere Mal lässt er sich nicht entmutigen dadurch, dass jede Antwort eine völlig neue Welt von Fragen eröffnet. Und die Welt hinter den noch nicht gestellten Fragen und den noch weniger gegebenen Antworten? – Ein fürwahr unheimliches Reich.
Ein Reich, aus dem die Götter fröhlich winkend grüßen, in dem Tarotkarten zu Konferenzen laden und der Teufel sich von seiner besten Seite zeigt. Und ein Reich, in dem sich eine Frau in sein Leben schleicht, einer Geschichte entspringend, die eigentlich gar nichts mit seinem Leben zu tun hat.
Als wäre das noch nicht genug, scheint auch sein Innenleben in einer gewissen Korrespondenz mit diesem Reich zu stehen – und das völlig ohne sein Zutun. Ist er es wirklich selber, der die Hebel in seinem Schädel bedient? Oder ist er nur ein treuer Diener?
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Rezension #13
17. Dezember 2010
Das Leben, die Liebe, das Universum und noch ein paar Dinge
Von Sockensuchender
Die Sache ist die: Was soll ich sagen, was schreiben angesichts einer Geschichte, die so brillant verfasst ist, dass es mich einfach aus den Socken gepustet, schier umgehauen hat im schönsten Sinne aller Sinne? Zum Beispiel dieses hier: Doch in IHRER Nähe gäbe es kein Andernorts, kein Anderwärts und kaum ein Andernfalls. Oder das: …, verstand er, daß das Unnötige nötig ist, um das Nötige zu erkennen. Der barfüßige Zen-Meister Huang-Po hingegen bestünde darauf, Christian Erdmanns „Aljoscha der Idiot“ mindestens noch zwei Mal lesen zu müssen, bevor ihm dann endgültig die Worte fehlen würden. So eine Sache ist das mit großartiger Lebenspoesie in Romanform.
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„Doktor, kommen Sie… schnell…!“
(Standardsätze des Horrorfilms I)
Das Horrorgenre gilt als trivial, beschäftigt sich aber mit äußerst untrivialen Dingen, beispielsweise den sogenannten letzten Dingen – Tod, apokalyptische Endzeit, Jenseits, Auferstehung der Toten. Jedes Feld philosophischer Betrachtung ist auch ein Feld des Horrors, und vice versa. Wenn man will, aber man muß nicht wollen, lassen sich die für das Horrorgenre bedeutsamen Probleme und Motive gliedern in die klassischen Disziplinen der Philosophie: Metaphysik, Erkenntnistheorie, Ethik, Logik, Ästhetik. Im Horrorfilm geht es, wie in der Philosophie, um die „Fragen von Tod und Leben“ (Schmid 1993, 10). Der Thrill des Horrorfilms ist von höchster philosophischer Relevanz.
Der Horrorfilm ist so alt wie die Filmgeschichte selbst. Das Genre hat Klassiker hervorgebracht, die das Etikett „Horror“ transzendieren. Filme wie Freaks, Cat People, Les yeux sans visage oder The Shining sind bedeutende Werke der Kunstgeschichte. Man muß sich fragen, ob die Denunziation des Horrorfilms als „trivial“ einen tieferen Sinn hat. Trivial bedeutet bekanntlich so viel wie: unmittelbar einsichtig, platt, abgedroschen. Aber Horrorkunst bestreitet gerade, daß an Tod und Leben, am Leib-Seele-Problem, an Sexualität und Identität, am Problem von Normalität und Abweichung, an der Frage nach dem Anderen und Fremden, nach den Grenzen der Erkenntnis, nach den Grenzen der Wissenschaft, an der Frage nach der Grenze überhaupt, an des Menschen Verhältnis zur Natur, an der Frage, warum der Mensch ein Abgrund ist, in den hineinzuschauen es einen schwindelt, an der Frage nach kosmischer bzw. gesellschaftlicher Ordnung bzw. Unordnung, an der Frage nach der „Wirklichkeit“, an der Frage nach Form, Metamorphose, Deformation und Monstrosität, am Problem von Selbstkontrolle und Kontrollverlust, am Problem von Verbot und Übertretung, am Problem des Menschen zwischen Existenz und Wesen, am Problem der Existenz von Wesen, am Problem der Willensfreiheit, an der Dialektik von Aufklärung und Mythos, von Eros und Thanatos, von Lust und Angst, Faszination und Schrecken, am Zusammenhang von Grausamkeit und Schaulust, am Problem des Übernatürlichen, am Mythos des Weiblichen, an der Frage nach Sein und Nichts und Mensch und Ding oder an Barbara Steele irgend etwas „unmittelbar einsichtig“ ist. Die Existenz von Horrorkunst ist das Beharren auf der Möglichkeit des Nicht-Einsichtig-Seins und Nicht-Durchsichtig-Seins des philosophisch brennend Wichtigen und scheinbar Geklärten. Im Grunde proklamiert das Horrorgenre, daß die finsteren Zeiten der Aufklärung endlich vorbei sind. Wie die philosophische Skepsis behauptet das Horrorgenre, daß gewisse Fragen, auf die man Antworten schon lang parat hat, nicht so und womöglich gar nicht beantwortbar sind.
Miserable Horrorfilme, deren volle Länge man nur mit Schutzengel übersteht, existieren, so wie es in jedem Genre miserable Filme gibt. Doch darf sich das Horrorgenre einer Vielzahl subtiler, sublimer, intelligenter Werke rühmen, in denen beileibe nicht „unmittelbar einsichtige“ Antworten auf komplexe Fragen gegeben werden. Hier von Trivialität zu reden, erinnert verdächtig an jene Art von Borniertheit, die eine Wahrheit nicht wahrhaben will, weil der Falsche sie äußert. Das Verdikt trivial ist ein Akt der Notwehr. Der Horrorfilm ist Umgang mit Verdrängung. Er inszeniert verbotene, verdrängte und verborgene Erscheinungen der individuellen Existenz oder des gesellschaftlichen Lebens. Den Horrorfilm abzulehnen heißt, den Umgang mit Verdrängung als nicht erwünscht abzulehnen.
Es gilt zu differenzieren zwischen dem Genre und dem Zustand Horror. Natürlich befinden sich das Genre und der Zustand in untrennbarem Bezug: weil der Horrorfilm zum Ziel hat, Horror auch auszulösen; weil der Zustand Horror die Strukturen des Genres generiert; weil das Genre wiederum Erkenntnisgewinn über den Zustand liefert, und weil seit der Katharsislehre des Aristoteles zur Geltung gebracht werden kann, daß die Existenz des Genres zu einer besseren Bewältigung des Zustandes verhilft. Gleichwohl gilt es zunächst, die menschliche Grunderfahrung Horror zu verstehen: der Zustand Horror beginnt mit dem Schauder des Menschen vor dem Übernatürlichen, dem Unheimlichen und Dämonischen. Das Horrorgenre beginnt, spätestens, mit der griechischen Tragödie.
Man könnte mit kaum weniger Recht behaupten, daß es mit den Höhlenmalereien beginnt. Das Bild an der Höhlenwand war auch eine Repräsentation der Kreatur, die Angst einflößt. Das Bild bedeutet Zähmung – nicht der „Bestie“, aber der Angst vor ihr. Durch die Darstellung der Tiere „wird man ihrer Herr“. Das Bild ist Annäherung an das Andere und Mächtige. Dieses wird stilisiert, wird dramatische Vorstellung: die Festlegung zum Bild hilft, die Realität zu bewältigen. Ein Bild herstellen heißt, Distanz zu erlangen; sich vor, neben und über das Abgebildete stellen, von der unmittelbar bedrohlichen Präsenz abstrahieren und eine gewisse Macht über das Gefürchtete gewinnen zu können. „Verbildlichung“ ist nicht Abbildung: „Der Mensch, der zuerst auf den Gedanken kam, das ihn Umgebende festzuhalten, hatte nicht die Absicht, eine getreue Reproduktion herzustellen.“ (Van der Leeuw 1957, 164). Es war ein Re-Präsentieren, das auf der Überzeugung beruhte, daß man sich mit der Darstellung dem Dargestellten nähern, ja bemächtigen kann. Die Herstellung der re-präsentierten Gestalt sichert zugleich Gegenwärtigkeit und Abstand.
Und der Versuch, im Bild das Dargestellte zu beeinflussen, geht davon aus, daß das Dargestellte mächtig ist.
Die Darstellung des Schrecklichen, das Bild des Grauens ist eine Auseinandersetzung mit der Angst, und diese Auseinandersetzung reicht zurück bis in die Uranfänge menschlicher Zivilisation und Kultur. Das fiktive wilde Tier an der Höhlenwand bedeutete ein Sichwappnen gegen das reale wilde Tier. Zugleich bedeutet es die Geburtsstunde des fiktiven Schreckens. Das wilde Tier an die Wand zu malen war eine versuchte, aber nicht vollends geglückte magische Erledigung der Angst. Was da half, mit dem Realen besser umzugehen, war immer noch ein Bild des Bedrohlichen. Es hatte immer noch Macht. Auch aufgund der primitiven Überzeugung, nach der durch das Bild das Wesen erscheint: “ (…) es ist also äußerst gefährlich, dämonische oder göttliche Wesen bildlich darzustellen. Man beschwört sie, indem man sie abbildet oder ihre Bilder aufstellt.“ (Van der Leeuw 1957, 169).
Das Fiktive legte Distanz zum Realen, aber zugleich drang das Schreckliche primordial in das Fiktive. Von Anfang an ist Ästhetisierung ambivalent: ein Bild des Gefürchteten herzustellen bedeutet zugleich Beschwörung seiner Nähe, das wilde Tier an der Höhlenwand vermittelt damit zugleich Lust und Schrecken, das Dargestellte, bildlich Gezeigte ist zugleich anziehend und furchterregend. Hier liegt der tiefere Sinn von Rilkes Wort vom Schönen als des Schrecklichen Anfang. Dieser Anfang bezeichnet einen genau lokalisierbaren Punkt der psychischen Topographie: dort, wo – durch Ästhetisierung, Abbildhaftigkeit und schließlich Herstellung des Schönen – das Schreckliche bis zu einem gewissen Grad überwunden wird, es also ein „Ende“ hat, dort liegt auch sein „Anfang“ – nur in der anderen Richtung. Das Schöne ist ein Spiegel, der uns eine Fähigkeit unserer Wahrnehmung reflektiert. In der Welt hinter dem Spiegel lauert das Schreckliche. Die Spiegelfläche bedeutet zugleich Ende und Anfang des Schrecklichen. Das Horrorgenre ist eine Art des Durchgangs durch den Spiegel. Es muß von der Schönheit des Schrecklichen handeln, weil es in Erinnerung ruft, daß es das Schöne ohne das Schreckliche gar nicht gäbe.
Nicht jeder Schrecken ist tatsächlich lebensbedrohlich, aber jeder Schrecken läßt sich psychisch zu einer Bedrohung der eigenen Existenz verlängern, ist potentielle Totalzersetzung von gesicherter Weltwahrnehmung, gesichertem Identitätsgefühl und kontrolliertem Handeln, potentielle Destruktion eines Gefühls grundsätzlichen In-Sicherheit-Seins.
Eine Anthropologie des Horrors hätte den Zustand Horror in einem Geflecht aus anthropologischen Grundbegriffen zu lokalisieren: Grenze, Form, Erkenntnis, Ordnung, Identität, das Andere. Durch den Zusammenhang dieser sich wechselseitig bedingenden Konzepte entsteht „Wirklichkeit“, der „Kosmos“ als erkennbare, verstehbare, übersichtliche Einrichtung, die „Welt“ als Gesamtheit des Seienden in irgendwie geordneter Einheit, als sinnvolles Verhältnis von Innenwelt und Außenwelt. In der Konfrontation von Grenze, Form, Erkenntnis, Ordnung und Identität mit Formen des Anderen – mit ihrem jeweiligen Anderen – äußert sich die Bedrohung von Makrokosmos und Mikrokosmos durch das ihrer Konstitution inhärente Horrorpotential.
Menschliche Erkenntnis basiert auf den Prinzipien von Grenze, Form und Ordnung. Erkennen heißt, etwas als etwas erkennen, und es gibt kein erkennbares Etwas ohne Form und Grenze. Eine als Tarantel auf einem Kirschkuchen erkannte Tarantel auf einem Kirschkuchen grenzt sich in ihrer Tarantelform nicht nur vom Kirschkuchen, sondern vom gesamten Nicht-Tarantel-Sein überhaupt ab. In der Erkenntnis, so wenigstens die klassische Konstellation, steht ein erfassendes Subjekt einem erfaßten Objekt gegenüber. Damit das Subjekt die Bestimmungen des Objekts erfassen kann, muß das Objekt als Objekt erfaßt sein, differenziert von anderen Objekten. Indem das erkennende Subjekt das Objekt als ein Gegenüberstehendes erfaßt und das erfaßte Objekt von anderen zu erfassenden Objekten abgrenzt, stellt der Erkenntnisprozeß eine Ordnung des Wirklichen her.
Erkenntnis strebt nach dem klar Bestimmten und Differenzierten, also voneinander Abgegrenzten, sie zielt auf das der Form nach Einheitliche und tendiert nicht nur zur widerspruchsfreien Ordnung, sondern zur Widerspruchsfreiheit als Ordnung. Erkenntnis folgt in der Antike dezidiert, in der Moderne diskret, aber habituell einer Strategie des Logos. Als Logos galt in der Geistesgeschichte zunächst die weltdurchwaltende Vernunft, die kosmische Ordnungskraft; der Logos war Signum des göttlichen Ordners des Weltganzen, dem es als Bestem nur gegeben ist, das Schönste zu tun (Platon, Timaios 30 a/b), und nichts ist – für Platon und mehrheitlich seit Platon – schöner als ein vernünftig geordnetes und durch Vernunft in seiner Ordnung erkennbares Ganzes. Die göttliche Macht hatte alles Sichtbare „in ungehöriger und ordnungsloser Bewegung“ (Platon 2019, 29) vorgefunden: eine Art Chaos also, aber sichtbar. Auch das Schöne, das der Logos à la Platon schuf, ist das Ende des Schrecklichen, könnte aber jederzeit auch wieder dessen Anfang werden, sobald dieses geordnete Formannehmen voneinander abgegrenzter Dinge in Auflösung geriete.
Da die Rede vom Sichtbaren ist, erklärt sich von selbst, wie die Strategie des Logos auf dem Prinzip des Eidos beruht. Das Wort eidos bedeutet zunächst Urbild, Form, Gestalt, Wesen und gewinnt dann Färbungen, die sich mit den Bedeutungen von Logos überschneiden: Begriff, Idee. Der Gehalt des Terminus Logos fächert sich weiter auf: Rechenschaft, Begründung, Wort, Rede, Gedanke, Sinn, Begriff, Sprache, Ordnung, Vernunft. Heraklit hatte den Logos eingeführt als das ewige Prinzip, nach dem das Weltganze geordnet ist. Nicht die ständige Veränderlichkeit der Phänomene, wie man nach seiner Auffassung, daß alles fließt, annehmen könnte, sondern die innere Balance aller Dinge und die innere Einheit aller Gegensätze ist das Zentrale bei Heraklit: der Logos ist das die Einheit Stiftende, das stabilisierende innere Gefüge des Kosmos, die unsichtbare Struktur und Harmonie, die (laut Fragment 54) mehr gilt als die sichtbare. Vielleicht „gilt“ sie mehr, aber psycho-logisch gesehen ist sie später als die sichtbare Harmonie. Der Logos à la Heraklit teilt sich als Struktur des Seins im Erkanntwerden dem Denken mit, ist als Gedanke aussprechbar: ein Prinzip des Seins überträgt, indem es erfahren wird, seine Struktur dem Bewußtsein, der Sprache, bewirkt das geordnete (vernünftige) Reden. Dieser Sichtweise gereicht die Vernunft zur Repräsentation des Logos als der einigenden Ordnungskraft, die den Kosmos durchwirkt: Vernunft, die mit innerer Logik vorgeht, ist deckungsgleich mit dem Weltlogos. Durch die Bewegung, mit der sich das Sein „in das Denken und das Wort hinein realisiert“ und differenziert, Logos also „Realisierung von Grundstrukturen des Seienden“ (Schadewaldt 1978, 27) bedeutet, sucht sich das Denkgeschehen seine Objektivität zu garantieren. Tatsächlich aber ist die „sichtbare Harmonie“ ihrerseits Produkt einer anthropologischen Disposition: der Notwendigkeit, dem Prinzip des eidos zu folgen, sichtbar voneinander abgegrenzte Formen zu sehen und so eine Ordnung in die Welt hineinzuregeln.
Sokrates bzw. Platon erklären Logos zur begründeten Rede, die, weil sie von etwas Rechenschaft gibt, Erkenntnis zeitigen kann. Auf Logos-Rede kann man sich verlassen, denn es ist Rede der Form, und dies kann sie sein aufgrund voneinander abgegrenzter Inhalte. Aber schon die Bedeutung von Logos als Wort verrät das Auftauchen des Logos aus dem Eidos: Logos als Wort bedeutet nicht Vokabel, sondern ein Wort, dessen Form durch einen zugrundeliegenden vernünftigen Gedanken zustandekommt; es bedeutet, daß sinnvoll etwas zu etwas erklärt wird, und das ist möglich, weil es möglich ist, es als etwas anzusehen und zu betrachten. Der Logos verbietet die Ansichtssache, weil die in Rede stehende Sache als Eidos ansichtig ist, klar bestimmt durch Grenze und Form; erfaßbar als Bild, Begriff, Idee. Logos handelt vom Übergang einer sinnvollen Anordnung einzelner, voneinander abgegrenzter Formen aus dem Sein in das Bewußtsein. Das Verschiedene wird der Vereinheitlichung unterzogen und zusammengesetzt durch den Logos. Logoi sind (harmonische) Verhältnisse (vgl. Aristoteles, Metaphysik 986a). Angeordnet werden kann nur, was schon Grenze und Form hat, und das Angeordnete ist das Zusammengelegte, Gesammelte, Zusammengelesene: Logos stammt ab von legein, ursprünglich auflesen, sammeln, zusammenlegen, ordnen, zusammenlesen, zählen. Der Logos aktiviert die vernünftigen Funktionen des Menschen: Sprechen, Denken, Rechnen. Zählen wird Aufzählen wird Erzählen: etwas herzählen bedeutet, etwas in bestimmter Ordnung zu nennen, einen bestimmten Zusammenhang herzustellen, ein „Gefüge von Verhältnissen und Bezügen“ sichtbar zu machen: Logos erscheint hier als „Proportionalität“ (Schadewaldt 1978, 73 ff.).
Logos ist stimmige Rede, weil sie zu einem wohlgefügten Ganzen verbindet. Zur Zeit Homers galt Sprache nahezu nur dann als Sprache, wenn sie Wohlklang aufwies, wenn sie das Harmonische und Stimmige verriet. Das Gesammelte kann in geordnetes Reden übergehen, sofern Bestandteile voneinander abgegrenzt und in harmonische Form gebracht werden.
Grenzsetzung und Formverlangen sind anthropologische Grundbedürfnisse. Grenze und Form sind die Primärfaktoren unserer „Wirklichkeit“, die ersten Medien jeder Kosmogonie, Bedingungen, ohne die Erkenntnis nicht Erkenntnis sein könnte. Gravierende Auflösungserscheinungen von Grenze und Form provozieren den Zustand Horror. Der im engeren Sinne rationalen Welterkenntnis ist stets ein Modus der Überwindung eingewoben. Die Strategie des Logos versteht sich als Überwinderin der mythischen Weltsicht, in der Grenzen durchlässig bleiben und die Elastizität der Metamorphose regiert. Ratio verlangt immer neues Beharren darauf, daß der „Welt“ vernunftgemäßes Erkennen entspricht. Ratio bedeutet ursprünglich das Abrechnen und Berechnen und entwickelt sich, wie Logos, vom sinnvollen Zusammenlegen, vom Stimmen der Rechnung her. Summen geben Rechenschaft, Rechenschaft gibt Aufschluß, berechnende Rücksicht wird Erwägung, das aus Überlegung Hervorgegangene zeitigt Begründung, die Ratio wird Grund, und wo ein den Gegenstand erklärender Grund ist, sind vernunftmäßige Verhältnisse: Maße, Gesetzmäßigkeiten, Regeln, mit einem Wort: da ist Ordnung. Erkenntnis ist Mobilisierung der Prinzipien Grenze und Form im Namen der Strategien von Logos und Ratio.
„Rationalität“ hat also eine Provenienz, die nahezu synonym ist mit Aufrechterhaltung des Kosmos. Rationalität als die den westlichen Kulturkreis dominierende Weise des Zugriffs auf die Welt behauptet, daß die Welt ohne Ratio ohne Grund ist, ohne Fundament, und also ins Bodenlose versinkt; zudem verbindet sie die Auflösung von (oder Auflehnung gegen) Grenze und Form mit dem Irrationalen. Das Horrorgenre feiert die Saturnalien von Logos und Vernunft – die Zeit, in der die innere und äußere Ordnung außer Rand und Band gerät.
Selbst eskalierende Ratio hat ihren Grund in der visuellen Anschauung, die wiederum unmöglich wäre ohne die Prinzipien von Grenze und Form. Grenze und Form sind „apollinische“ Prinzipien: Camille Paglia hat apollinische Strukturiertheit zum Charakteristikum des westlichen rationalen Denkens, der abendländischen Kultur überhaupt erklärt: das Streben des westlichen Menschen ist auf die Form, auf die abgegrenzte Identität der Dinge gerichtet.
Tatsächlich läßt sich sagen, daß die berühmte Geste des ausgestreckten Armes des Gottes Apollon alles symbolisiert, was Erkenntnis sichert und gesicherte Erkenntnis zeitigt: Abstandnahme, Distanzierung, Vergegenständlichung, Verobjektivierung, Verbildlichung, Ästhetisierung, Vereinheitlichung, Grenzziehung, Formgebung, Sicherung von Identität und Ordnung. Damit ist nicht das Abendland umschrieben. Aber es sind vorherrschende modi einer in der westlichen Zivilisation vorherrschenden Tendenz, die sich unter dem Begriff des Apollinischen zusammenfassen läßt. Der Zusammenbruch des sicheren Abstands zu den abgegrenzten Objekten und festumrissenen Formen, die Außerkraftsetzung der erkenntnissichernden modi, die dem Menschen die Überzeugung erlauben, sich der Welt zu bemächtigen, der Rücksturz in chaotisches Verwischen und Verschmelzen der Grenzen, Formen und Identitäten bedeutet Horror. Und in einem apollinischen Kosmos entspricht der Zustand Horror der lärmenden Dissonanz des Dionysischen.
Paglia unterstreicht, daß Identität in der westlichen Kultur weitgehend synonym ist mit abgegrenzter Identität. Dies betrifft die Dinge wie die personale Integrität: der abendländische Begriff der Individualität ist apollinisch. Das Konzept der Identität ist abhängig vom Konzept der Grenze und zwangsläufig auch Funktion der Form-Bedeutung. Ich-Identität, Übereinstimmung der Person mit dem, was sie ist, setzt voraus, daß dieses Etwas, an dem Übereinstimmung stattfindet, eine Form hat. Affizierbarkeit der personalen Identität bedeutet, daß etwas – das Andere – ihre Grenze trifft, bedeutet die potentielle Veränderbarkeit ihrer Form. Wenn die festumrissene Grenze der Identität so spezifisch westlich ist, erscheint auch ihre erhöhte Enervierbarkeit durch das Andere, ihre erhöhte Anfälligkeit für Horror spezifisch westlich. Buddha ist der unbegrenzt Existierende, der kein Anderes kennt: seine Unbegrenztheit begründet seine Untangiertheit, seine Nichtaffizierbarkeit.
Personale Identität bedeutet, daß es ein Anderes gibt, das nicht zu ihr gehört: Identität und das Andere bedingen sich ebenso wechselseitig wie Ordnung und Erkenntnis. Wie es keine Identität ohne das Andere und kein Anderes ohne Identität gibt, so gibt es keine Erkenntnis ohne Ordnung und keine Ordnung ohne Erkenntnis. Ohne die Konzepte von Grenze und Form wiederum gibt es weder Erkenntnis noch Ordnung, und ohne das Konzept der Grenze gibt es keine Form: im Werden zur Gestalt findet das Unbegrenzte Begrenzung. Offenkundig also hat das Konzept der Grenze in diesem anthropologischen Koordinatensystem die tragende Rolle.
Laut Karl Jaspers gibt es drei Anlässe für Philosophie: das Staunen, den Zweifel und die Grenzsituation, jene Situation, in welcher der Mensch seine Existenz erfährt und seiner Endlichkeit gewahr wird: Sterben und Tod, Schmerz, Leiden, Kampf, Schuld. Sichtlich nun ist auch Horror eine Grenzsituation; ein Zustand, der das Gewahrwerden von Endlichkeit abfordert, indem er an Identitätsgrenzen rührt: sei es in der Konfrontation mit Tod und Auflösung, die an die Begrenztheit des Lebens, an die Endlichkeit personaler Identität überhaupt gemahnt, sei es im herausfordernden Zugriff auf eine bestimmte Grenze in der Konstitution des Selbst, der immerhin noch die Möglichkeit eines Todes im Leben beschwört – den Tod des alten Selbst.
Die Grenze erzeugt das Jenseits der Grenze: das Andere, das Fremde. Der Zustand Horror vermerkt die Bedrohung und das Überschreiten von Grenzen elementarer Bedeutung, den plötzlichen Einbruch oder Übergriff des Anderen und Fremden. Es gibt Horror, seit es die Wahrnehmung von Grenzen gibt, und es gibt die Wahrnehmung von Grenzen, seit es Wahrnehmung gibt. Wo keine Grenze ist, kann nichts wahrgenommen werden außer Chaos. Das heißt, kann Chaos wahrgenommen werden? Wo Chaos konstatiert werden soll, muß es immerhin die Grenze geben, die eine Perspektive ermöglicht, aus der das Chaos wahrgenommen werden kann. Wenn Paglia bemerkt, das Chaos der archaischen Nacht sei „formlos und grenzenlos“ (Paglia 1995, 359) gewesen vor der Geburt des Blicks, ist damit die Blickdominanz der westlichen Kultur als Maßnahme gegen das Chaos angesprochen. Wir fürchten eine Grenze zum Chaos, die wir mit ordnungshörigem und ordnungsschaffendem Blick fernzuhalten suchen; aber wir glauben an die Existenz dieser Grenze.
Es gibt keine Erkenntnis ohne Grenzen. Die Grenze etabliert Ordnung durch Differenzierung: undifferenzierte Einheit oder Chaos oder Formlosigkeit oder Anarchie wird in Ordnung überführt durch Akte der Abgrenzung. Die Grenze ist elementares Prinzip der Seinsgestaltung – und Abgrenzung ist elementares Prinzip der Identität. Indem durch Abgrenzung das Andere entsteht, stellt sich Identität her, und die Art und Weise der Grenzziehung bestimmt, in welchem Maße das Andere das Fremde ist. Das in der Herstellung von Ordnung und Identität konstituierte Andere wird zum potentiellen Horror, wenn seine Entfernung durch die Grenze zu weit oder nicht weit genug gegangen ist; wenn es zu fremd geworden oder zu nah geblieben ist. Durch die Grenze selbst gerät Horror zur ständigen Unio mystica – zur geheimnisvollen Einheit – mit dem Anderen.
Eine Grenze des Selbst ist tangiert und steht auf dem Spiel, die sich beim Menschen der Frühzeit auch dadurch erst befestigte, daß er im Horror die Grenzverletzung empfand. Der überwältigende, schaudernmachende Eindruck beweist etwas, das überwältigt worden ist und schaudert; mir widerfährt, also bin ich – horreo ergo sum. Die erste plötzliche Konfrontation mit einem Anderen in der archaischen Menschheit war der Übergriff des Numinosen, empfunden als Schauder vor dem mysterium tremendum und dem Ganz anderen, wie Rudolf Otto es nennt.
Die Strategie des Logos vermag den Zustand Horror nicht abzuschaffen, denn Horror dringt gerade aus den Sollbruchstellen dieser Strategie und beweist die Anfälligkeit der Aufklärung für den inhärenten Feind, das von ihr vermeintlich Überwundene. Angst, Verstörtheit, Unglück, Beunruhigungen, Spannungen fliehen zu Rationalisierungsbestrebungen. Die Grenzziehung als anthropologische, erkenntnistheoretische oder auch soziale conditio sine qua non soll den Horror bannen, Furcht minimieren, diffuse Weltangst lindern, soll Form, Ordnung, Identität und Erkenntnis gewährleisten – und enthält doch in dem Maße ein gesteigertes Potential für Horror, je rigoroser die Grenzen gezogen werden. Je mehr das Andere durch rigide Grenzziehung zum Fremden wird, um so befremdlicher und horrender wird der Kontakt mit ihm, wenn die Grenze keine Ab- und Ausgrenzung mehr leistet. Dialektik der Aufklärung: je mehr beherrschbar und beherrscht wird, um so stärker wird der Rest an Unbeherrschtem und Unbeherrschbarem zur Quelle der Angst.
Eine Anthropologie des Horrors hätte also der These zu folgen, daß Horror die beständig lauernde Immanenz in den humanen Strategien zur Weltbewältigung ist, eine durch das Streben nach Weltbewältigung gesetzte Immanenz, eine Art ghost in the machine in der Entwicklung der rationalen, logisch-vernunftgebundenen Welt- und Selbsterkenntnis. Horror ist der auf Grenze, Form, Ordnung und abgegrenzter Identität basierenden apollinischen Strukturierung der Welt notwendig inhärent. Zuerst bestimmt die Art des Horrors die Art der Rationalität: Strategien der Weltbewältigung sind zunächst Strategien zur Vermeidung von Horror. Als Geist in der Rationalitätsmaschine wird der Zustand aber nach wie vor akut, wenn deren Strategien versagen oder sich als unzulänglich, als verkürzend herausstellen. Der Zustand Horror verweist auf die andere Seite der apollinischen Struktur. Im Horrorgenre erscheinen Wesen und Zustände, deren Herkunft die „Hohlräume in der abendländischen Kultur“ (Leppmann 1993, 149) sind. Indem das Genre Horror den Zustand Horror vorsätzlich beschwört, erinnert es an die von den rationalen Strategien ausgeblendeten Bereiche und kritisiert die von ihnen geschaffenen Paradigmen. Grenze, Form, Ordnung oder Identität als anthropologische Grundkonstanten bzw. erkenntnistheoretische Versicherungen werden vom Horrorgenre in ihren deutlichen oder möglichen Verengungen angegriffen; die Frage des Bezugs zum Anderen – und zum Anderen der rationalen Paradigmen – wird stets aufs neue zugespitzt.
Horrorkunst würde nicht auf diese Weise kritikfähig sein können, wenn der Zustand Horror lediglich aus Repulsion und Abscheu bestünde; dann käme es stets zur Reduktion auf den Status quo, zur Affirmation und Festigung bestehender äußerer und psychischer Gefüge. Der Zustand Horror ist jedoch wesentlich Ambivalenz: eine Mischung aus Abscheu und Lust, aus Repulsion und Faszination. Und diese Lust, diese Faszination am Anderen des Status quo verleiht dem durch das Horrorgenre transportierten Unbehagen über das allzu Verengende der rationalen Strategien Gewicht. Abscheu und Repulsion sind Reaktionen der Beschränkung, apollinische Bekräftigung bestehender, versichernder Grenzen und Formen. „Das Apollinische ist stets reaktionär“ (Paglia 1995, 162). Lust hingegen ist stets Lust an der Erweiterung, also auch an dionysischer Grenzauflösung. Freud definierte Eros als das Streben danach, größere Einheiten zu schaffen. Der Schauder des Horrors bedeutet eine Art Aufrichten der Antennen: zur Kommunikation mit dem Unbekannten, Unvertrauten, Unheimlichen. Jede Art von Horror hat diese erotische Komponente: die plötzliche und violente oder aber sukzessive, jedoch anhaltende Öffnung zum Austausch mit dem Anderen, ein Austausch, der das eigene Selbst moduliert und modifiziert. Der Reiz des Schreckens besteht darin, diese Öffnung zu ertragen. Nicht trotz der Aufklärung gibt es eine Lust an der Angst, sondern wegen ihr.
Horror steht in der Dialektik von Grenze und Entgrenzung, von Form und Formlosigkeit bzw. Deformation, von kognitiver Orientierung und kognitiver Desorientierung, von Ordnung und Chaos; in der Dialektik von Ich-Identitäts-Sehnsucht und Ich-Identitäts-Auflösungs-Sehnsucht; schließlich in der Dialektik des Selben und des Anderen, des Eigenen und des Fremden. Virulent wird der Zustand Horror in der Wechselwirkung einer auf Grenze, Form, Ordnung und Identität sich beziehenden apollinischen Beharrungstendenz und einer dionysischen Auflösungstendenz. Das Horrorgenre thematisiert zugleich den Schrecken der Nichtvorhandenheit von Grenze, Form, gesicherter Erkenntnis, Ordnung, Identität, und die Lust an der zeitweiligen Nichtvorhandenheit all dessen; der Zustand Horror schillert zwischen der Sehnsucht nach dem integren, abgeschlossenen Selbst und der Sehnsucht nach dem Anderssein, der Metamorphose. Zwischen der Angst, daß man die Kontrolle über das eigene Schicksal verliert, und der Lust daran.
Horror ist anthropologische Notwendigkeit gerade durch das anthropologische Grundbedürfnis nach kognitiver Orientierung. Die plötzliche Konfrontation mit dem Anderen als dem, was den prinzipiell zu immer mehr Rationalität strebenden Strategien kognitiver Orientierung prinzipiell zuwiderläuft, die Konfrontation mit dem, was im Hinblick auf Grenze, Form, Ordnung und Identität das Andere darstellt und in seiner Bedrohlichkeit doch zugleich faszinierend und anziehend wirkt, ist die klassische Horrorsituation.
In seiner Theorie der Moderne namens Philosophie des Geldes (1900) erkennt Georg Simmel im Hinblick auf das Lebensgefühl und den Stil des modernen Individuums die Distanz als eine grundlegende Bestimmung. Simmel diagnostiziert die Tendenz zu einer immer größer werdenden inneren Distanzierung zwischen dem Ich und seinen Lebensinhalten, inneren wie äußeren, als ein Signum der Moderne, das sich weit über den Bereich des bloß Ästhetischen hinaus kundgibt. Das Interesse seiner Zeit begreift Simmel als in ungewöhnlich hohem Maße auf Entfernung und Vergrößerung der Distanz gerichtet: er konstatiert die grundsätzliche Neigung, die Dinge möglichst aus der Entfernung auf sich wirken zu lassen. Das ästhetische Interesse gilt Simmel hier nur als das anschaulichste Zeitzeichen. Generell habe das moderne Individuum, wie Simmel feststellt, eine Scheu vor der konkreten Nähe entwickelt, womöglich gar eine verkümmerte Empfindungsfähigkeit dieser konkreten Nähe gegenüber. Den seinerzeit dominierenden Kunststil des Symbolismus deutet Simmel als Berührungsangst, als Furcht, in allzu nahe Berührung mit den Objekten zu kommen, und als Symptom einer Hyperästhesie der Moderne. Es liegt nahe, den Zustand und das Genre Horror auch im Lichte einer solchen Diagnose zu betrachten: im Phänomen Horror verbirgt sich auch eine Dialektik von Nähe und Distanz.
Apollon und Dionysos haben in diesem Zusammenhang nicht nur emblematische Funktion; vielmehr sind das Apollinische und das Dionysische zu verstehen als zwei grundsätzlich differente Einstellungen zu Nähe und Distanz, als zwei genuin zu unterscheidende Verhaltensweisen zu Grenze, Form, Ordnung, Identität und den modi des Erkennens, als zwei Arten, sich zum Anderen zu verhalten. Der Zustand Horror oszilliert zwischen dem Apollinischen und dem Dionysischen, zwischen dem Willen zur Umgrenztheit und der Lust an der Auflösung.
Horror, als Kompositum aus Angst und Lust, als Reaktion auf die Andersheit des Anderen, als Grenzgang zwischen der Sehnsucht nach Grenze und der Sehnsucht nach Entgrenzung, wird durchzuckt von einem irritierenden Reflex: der Lust an der Zufügung, dem lustvollen Aushalten des Erleidens von Macht, Übergriff und einer Art von Gewalt. Horror ist ein Intensimeter im sadomasochistischen Labor der Psyche.
Kein schmaler Grat läßt in solchem Maße Wanderungen zu wie die Grenze. Ernst Cassirer hat in seiner Philosophie der symbolischen Formen eine Reihe von mythischen Indifferenzen zusammengefaßt und erklärt, welche Grenzen im mythischen Weltbild nicht gezogen wurden – oder werden. Das Horrorgenre handelt auch vom Einbruch dieses mythischen Weltbildes in das moderne, wissenschaftliche, vernunftgeleitete Weltbild. Es handelt vom atavistischen Untergraben der Strategien, die Logos, Rationalität und Aufklärung hinsichtlich der Grenzziehungen zwischen, unter anderem, Leben und Tod, Mensch und Tier, Vergangenheit und Gegenwart, Ich und Nicht-Ich, Erscheinung und Wesen, psychischen Funktionen und materieller Existenz, Substanz und Kraft, einem Ort und seiner „Macht“ für unwiderlegbar und unwiderruflich halten. Cassirers Beschreibung des mythischen Weltbildes liefert Parameter für die Analyse des Horrorgenres.
Eine Phänomenologie des Horrors hätte die verschiedenen Erscheinungsformen des horrenden Anderen zu untersuchen. Versionen des Anderen, die auftreten könnten: das Übernatürliche, das Nichtseiende, das Unheimliche, der Tod, das Formlose, das Monströse, das Dämonische, das andere Ich, die Natur, das Heidnische, die Sexualität, der Körper, die Frau. Es sind dies selbstredend auch Erscheinungsformen einer kulturellen Herstellung des Anderen. Ein eigenes Kapitel würde dem Vampir zustehen, nicht nur, weil es sich um den populärsten Vertreter des Horrorgenres handelt, sondern vor allem, weil Vampirismus wie kein anderes Motiv des Horrorgenres über die Lust an der Zufügung aufklärt.
Eine Ideologie des Horrors hätte zu untersuchen, mit welchen Zielsetzungen Horror evoziert wird. Es gibt eine Geschichte des Einsatzes von Schreckbildern zur Einschüchterung, etwa in den Höllenvorstellungen, die als moralisches Druckmittel mit dem Ziel der Verhaltenskontrolle und letztlich einer Aufrechterhaltung des gewünschten Status quo propagiert wurden. Eine gängige These zum Horrorgenre lautet, daß es als eine Art „mythische Aufklärung“ funktioniert, über den in gesellschaftlicher, sozialer oder geschlechtlicher Hinsicht erwünschten Status quo informiert und opportunes Verhalten propagiert. Das Andere und Fremde werde mit dem Bösen assoziiert, das in die jeweils sakrosankte Struktur eindringt, doch führe der Horrorfilm dieses potentiell Zersetzende nur vor, um es wieder zu überwinden und so die Stabilisierung der herrschenden Zustände und erneutes Dissimilieren vom Anderen und Fremden nahezulegen. Vertretern dieser These gilt das Horrorgenre als morality play mit stets demselben repressiven und reaktionären Ausgang. Was in Frage zu stellen wäre.
Die Verabreichung von realem Schrecken oder Schreckbildern war auch stets zur Lusterzeugung dienlich. Realhorror hat seine Geschichte auch als öffentliches Spektakel, von den römischen Schauspielen, bei welchen der Darsteller des Herkules im Nessushemd tatsächlich verbrennen mußte, bis zu den Hexenverbrennungen und öffentlichen Hinrichtungen. Die Verabreichung von Horror-Bildern soll demgegenüber als Surrogat gelten, das einen nach Grausamkeit lüsternen Voyeurismus befriedigt und entschärft. Wenn aber schon die Verabreichung von Realhorror als Kanalisierung des Instinkts zu realer Gewalttätigkeit gelten soll und somit selbst Surrogatfunktion einnimmt, wird eine Grenze zwischen Realhorror und Schreckbild fließend: beides scheint auf dieselbe psychische Disposition zu treffen.
Womit die Ebene der Rezeption angesprochen ist. Warum setzen sich Menschen überhaupt dem Schreckbild oder dem Realhorror aus? Von welcher Art ist der Genuß daran? Und in welcher Beziehung steht dieser Genuß mit den Intentionen, die hinter der Produktion von Schreckbildern stehen? Sind die Botschaften, die angeblich vermittelt werden sollen, wirklich die vermittelten Botschaften? Ist nicht vielmehr die Behauptung, der Horrorfilm solle eine bestimmte Botschaft vermitteln, ihrerseits verdächtig, insgeheim selbst die Stabilisierung des Status quo für vermittlungsbedürftig zu halten? Der Horrorfilm ist hier in solchem Maße offen für Ambivalenzen, daß zu fragen ist, ob die ihm lange zugeschriebene Intention nicht eine aus bestimmten Gründen propagierte Fiktion ist; es sind längst ganz andere Botschaften empfangbar als Konformismus, Konsolidierung der Ordnung und Exorzierung des Anderen.
Im Horrorgenre wird auch das nicht aufzuhebende Andere im Ich thematisiert; aus dem desintegrierten Ich eine neue Haltung dem Anderen und Fremden gegenüber zu entwickeln, ist der Ansatz von Julia Kristeva in Fremde sind wir uns selbst. Wo Immanenz des Fremden im Eigenen konstatierbar ist, bedeutet das Fremde hassen und bekämpfen nichts anderes als: das eigene Unbewußte, das eigene „dunkle“ Andere hassen und bekämpfen. Wenn ich mir selbst Fremder bin, gibt es keine Fremden, die fremder wären als ich.
Dies eröffnet den Blick für die subversive Ethik des Horrors. Integrale Andersheit zu erkennen, kann bedeuten, das Andere integral zu behandeln. Grenze, Form, Identität, Ordnung sind geschlossene Konzepte; Horror ist ein Weg ins Offene, und das Offene ist ein Weg aus dem Horror. Der Zustand Horror birgt hochexplosives erotisches Material; wenn Horror eine erotisch aufgeladene Konfrontation mit dem Anderen und Fremden ist, heißt dies zumindest für die Dauer des Affekts: sich in größerer, erweiterter Einheit mit dem Anderen und Fremden zu befinden. Worauf es ankäme, wäre: den Affekt dadurch letztgültig aufzuheben, daß etwas an ihm ins Unendliche verlängert wird – der intensive Austausch mit dem Anderen und Fremden. Die Bilder des Horrors bedeuten in diesem Sinne: Öffnungen zur Andersheit.
Der Zustand Horror befreit kurzfristig von der Rationalität. Aber ein Zustand namens das Offene könnte längerfristig vom Horror befreien. Nach Jaspers ist die existenzerhellende Grenzsituation immer auch Durchgangssituation. Wohin also? Zur Fortsetzung von Kierkegaards Der Begriff Angst mit anderen Mitteln: nicht der Sprung in den Glauben wie bei Kierkegaard, sondern der Sprung ins Offene ist zu wagen, als Geste gegen die einseitig verengte und verengende, verselbständigte Rationalität, die „lebensfeindlich (…), (selbst)zerstörerisch, imperialistisch“ (Collmer 1994, 344) wirkt, sofern sie die grausame Geschlossenheit der Form und die lediglich ausgrenzende Grenze verlangt, aus dem Konzept der Ordnung Ambivalenz und Widerspruch, aus dem Konzept der Identität „verstörende“ Metamorphosen herauszuhalten sucht, sofern ihre Logik nicht Alogik zu umgreifen lernt und sofern ihr Bezug zum Anderen permanent genau jene Geister beschwört, die sie zu bannen sucht.
Die Beschäftigung mit dem Zustand Horror ist notwendig auch eine Zustandsbeschreibung der westlichen, abendländischen Rationalität. Der Zustand Horror reflektiert präzise, wie diese Rationalität sich konstituiert, was sie bedroht und wo ihre Defizite liegen. Sich auf den Zustand und das Genre Horror einzulassen heißt, sich auf das Unbehagen in der Rationalität einzulassen. Wo Rationalität in Hyperrationalität umschlägt, die Hypermuster schafft, Hyperordnung oder Hyperidentität einschleusend, kann Horrorkunst als Korrektiv wirken. Der Zustand Horror ist dezentrierte Rationalität; das Genre Horror ist kalkulierte Dezentrierung hypertropher Rationalität. Wenn Hyperrationalität ihrem immanenten Horror ständig ausgeliefert ist, bedarf es der Offenheit nicht für Irrationales, aber für Para-, Kontra- und Neorationales. Das Gegenteil von Hyperrationalität muß nicht Obskurantismus sein.
Selbst dort, wo im Plot die Interaktion mit dem Anderen und Fremden jäh abgebrochen wird, mahnt der Horrorfilm doch unentwegt zur Überprüfung des eigenen Bezugs zum Anderen und Fremden. Selbst dort, wo er Repression bebildert, kann er progressiv wirken. Selbst dort, wo der Plot restriktiv zur Ordnung ruft, kann der Film sie destabilisieren. Horror als die Kraft, die stets das Eigene will und doch das Fremde schafft. Der Stoff, aus dem die Alpträume sind, verdient einen Traum am Grenzstein: über die Grenze als Sicherheitsfaktor und als Unsicherheitsfaktor, über die Weisen, sie zu überschreiten, über den Wert der Grenzerfahrung und die Horizonterweiterung durch den Grenzgang. Ist das noch (oder schon) Philosophie? Philosophie bedeutet: Liebe zur Weisheit. Philosophie des Horrors bedeutet: Liebe zur Weisheit des Horrors.
Die Philosophie des Horrors ist interdisziplinär und zuweilen disziplinlos. Sie versucht sich objektiv am Aufspüren eines Urphänomens, erlaubt sich aber auch gnadenlose Subjektivität. Sie ist geboren aus der Erkenntnis, daß Philosophie dem Horror nicht entkommen kann – und Horror der Philosophie nicht entkommen können sollte.
Literatur:
Aristoteles: Metaphysik, Reinbek bei Hamburg 1994.
Collmer, Thomas: Pfeile gegen die Sonne. Der Dichter Jim Morrison, Augsburg 1994.
Heraklit: Fragmente, München und Zürich 1986.
Leppmann, Wolfgang: Rilke. Sein Leben, seine Welt, sein Werk, Bern und München 1993.
Paglia, Camille: Die Masken der Sexualität, München 1995.
Platon: Sämtliche Werke, Band 4, 25. Auflage Reinbek bei Hamburg 2019.
Schadewaldt, Wolfgang: Die Anfänge der Philosophie bei den Griechen, Frankfurt am Main 1978.
Schmid, Hans: Fenster zum Tod. Der Raum im Horrorfilm, München 1993.
Van der Leeuw, Gerard: Vom Heiligen in der Kunst, Gütersloh 1957.
Alphonsine Plessis, die sich als Pariser Kurtisane Marie Duplessis nannte, wurde am 15. Januar 1824 geboren. Sie war das Vorbild für die Figur der Marguerite Gautier im Roman „Die Kameliendame“ von Alexandre Dumas fils, der einer ihrer Liebhaber war.
„Auf dem Schreibtisch liegt die gelblichbraun gewordene, vom Sarkophag der Alphonsine Plessis genommene Blüte aus Paris. Aljoscha hatte sie auf dem Montmartre-Friedhof von einem der Buketts gepflückt, die man der Kameliendame noch immer auf das Grabmal legte. Eine Blume, mit der irgendein schwärmerischer Bewohner der Stadt sich für eine stille Huldigung zu diesem abgelegenen Platz begeben hatte, wo die mit 23 Jahren an der Schwindsucht gestorbene Kurtisane bestattet war, eine solche Blume vom Grab zu nehmen und sie aufzubewahren, schien Aljoscha kaum weniger wert als das Bringen einer Blume.
Es war mehr als hundert Jahre her, daß Alphonsine, die Attraktion der Pariser Salons, Maskenbälle und Theater, kurz vor ihrem Tod gesagt hatte: ‚Niemand hat meine Liebe je erwidert. Das ist das eigentlich Grausige in meinem Leben.'“
[Christian Erdmann, Aljoscha der Idiot]
Rezension #12
24. Juli 2009
Phantastisch!
Von D. Otte
Eine kurze klärende Aussage vorweg: anders als der nickname vermuten lässt, ist der Autor dieser Rezension in keiner Weise mit dem Autor des besprochenen Romanes verwandt oder verschwägert. (*)
So, jetzt aber zum Roman: Dieser ist auf vielerlei Weise phantastisch (mit „ph“). Eigentlich ist die Story ja eher gewöhnlich, mag im Alltag tausendmal vorkommen: Mann ist mit Frau zusammen, verliebt sich aber in eine andere Frau. Wird dadurch aus seinem Alltagsstrudel gerissen, fängt an, sich über sich und sein Leben Gedanken zu machen… Typische Midlife-Crisis, etwas verfrüht vielleicht, mag man sich denken. Phantastisch ist, was Christian Erdmann aus dieser Geschichte macht. Wir erleben den Protagonisten so hautnah, dass wir mit ihm fühlen. Wir verlieben uns ebenfalls in die „Katzenmenschenfürstin“, die sein Leben durcheinander bringt, wir zittern, ob sie sich für uns entscheiden mag oder nicht. An anderer Stelle dagegen rufen wir Aljoscha zu: „Bleib bei deiner langjährigen Liebe, sie ist doch viel eher für Dich geeignet“ und denken „Du Idiot“ – ganz im Sinne des Titels. Kurzum, dieser Roman lässt uns einfach nicht kalt.
Denn Christian Erdmann versteht es einfach auf fantastische Art und Weise (jetzt mit „f“) die Gefühle, die Aljoscha empfindet, in Worte zu fassen, etwa, wenn er Aljoscha in ein Selbstgespräch mit „Wehmut“ verwickelt. Oder wenn Aljoscha darüber sinniert, ob sich die Sonne wohl ausschließlich um die Katzenfrau drehen mag und Zusammenhänge herstellt, die so eigentlich nie bestehen könnten. Dank der Referenzen an diverse Popmusiker, Philosophen und Poeten wissen wir zudem: in jedem gewöhnlichen Drama eines gewöhnlichen jungen Mannes steckt ein Teil des großen Weltendramas. Und wie großartig erst der Schluss ist – wird hier nicht verraten.
Und wer diesen Roman nicht mag – nun ja, der war vermutlich noch nie richtig verliebt.
(*) Der Rezensent nannte sich ursprünglich
„erdmaennchen sonnenschein“
Rue des Prêtres Saint-Germain l’Auxerrois
Lange tat ich so, als haßte ich sie wie die Pest – sicheres Zeichen. Dann saß ich im Klassenraum neben ihr. Unerhört. First boy dares. Alle liehen ihr Ohr den süßen Anspielungen und warfen sich vielsagende Blicke zu. Die Störenfriede lästerten, aber allesamt begehrten sie Iris. Iris mit ihrem rotbraunen Francoise-Hardy-Haar, den Rehaugen und den langen Beinen. Sie hat mich im Zimmer ihres guten Freundes, des transvestitischen Peter T, mit Ziggy Stardust bekannt gemacht. Iris kümmerte sich nicht mehr um den Zinnober linkischer Jünglinge. Sie wußte, daß alle sie begehrten, und sie spielte die Rolle der scheuen Göttin blendend. Sie war kein Mädchen mehr. Sie war mein Inbegriff von Weiblichkeit. Irgendeine Party, die irgendein Dunstkreis von Typen nur stattfinden ließ, um Iris und mich unserem Schicksal zuzuführen, ich wußte es, Iris wußte es, alle wußten es, sie hielten ihre Gläser mit Whiskey-Cola und wollten es sehen, nun mach schon Junge, ah wie peinlich, und irgendwann im Halbdunkel küßten wir uns, und sie ließ es geschehen, aber ihre Augen sagten: „So geht das nun auch wieder nicht, junger Mann.“ Damn right. Und darum schmecken die Songs von „Goats Head Soup“ immer ein bißchen nach Whiskey-Cola und sehr nach Iris. Die Them-Version von „It’s All Over Now, Baby Blue“, die todsicher aus den verstreuten Trümmerteilen einer dieser Nächte kam, in denen man nicht wußte, wie man jetzt noch nach Hause kommen sollte, klingt nach Iris.
Ihre Arme, die sich so eng um mich schlingen, und natürlich spürt sie meine Erregung an ihrem Körper, wenn wir tanzen, und sie lacht, aber dieses Lachen bedeutete nicht, daß man rote Ohren bekommen mußte. Pink Floyd war nichts für eine beschwipste Iris. „Aaytom… atom… wie?“ Zärtlichkeiten auf dem Bett, aber sie wußte, es war zu spät. Sie war eine Frau, und eine Diva, und ich war immer noch ein Trottel, der auf dem Schulhof Fußball spielte. Und zwar mit einer grandiosen Kondition und unerbittlich, bis der jähzornige Jörg Lorenzen die Schnauze voll hatte, er hatte eigentlich immer von irgendwas die Schnauze voll, er nahm gute 20 Meter Anlauf, trat zu, rammte mir die Beine weg, für einen Moment hing ich waagrecht in der Luft und kontemplierte überrascht den Himmel, dann schmetterte ich auf die Steinplatten und rührte mich nicht mehr. Ich genoß es. Iris sah zu, und ich war soeben Opfer des hinterhältigsten Pausenfußballtacklings in der Geschichte dieses Schulhofs geworden.
Wahrscheinlich wurde sie deshalb meine Traumgöttin noch für ein Jahrzehnt. Iris of my Dream Eye.
Grabmal ohne Inschrift
Eingang ohne Tür
Licht ohne Quelle
Weg ohne Wiederkehr
Kompass ohne Norden
Zeit ohne Stunden
Echo ohne Ruf
Weiter ohne Grund
Gegangen ohne Abschied
Drei Nächte ohne Mond
Steine ohne Alter
Klang ohne Schall
Elemente ohne Namen
Wissen ohne Nutzen
Kreaturen ohne Augen
Knochen ohne Haut
Sprache ohne Worte
Intelligenz ohne Gehirn
Sinne ohne Sinn
Chor ohne Stimmen
Universum ohne Anfang
Raum ohne Krümmung
Särge ohne Mumien
Monstren ohne Mutationen
Träume ohne Träumer
Energie ohne Masse
Buddha ohne Lächeln
Formel ohne Einstein
Engel ohne Gott
Teufel ohne Zweifel
Schlangen ohne Grube
Halle ohne Hall
Statue ohne Schöpfer
Augen ohne Blick
Bewegung ohne Warnung
Alle ohne einen
Verloren ohne Verlust
Kuss ohne Lippen
Entzücken ohne Ende
Grabmal ohne Inschrift
Im Walsertal, im Walsertal,
hyperionaktiv vertraklt,
hat Schiller sich, der Geisterseher,
mal ganz verzweigt verkakelt.
In seelischer Verzuckmay’rung,
befeuchtwangt bis zur Stirn,
tat er Büchner schlegeln,
bis ein Lichtenberg im Hirn
ihm die pöbelscheue Grille parzte.
„Musil denn, Musil denn zum Schädele hinaus!“
verhebbelt‘ er im Werfeldaus –
das Eichendorff, es brentanarzte.
[Liebesdienst fürs SPIEGEL ONLINE Lyrik-Forum, 2007]
Oud Waterhuis, Brügge, BE
19/08/2015
Rezension #11
07. Dezember 2008
Das Streben nach dem Göttlichen
Von dalton ray
Aljoscha liebt Leda, weil er sie glücklich machen will. Da tritt Katharina auf den Plan, und Aljoschas Welt gerät aus den Fugen, weil er nun sich selber glücklich machen will. Soweit die äußere Handlung dieses Romans vom Typ „Junge trifft Mädchen“, der schwerwiegendsten aller Grundkonstellationen – und ja, tatsächlich, auch hier geht es wieder um alles oder nichts: die Welt gewinnen oder irgendwann als Tölpel sterben. Nun lässt Erdmann seinen Helden aber nicht Berge erklimmen und Ozeane durchschwimmen, auch die Heere des Maharadscha und General Custers Kavallerie haben nichts von Aljoscha zu befürchten, nein, ganz im Gegenteil: kein einziges Hindernis widerstrebt bockig dem Sinnen und Trachten des Helden; außer der bangen Frage: Warum ist SIE so unvorstellbar anders, warum ist überhaupt plötzlich alles so unvorstellbar anders?
Um diese Frage für Aljoscha zu beantworten, vollzieht Erdmann auf 320 Seiten fulminanter erlebter Rede eine fast beispiellose sprachlich-hermeneutische Tiefenbohrung in die Eingeweide der Bedeutungszusammenhänge und Wirkkräfte von Platon und Ovid über Dante bis Kant, Mahler und Nick Cave. Man liest recht fassungslos von Aljoschas und Ledas Reise nach Florenz, einem instruktiven Flashback in die Asservatenkammer der Renaissance – und nun wird uns klar, auf welche Bahn Aljoscha mit der geheimnisvollen Katharina geraten ist: Es geht um den Eros, das Streben nach dem Göttlichen. Streben und Lieben sind eins, nämlich erotisch, und Katharina ist die Inkarnation des vom gebeutelten Aljoscha schon immer Erstrebten. Ein Wiedererkennen: Wer um sein Schicksal weiss, der muss es erhaschen, sonst gerät die Welt aus den Fugen. Puuh, arme Leda.
Puuh, glücklicher Leser: Eine einzigartige literarische Meisterleistung in Sprachverdichtung gelingt Erdmann im atemlosen Schlussteil des Romans. Mit „Löse das Rätsel. Finde das Wort. Sei würdig“ [S. 259] beginnt die nervenzerfetzende Achterbahnfahrt Aljoschas, letzte Ausfahrt Happy Ending. Ich kann mich nicht erinnern, je etwas vergleichbar Brillantes in deutscher Sprache gelesen zu haben. Vielleicht das Kapitel „Schnee“ in Thomas Manns Zauberberg.
„PROJECT_NECROPOLIS presents christi_erdmann“
10.12.2023
Cured Catherine: Wissen Sie auch, wofür ich die Franzosen sehr hoch schätze? Sie sitzen im Café nebeneinander. Nicht gegenüber. Wir wissen eigentlich alle seit Saint-Exupéry, dass eines der Geheimnisse der Liebe darin besteht, gemeinsam in dieselbe Richtung zu sehen, anstatt sich in die Augen, aber die Franzosen verstehen es auch, dies zu leben. Und wenn man „Liebe“ mal übersetzt nimmt für jede Begegnung und jeden Austausch zwischen Menschen, so finde ich, dass grundsätzlich nebeneinander mehr stattfindet als gegenüber. Weil man in die gleiche Richtung blickt und weil man sich auf Inhalt konzentriert und nicht auf Äußeres. Aber setzen Sie sich deutschen Freunden im Café oder in der Bahn mal nicht gegenüber. Stiftet erstmal Verwirrung.
Das ist sehr richtig, das mit dem Nebeneinandersitzen, aber erst durch Ihre Gedanken wurde mir mein eigenes Gefühl klar, obwohl das schon äonenlang so ist. Man hat so viel mehr das Gefühl, eine Phalanx zu sein, facing the rest of the world, wie es sich gehört, die through-thick-and-thin-ness, die sich so unbedingt beweist, während sie mit solcher Selbstverständlichkeit darlegt, daß sie niemandem mehr etwas beweisen muß, das Nebeneinandersitzen, das dem Rest der Welt sagt: „Hauen Sie ab, ich warne Sie!“ Plötzlich wird auch ein weiterer Grund klar, warum zig Filmszenen mit Anna Karina & Co. in Pariser Cafés soviel bezaubernder wirken, warum man überhaupt immer, wenn man Liebende nebeneinander sitzen sah, eine kurze Impression hatte von: die sind stärker als alles, die bringt kein betrunkener Gott auseinander, warum ein Bild von Leo von König aus dem Jahre 1909 mich so faszinierte, etc etc… Die Geliebte an der Seite zu spüren, im „Bohème-Café“ (so heißt das Bild) oder an jeder Traumhaltestelle, gehört zu den 13 göttlichen Gefühlen.
Perpignan, 20th Century.
Inforadio rbb (Rundfunk Berlin-Brandenburg), „Quergelesen“, Mitschnitt der Sendung vom 27.05.2007
Vito von Eichborn im Gespräch mit Harald Asel
„Eichborn, Jahrgang 1943, war Lektor bei S. Fischer, gründete 1980 den Eichborn Verlag mit einem Programm von Spontisprüchen und Walter Moers bis hin zur Anderen Bibliothek. Er hat für Senator Entertainment den schwächelnden Europa Verlag aufgebaut und ist seit 2006 Herausgeber der Reihe Edition BoD im Verlag ‚Books on Demand‘. Den umtriebigen Buchmacher mit Lust auf Risiko traf ich auf der Leipziger Buchmesse.“
Vito von Eichborn über „Aljoscha der Idiot“ von Christian Erdmann auf der Leipziger Buchmesse 2007 (ab 14:30):
Transkript:
(ab 16:05)
„Etwas bleibt – wissen Sie das im Vorfeld schon?“
„Nein! Alle Zeitgenossen haben sich immer geirrt. Die Zeitgenossen hielten Gutzkow für bedeutender als Goethe. Ich maße mir nicht an, irgendwelche Ewigkeitswerte auch nur ansatzweise beurteilen zu können. Ich kann nichts anderes tun als ein gutes Handwerk zu liefern und zu hoffen, daß was Bleibendes dabei war. Das Meiste verschwindet; in dieser Zeit jetzt ohnehin, in der Beschleunigungszeit. Welches der Bücher oder der Autoren bleibt, für die ich verantwortlich war – es wäre vermessen, darüber auch nur nachzudenken. Aber alle Erfahrung sagt, irgendwas wird schon bleiben. Ich habe Spuren hinterlassen – welche es sind, weiß ich nicht. Das müssen die Späteren beurteilen.“
„Wie ist das jetzt mit Ihrer neuen Herausgeber-Tätigkeit hier bei Books on Demand, mit dieser Edition? Auch da ist es ja so, durch die neuen technologischen Entwicklungen ist es möglich, von der Auflage 1 bis zur Auflage 1.000.000 alles zu liefern, was der Markt braucht. Gleichzeitig ist das große Problem, wie kommen eigentlich die Themen wiederum an die Leser? Wie erfahren die davon? Und da gibt es ja nun bei vielen die Befürchtung, egal ob ich jetzt eine Auflage drucke, die feststeht, oder ob ich sage, ich setze das ins Internet und warte, bis irgend jemand auf die Idee kommt, das Buch möchte ich gerne haben, und drucke es dann – die Wahrnehmungsschwelle wird immer höher. Was machen Sie da? Was ist da Ihre Idee?“
„Naja, zunächst mal bleiben wir auf dem Teppich. Ich wähle aus den Büchern aus, die die Autoren selbst bei BoD veröffentlicht haben, und sage zu jedem dieser Bücher: dies ist ein Buch, das es verdient hat, in einer Buchhandlung geführt zu werden. Oder: dies ist ein Buch, das genausogut in einem herkömmlichen, traditionellen, etablierten Verlag hätte erscheinen können. Das behaupte ich von jedem dieser Bücher, und danach wähle ich aus. Das ist noch nicht die Frage nach Größe. Sondern zunächst mal ein gewisses Maß an Professionalität dieser Autoren, so daß ich es für handelsverträglich halte.
Und dann gibt es so einen Fall wie dieses neue Buch jetzt, ‚Aljoscha der Idiot‘ – das ist ganz große, ganz ganz große Literatur. Und es ist anspruchsvoll. Und es ist zu anspruchsvoll für den Markt. Je intelligenter ein Buch, um so weniger Leser gibt es dafür. Das ist so intelligent, daß die herkömmlichen Verlage es ablehnen, und sie lehnen ein Juwel ab.“
(ab 22:20)
„Dann gibt es jemanden, der philosophiert, wunderbar. Bis zu jetzt meinem neuen Liebling im Moment gerade, Aljoscha, ‚Aljoscha der Idiot‘ – bitte unbedingt lesen, allesamt! ‚Aljoscha der Idiot‘ ist ganz große, ganz ganz große Literatur. Sie ist nicht leicht, ich warne, man muß sich ein bißchen Mühe geben. Aber dann ist es ein traumhaft gutes Buch.“
„Was wird jetzt geschehen?“
„Ich weiß es nicht, Aljoscha.“
„Warum wird es geschehen?“
„Wer weiß, nach welchen Mustern sich Verbindungen knüpfen.“
Im Hintergrund ein Lied ohne Worte, Welten taten sich auf und zogen vorbei, und zwischen sieben Kerzen lag das Wissen, für jeden und für alles gibt es einen, der nicht nur murrt „Versteh’ ich nicht“ – das Wissen, daß manche nur mit einem goldenen Traum auf die Reise geschickt werden, eigentlich unzulänglich Ausgestattete, jedoch mit einem Herz voll Zubehör, das zum Hab und Gut für irgendeinen irgendwo geeignet wäre… auch wenn sie eine Liebe bringen, der tapfer standgehalten werden muß.
„Ich habe nicht gewußt, wie feinfühlig eine Frau ist, wenn sie liebt… noch nie hat mich eine Frau gefragt, was Elena mich fragt. Noch nie hat eine Frau so von mir wissen wollen. Ich kenne selbst noch kaum die Antworten. Aber zum ersten Mal traue ich meinen Träumen. Weil zum ersten Mal nicht ich es bin, der sie erregt.“
Das Lied ohne Worte hieß Memory Gongs.
Bruder für ein Jahr und einen Tag. Vielleicht wird es noch einmal so sein an einem silbernen Meer. Eine Narrenprozession am Horizont. Zwei Töne, die sich abwechseln, weil Wind durch eine Geisterharfe weht. Den Fuß auf heiliger Erde, zwischen den Rossen, die Lotus rupfen, noch einmal zwei Gefährten am Vorabend des Unfaßbaren, am Ende einer Zeit. Es stand geschrieben, daß wir Realisten wären in der Sphäre des Phantastischen. Vielleicht wird es wieder so sein, wenn alles war, was immer ist. Daß wir uns Mut und Willen leihen, damit Liebe die Rüstung der Athene tragen kann.
„Die Charaktere sind fiktiv“, bemerkte der Regisseur. „Jede Ähnlichkeit mit lebenden Personen wäre rein zufällig.“
„Aber es besteht Ähnlichkeit mit lebenden Personen“, protestierte Aljoscha.
„Unsinn, Bürschlein.“
„Ach, Sie sind es wieder!“
„Nein, ich bin es selbst. Der alte Matthäus war nur so eine Maskerade von mir. Sieh hin! Das da, die im Film, das ist Irena Dubrovna!“
„Das weiß ich.“
„Den Film habe ich als Medium benutzt!“
„Das habe ich mir schon gedacht.“
„Wenn du alles schon weißt, was willst du dann eigentlich hier, Puschkin?“
„Tuschkin.“
„Der Film war das Mittel, mit dem ich deine Empfänglichkeit schärfen wollte. Ich mußte es tun, um das Wissen des Unwißbaren zu ermöglichen. Nicht schlecht, was?“
„Können Sie mir nicht meine Augen herausnehmen?“
„Was ist los?“
„Nichts.“
„Du solltest auf die Knie fallen vor der Einzigartigkeit eines jeden Menschengesichts, von dem dereinst die Tränen abgewischt werden in der jaspisumringten Stadt!“
„Das tue ich, Vater.“
„Zuerst habe ich dich glauben lassen, daß eine seltsame Ähnlichkeit besteht zwischen Irena Dubrovna und Katharina Rogowskaja. Da, sieh mal!“
Der Alte schnippte mit den Fingern, und statt Irena Dubrovna bewegte sich Katharina Rogowskaja durch den Film.
„Na?“
„Dieselbe Art von Eleganz, die etwas Regelwidriges verbirgt. In ihr ist Fluch und Pech für alle Diebe, die nicht an das glauben, was sie rauben. Sie meint, ihr junges Leben wäre alt, sie fürchtet, ihr fröstelndes Herz bleibt für immer kalt. Wer wird sie so sehen, wie sie ist? Wer durchschaut der falschen Augenblicke List?“
„Was ist denn das für ein gestelzter Mumpitz? Schreibst du Gedichte?“
„Ja.“
„Ach du Scheiße.“
„Und was weiter?“
„Dann habe ich die Ähnlichkeit zwischen den beiden immer weiter reduziert. Für deine Augen, meine ich.“
„Wissen Sie, es ging gar nicht um Einzelheiten der Physiognomie.“
„Ganz recht.“ Der Alte schnippte wieder mit den Fingern, und Irena Dubrovna war wieder da. Dann schnippte er wieder. Und wieder. Er schnippte und schnippte und ließ die beiden Frauen immer abwechselnd im Film erscheinen. „Hihi, sieh mal!“ Schnipp, schnipp, schnipp. Gott, was der alles konnte.
„Naja, brotlose Kunst“, sagte er endlich. „Jetzt hör mir mal zu, mein Sohn.“
„Ich höre ja, Vater.“
„Die beiden sind sehr wohl vergleichbar. Nämlich in ihrer absoluten Nichtvergleichbarkeit. Kapierst du das?“
„Vollkommen.“
„Na, na?“ Der Alte bewegte neckisch den erhobenen Zeigefinger.
„Sie wissen sehr gut, daß ich es verstehe. Sie können doch Gedanken lesen.“
„Ja“, sagte der Alte, „und ich kann dir sagen, das ist verdammt langweilig. Eure Zukunft ist viel lustiger. Soviel kann ich dir jetzt schon verraten: eines Tages wird man sich gegen die Sehnsucht versichern lassen können!“
„Was soll denn daran lustig sein?“
„Du findest das nicht lustig?“
„Nein.“
„Du bist ziemlich pampig. Zieh den Kopf ein, da kommt ein Ereignisreiter vorbei.“
„Was?“ – Aljoscha zog den Kopf ein, als irgend etwas vorbeikam mit dem Geräusch eines auf etwa drei Meter Länge verkleinerten Düsenjets.
„Was sich entwickelt“, sagte der Alte, „war vorher eingewickelt oder verwickelt, aber da. Ist das soweit klar?“
„Schon.“
„Du hast nur die bivariate Ordinale von Othello 1 zu berechnen.“
„Das verstehe ich nicht, Vater.“
„Entschuldige… ich habe dich gerade mit jemandem verwechselt. Sag mal, was gefällt euch denn nun besser, Quellnymphen oder Wasserhähne?“
„Ich kann nicht für alle sprechen“, sagte Aljoscha. „Außerdem habe ich noch nie eine Quellnymphe gesehen.“
„Pech für dich“, sagte der Alte. Er wandte sich um. „Was ist denn da los?“ – Eine Schar seltsamer Kinder trieb einen schwarzen Widder vor sich her. „He, holla!“ rief der Alte.
„Papa, ich gehe zur Revolution!“ rief der schwarze Widder.
„Zum Neolithikum bist du zurück, sonst mache ich dir die Hölle heiß!“ rief der Alte.
Er wandte sich wieder Aljoscha zu und schien ein wenig verlegen. „Tja, der Schwarze“, sagte er. „Sie geben ihm lauter Nichts zu essen, da will man wohl zappelig werden.“
„Ich verstehe kein einziges Wort, Vater.“
„Du mußt das nicht als Rückenmarkslosigkeit auffassen, Junge.“
„Sie sind so schrecklich zerstreut!“
„In konzentrierter Form wäre ich zu mächtig.“
„Was soll ich denn jetzt tun?“
„In die Zimmer gehen, die dich erwartet haben, was sonst? Oder wolltest du dir noch einen Film ansehen? Ich könnte dich ans siebte Sonnenrad binden, von da aus hat man einen prima Blick.“
„Welcher Film läuft denn?“
„Ähm… Teufel im Leib.“
Aljoscha dankte.
Letzte Dinge trugen sich zu. Aljoscha trug die ersten Dinge in die Zimmer, die ihn erwartet hatten – ein paar Schallplatten, Geschirr und einen Band Gedichte von Majakowski. Er saß in seiner neuen Heimstätte und freute sich über die wilden Kräuter vor dem Fenster, über das Klavierspiel eines Hausbewohners und über die zwei Stufen zwischen der kleinen Küche und dem Zimmer, in das am Nachmittag ein paar Sonnenstrahlen schlichen und verlangten, daß die Tür- und Fensterrahmen verblassendblau gestrichen werden. Liebevoll untersuchte Aljoscha die Fußleisten, Qualitätsarbeit von Meister Verfall. Es gab viel zu tun hier. Viel. Es war eine Geheimstätte, und er würde ihre schlummernde Schönheit wecken. Und dann würde die geheime Stätte selbst entscheiden, ob Katzen hier verboten waren.
Früher oder später mußte es zur Begegnung kommen, damit hatte er gerechnet, nicht aber damit, daß es so früh sein würde. An einem der letzten Februartage kam SIE ihm auf einem grauen Weg entgegen. Aus den Rissen im Asphalt stiegen Seufzer auf, aus der harten Erde streckten Hände sich empor, die Verbannten und Verdammten reckten ihre Hälse, um nicht zu versäumen, wie SIE näher kam. SIE kam näher wie eine Schlange im Gras eines duftenden Gartens. SIE drang ein in sein Nichtsahnen wie eine Pfeilspitze in ihr überraschtes Ziel. Als käme SIE aus den Tiefen eines verfluchten Geschlechts, irrend durch die grauen Häuserschluchten, die Lider vor Einsamkeit schwer geworden, so ging SIE, ohne aufzusehen, auf IHRER eigenen Straße hin. Erst ganz zuletzt ein leises „Ach…“, zu spät, um das Bittere aus seinem Lächeln zu verscheuchen. SIE hatte ihm nicht erlaubt, etwas anderes zu sein als ein Vorübergehender. O meine Freundin! Welcher Gott sieht uns zu mit einem Blick durch den Smaragd?
FROZEN WARNINGS CLOSE TO MINE
CLOSE TO THE FROZEN BORDERLINE
Tödliche Vokabeln zogen durch Aljoschas Kopf an diesem Abend: berüchtigte Kopfjäger wie Illusion, Vergeblichkeit, Hoffnungslosigkeit und Wahn. Vokabeln mit sechs Patronen in der Trommel.
Sie liebten sich wie betäubt. Der Wunsch, durchzudringen – er blieb so eingeschlossen wie bei Schlafwandlern oder Komatösen. Die Haut war Grenze, die Augen waren wie mit einem viskosen Häutchen überzogen. Sie liebten sich, und es war wie das Zusammenlegen zweier Gefängnisse, deren Insassen meuterten und revoltierten. Dann wurde alles von der Nacht verschluckt.
Aljoscha lag reglos da und fürchtete den Schlaf. Er fürchtete, daß dann das Seil ganz lautlos reißen würde. Wenn sie nur nicht schliefen jetzt… vielleicht gab es dann noch Rettung. Aber Aljoscha war schon viel zu müde, um zu sprechen. Ein Mann im Jesusgewand streckte seine Hände aus und sagte: Könnt ihr nicht einmal mit mir schlafen? Aber jemand verscheuchte den Verführer. Der alte Matthäus winkte. Nein, es war kein Winken. Der Alte beschrieb eine Kreisbewegung mit dem Arm. Ja, richtig. „Hier entlang, Kolumbus!“ rief er. Der Alte kam näher und wurde immer kleiner, während er näher kam. Als er vor Aljoscha stand, war er nur noch ein drolliger Gnom. Er fing an, Tonnen von Sand auf Aljoschas Augen zu schaufeln. Tonnen von Gnomsand. Matthäus als Gnom hatte etwas sehr Albernes in seine schlohweißen Haare eingedreht. Er krähte: „Der Verletzte macht das Licht aus!“ Schließlich war Aljoscha ganz mit Sand bedeckt. Nach einer Art von Kontraktion stellte er fest, daß er zum Fels geworden war. Das war nicht weiter störend, da auch Felsen Denkvermögen hatten. Er nahm sich vor, auf keinen Fall zu bröckeln.
Es war ganz angenehm so. Man sah alles, man überstand alles, hunderttausend Jahre lang. Die Zeitmaschine kam vorbei, Rod Taylor am Steuerknüppel. Auch egal. Aber dann war da der Klang, der sprengt.
Es waren die 11 Paukenschläge aus Le Sacre du Printemps. Und dann, langsameres Tempo, der Klang der hohen Absätze im Korridor. Aljoscha wußte, daß dieser Klang ein Handeln, das in ihm beschlossen lag, freisetzte. Er kannte von Anfang an das Ende, und wenn das sein Untergang war, dann konnte er ohne seinen Untergang nicht länger sein. Bröckeln. Gezwungensein zu Schritten. Aus der gesprengten Starre mit dem ersten Schritt über die Schwelle zwischen zwei Leben. Dem Klang nach. Das Ritual schreibt die Bewegung vor.
Inzwischen kam Gott angefahren in einer verrosteten Planierraupe und bedeutete Aljoscha, aufzusteigen. Mit grummelnder Autorität fuhr Gott durch Maschendrahtzäune und ließ Aljoscha großzügig ein paar Sachen verstehen. „Ihr nehmt als Gesetz“, sagte er, „daß Schuld mit Unschuld Schluß macht. Wir können auch anders, weißt du. Und dann macht die Unschuld Schluß mit der Schuld.“ Was konnte man da sagen? Aljoscha verließ das Baustellenfahrzeug Gottes und bewarb sich als Strumpfnahtgeraderücker im Pariser Lido, doch herbeiströmende Interessenvertreter bemerkten, daß dies kein Traumberuf mehr sei.
Wach bleiben, nur wach bleiben. Der Grund, aus dem er jetzt nicht schlafen durfte… der Grund… sank tief… sank auf Grund. Tief im Inneren der Erde… eine Kathedrale. Glühend. Erkaltend. Geschmiedet. Planmäßig. Aus einem Stück. Wo der Schmiedehammer ein göttlicher Gedanke ist. Dämonenfiguren am Portal erschrecken manche Pilger damit, daß sie plötzlich den Kopf wenden oder hin und wieder ruckartig das Gewicht verlagern, um dann wieder still und kalt durchpulst auf den Krallenfüßen zu sitzen. Der Schritt ins Innere muß rasch getan sein, sonst hat man zack! einen dämonischen Zufall am Hals.
Zufall. Wer wollte beschreiben, wie weit in die Vergangenheit hinein ein Zufall reichen muß. Schau nur die schönen Lichter. Ich bin so müde. Kann ich hier in der Kapelle liegen? Nein, diese Kapelle gehört den Stimmen der Vergessenen. Kann ich hier in der Kapelle liegen? Nein, diese Kapelle gehört der Musik, die deine Zellstruktur verändert. Kann ich hier in der Kapelle liegen? Nein, diese Kapelle gehört den zu großen Entfernungen. Kann ich hier in der Kapelle liegen? Nein, diese Kapelle gehört den zusammenhangslosen Bruchstücken der Erinnerung.
Endlich wußte er, wohin. Diese Kapelle gehörte dem Duft eines Parfums, schwer und süß. Er streckte sich auf dem Altar aus. „Ich versuche zu vergessen, doch ich kann nicht“, sagte eine Stimme. SIE stand im Schatten einer Säule. Grausamrote Lippen die einzige Lebensspur in IHREM bleichen Antlitz. Während IHRE Augenbrauen despotische Linien zogen, blickte SIE durch ihn hindurch, aber SIE griff nicht durch ihn hindurch. SIE ließ es rinnen aus der Wunde des Begehrens. Seine Muskeln spannten sich, und er hätte meterweit springen können. Auf den Nagelbetten seiner Finger lag enormer Druck. Er versuchte sich vergeblich am beruhigenden Vibrieren der Stimmbänder. Er lag da und fauchte.
Dann jagte er mit erstaunlicher Geschwindigkeit durch den Busch. Er konnte jede Kreatur wittern, er registrierte die furchtsamen raschen Bewegungen in seiner Nähe. Er fühlte mörderisches Verlangen. Aber als er einer dieser Kreaturen in die Augen sah, war es vorbei. Wieder zweibeinig wandelte er durch einen Lustgarten, bis er auf ein sehr komisches Tier traf. Es konnte sprechen und verkündete, es sei ein Sündenbock. Weiter kam das Tier nicht, denn es wurde von einem anfliegenden Diskus gefällt. Aljoscha hob den Diskus auf. In die Scheibe war ein Pentagramm geritzt. Passivität in ihrer höchsten Erscheinungsform! „Inspektor Sowieso von der Bedeutungsprüfungskommission, guten Tag. Sagen Sie, seit wann gibt es diese ganz eigene Bedeutung?“ – „Das kann ich Ihnen sagen, Herr Inspektor. Die Frau legte eine Blume in den Schnee. Gehauchte-Versprechen-farbig. Und nur einer sollte diese Blume finden.“ – „Donnerwetter! Sind Sie ganz sicher?“ – „Gewiß. Die Blume hatte die Farbe von gehauchten Versprechen.“ – Aljoscha schlug die Augen auf. Nur die Hand ausstrecken. Nur den Arm bewegen. Du mußt sie wecken. Noch ist Zeit. Noch ist Zeit.
Einen Augenblick lang, und die Uhren warfen resigniert die Zeiger ab. Die Dinge der materiellen Welt tauschten ihre Kraftzentren aus: Bänke und Stühle verwelkten, Bücher rosteten, Tinte verwehte, Pflanzen schmolzen. Die Aussicht floß durch die Fenster nach innen wie auslaufender Camembert. IHRE Augen funkelten wie Tigeraugen im Dschungel. Geblendet von der Reflexion der Sonne auf der Klinge eines Schwertes zersprang Aljoscha in Splitter seiner selbst, und IHR Blick setzte ihn wieder zusammen, damit er in den heiligen Dienst zog, der Pfeifer und der Trommler gingen vor, und sie intonierten die Weise vom Tölpel, der sieben Tölpel übertölpelt.
Einen Augenblick lang zögerte SIE, und inzwischen überquerte Bodhidharma den Yangtsekiang auf einem Schilfrohr, ein paar Engel probierten es mit Sichtbarkeit, und die schwarzen Leoparden in den Zoos neigten ihre Häupter. Aljoscha hielt den Atem an. Wenn SIE jetzt die Lider senkte und sich abwandte, würden sie beide wissen, warum. Diese Wendung jetzt, und es wäre für immer vergessen, das Verlangen, das nur noch durch Ungeheuerlichkeiten gestillt werden konnte. Die Geschichte, in der nichts geschah, wodurch alles sich veränderte, sie wäre nie geschehen. Die Wahrheit des Schauerlichen bliebe unentzifferbar. Keine Dimension der eigenen Veranlagung wäre Anlaß zur Beunruhigung. SIE würde IHRE Schönheit einer ominösen numinosen Macht darbringen, und diese Macht würde ihn davor bewahren, um SIE zu klagen, bis die Welt zu Staub zerfiel und darüber hinaus; diese Macht würde seine Erinnerung auslöschen und sein Wissen, daß ihm alles genommen war. Denn er hatte alles besessen.
Wenn SIE aber jetzt den letzten Schritt noch machte, einen Schritt nur hin zu ihm, hätte keine Macht mehr Macht, die Stunde zu erschaffen, in der Aljoscha SIE verließ.
– Cocteau Twins, Harold Budd: Memory Gongs
– Vaslav Nijinsky, Eye
– Artwork CE
– Igor Strawinsky: Le Sacre du Printemps (Exzerpt), Antal Dorati, Detroit SO
– Lotte Reiniger, Das Ornament des verliebten Herzens, 1919
Den dritten Kopf nannte Pjotr Der Tod. Der Knochenmann fiedelt nicht, wie etwa Böcklin meinte. Er spielt Mundharmonika. Wie in „The Carny“ von Nick Cave. Die Mundharmonika gleicht verblüffend dem erstarrten Grinsen von Gevatter Schnitter. Jeder spielt das Lied vom Tod. Der Tod lebt mit, von Anfang an. Die Anstrengungen, ihm aus dem Weg zu gehen, sind so nutzlos wie beträchtlich. Jenseits? Auferstehung? Der Tod lacht viereckig. Jeder Sensenmann amüsiert sich mit seinem lebenden Pendant, immer im Hintergrund, ganz diskret. Wir sind seine menschliche Seite. Tod ist die Rückseite der Rückseite. Nicht zu erreichen, aber konstitutiv. Wer sich mit seinem dunklen Begleiter in Verbindung setzt, versinkt plötzlich im Ticken der Wanduhr, im Klang gegebener Zeit. Unter gewissen Voraussetzungen setzt Freund Hein die Zwiesprache fort. Rauschen aller Art. Verfremdete Stimmen bei gestörten Übertragungen aus dem Radio. Glöckchen. Summen eingeschlossener Insekten. Plötzliche Lücken in Geräusch und Klang. So schärft er das Empfinden für die tiefe Gegenwart des Augenblicks, für die Pflicht, mit jeder Minute entweder Frieden zu machen oder mit jeder Minute Krieg zu führen. Das Leben duldet keinen Aufschub. Vor allen ins Später verlegten Hoffnungen blitzt die Sense auf, allzeit mähend, wo Nichtsahnen trügt. Der Schwarze! Er macht die größte Angst. Er gibt den größten Mut. Er sagt: wir spielen um deine Träume, du und ich. Er sagt: geh es machen oder geh verloren. Haben wir ihn einmal standfest gegrüßt, ist das zweite Mal nur noch pro forma. Und dazwischen liegt der Effekt seiner Großzügigkeit, das Leben.
Mit einem Schokoladencroissant aus Schokolade, Croissant und Pappe, das ihm als Frühstück diente, hastete Aljoscha am folgenden Dienstagmorgen, Sterben und Tod hinter sich, dem Hauptgebäude entgegen. Er hoffte, daß alles nach Plan lief. Er konnte sich nur nicht mehr daran erinnern, wie der Plan war. Sie hatten ihn letzte Nacht geschmiedet, diesen Plan, mit dem Pjotr in die Poussin-Vorlesung eingeschleust werden sollte. Sie hatten einfach zu lang an diesem Plan gefeilt.
Aljoscha erreichte den Korridor und sah Pjotr an einem der Fenster stehen. Die Katzenmenschenfrau war nicht zu sehen. Trotzdem ging Aljoscha weiter, als würde er Pjotr nicht kennen.
„Verzeihen Sie!“ rief Pjotr.
Aljoscha wandte sich um. „Ja?“
„Hätten Sie wohl freundlicherweise Feuer für mich?“
Genau nach Plan. Nur hatte Pjotr offensichtlich die Zigarette vergessen.
„Gewiß“, sagte Aljoscha, trat auf Pjotr zu und suchte in seinen Taschen nach Streichhölzern, einer Zigarette, einem Chinaböller, irgendwas. Sie konnten jetzt mit gedämpften Stimmen reden. Alles lief nach Plan. Welchem auch immer.
„Schön, wie gehen wir nun vor?“ begann Aljoscha.
„Ich weiß auch nicht… deine Catherine ist schon da“, sagte Pjotr.
„Wer? Was? Bist du sicher? Wieso denn? Ich meine, woher weißt du, wer sie ist?“
Aljoscha sprach so laut, daß selbst ein schwerhöriger Gegenspion sie jetzt entlarvt hätte. Natürlich hatte er Pjotr IHR Äußeres beschrieben, aber nicht mit steckbrieflicher Genauigkeit. Wenn es sich nicht so verhielt, daß SIE um den geheimen Plan wußte und dieses Wissen Pjotr im Vorübergehen durch einen kurzen telepathischen Stromstoß oder einen chemophysikalischen Impuls übermittelt hatte, wie verhielt es sich dann?
Und warum Catherine?
„Wo ist sie jetzt?“
„Na, drinnen.“
„Wo drinnen?“
„Hör mal, der Plan war – “
„Vergiß es.“
Aljoscha schlich zur Tür und spähte vorsichtig in den Saal. Unwandelbar wie das Göttliche saß SIE, wo SIE immer saß, einen Teil seiner Vergangenheit einnehmend.
„Sie sitzt gleich hier oben, auf der rechten Seite“, stellte Aljoscha fest. „Zweite Reihe, dritter Platz von links. Ich habe da einmal gesessen, und sie vervielfältigt das irgendwie.“
Pjotr nickte. „Du mußt ganz nach unten, richtig?“
„Ich weiß nicht, ob es richtig ist, aber ich muß.“
„Ich könnte ja versuchen, in ihrer Nähe zu bleiben“, sagte Pjotr. Dieser Einzigartige! Dieser Achilles! Wie sagt Majakowski in Tagesbefehl Nr. 2 an die Kunstarmee: „Macht Schluß! Vergeßt! Pfeift drauf!“ – Zu spät. Sie atmeten beide tief durch. „Die Götter mit dir, Bruder.“ Aljoscha zog in den Hörsaal ein.
Auf dem Treppenlauf tat er so, als prüfe er nur flüchtig, ob SIE da sei. Zu ebener Erde jedoch, als er einen Umweg durch die Frontreihe machte, sah Aljoscha IHR fest in die Augen, und SIE erwiderte seinen Blick ebenso bestimmt. IHRE Augen blitzten wie vor einem magischen Zweikampf. Und wirklich, als hätte SIE beschlossen, trotz durchschauter Verschwörung den Verschwörern eine Chance zu geben, war der Platz rechts neben IHR noch frei, wie durch einen Bann geschützt. SIE war so schön und kühl, daß kein Mensch es wagen durfte, in IHRE Sphäre einzudringen. Wer es doch tat, war entweder ein völlig unzurechnungsfähiger Gimpel oder von vornherein IHR Diener und Vertrauter. Oder ein Satanskerl von einem Kundschafter: als Aljoscha sich zum dritten Male nach der Saaluhr umdrehte, sah er, wie Pjotr im Begriffe stand, sich mit seinem Pappkoffer zu besagtem Platz durchzukämpfen. Donnerwetter, mögen wir alle errettet und in Sicherheit sein! Um Punkt 10 Uhr 15 saß Pjotr Semjonow neben der mysteriösen Katzenfrau.
Jemand löschte – aber nein, niemand löschte das Licht! Verdammte Falle! Jerdzny, der ausgekochte Unterhändler! Hinterlistig lächelnd verzichtete er auf die Vorführung von Bildmaterial und hielt statt dessen einen gnadenlos abstrakten Vortrag, der auf so spektakuläre Weise banal war, daß man es nur als raffinierten Schabernack auffassen konnte. Eine geständnisfordernde Stunde lang waren alle Scheinwerfer auf das Komplott gerichtet. Wenn alle Zeiten Farben hatten, war diese Stunde von glühendem Rot. Lava-Rot, Magma-Rot, Rot der schmelzenden Beschämung.
„Was muß ich tun?“
„Immer schön früh aufstehen… keine Nachtwachen mehr halten.“
„Ich sehe nachts einfach klarer.“
„Unsinn. Und wenn du etwas von mir willst, ich schlafe nachts, du kennst mich.“
„Das hört dann auch auf!“
„Und diese laute Trümmermusik! Diese Einstürzenden Musikhallen, oder wie die heißen.“
„Neubauten.“
„Da kann ein kleines Kind nicht gedeihen! Es muß auch mal Mozart hören!“
„Das Beste, was man im Leben finden kann, ist große Kunst. Das kann ein Kind gar nicht früh genug lernen.“
„Das Beste ist große Kunst? Na hör mal!“
Unten im Schnee fielen zwei Männer übereinander. Einer rief mit schwerer Zunge herauf: „Ist da oben die Boris-N-Nikutin-Party?“
„Nein, hier oben ist die Yuri-Bloch-Party!“ rief Aljoscha zurück.
„Aaaah!“ rief der Mann. „Aaaah!“ Als hätte er gerade einen neuen Planeten entdeckt, von da unten aus. „Aaaah, ahrg!“
„Was soll das überhaupt sein, Trümmermusik? Du hast da nicht den richtigen – “
Leda küßte ihn. „Ich bin glücklich mit dir“, sagte sie.
Seine Hand berührte ihre kalte Wange; sie neigte ihren Kopf ein wenig, wie um sich ganz in diese Hand zu geben. „Weißt du noch, wie ich mal bei Sonja war und diesen Satz geträumt hatte: Katzen sind System –?“
Aljoscha zog seine Hand zurück. „Wie kommst du denn jetzt darauf?“
„Ich weiß nicht. Es fiel mir gerade ein.“
Aljoscha betrachtete die Paare, die da unten durch den Schnee stampften. „Mir ist noch nicht aufgefallen, daß Katzen besonders systematisch wären“, sagte er.
„Doch, eigentlich schon“, meinte Leda. „Katzen haben so komische Rituale.“
„Was soll denn daran komisch sein?“ Aljoscha war selbst irritiert vom unnötig unwirschen Tonfall seiner Antwort. Leda zuckte nur die Schultern.
„Vielleicht müssen wir gar nicht zusammen wohnen“, sagte sie.
Plötzlich stand SIE in Aljoschas Zimmer, den Blick voller Besitznahme, in den Mundwinkeln saturnisches Wissen um Notwendigkeit.
IT’S BEEN SO LONG
SIE bestieg das Bett am Fußende und bewegte sich an seinem Leib empor, bis sich IHR Schoß an seinen Lenden rieb. Seine Hand berührte IHRE bleiche Wange; SIE neigte IHREN Kopf, wie um sich ganz in diese Hand zu geben. Unendlich langsam teilten sich IHRE Lippen – seinen Finger zwischen IHREN Zähnen warf SIE den Kopf hin und her, als sollten Tiersehnen reißen. Unter schneeweißer Haut floß das Blut, das er begehrte. Das Blut seiner schneeweißen Braut. Das Blut auf schneeweißer Haut. Er küßte SIE, als müßte SIE untergehen darin. Er umschlang den Leib der Katzenfrau. SIE wisperte Fetzen aus vergessenen Texten, IHRE Augen wichen zurück in uralte Zeit, flammten dann wieder auf mit Orientierung – SIE wand sich und schrie, wie gefoltert mit liebender Seele im fließenden Austausch von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, er drang in SIE, willens zu sterben an IHR, hielt still mit IHR
YOU WOULDN’T BELIEVE WHAT I’VE BEEN THROUGH
im gestillten Heimweh, fühlte, wie IHR femininer Strom ihn härtete und spannte, wie SIE ihn fester hielt, Striemen auf seinen Rücken zeichnete – dann setzten elektrostatische Veränderungen ein, IHRE Haut schien sich aufzuladen – SIE stieß undeutliche Laute hervor, durchströmt, aufgelöst in Glut und Aufruhr, wie von einer unbezwinglichen Macht geschüttelt, SIE keuchte bald „Nicht! … Nein! … Nicht!“, bald das Gegenteil, während in die Schwingungen IHRER Stimme Modulationen kamen, die nicht menschlich klangen – über IHRE Epidermis liefen jetzt hochfrequente Entladungen, Schocks versetzend, etwas schien sich zu wandeln in jeder einzelnen Körperzelle, und ein fremdartiges Lebensfeuer war dabei, IHRE Innenwärme exorbitant zu erhöhen – Atem so heiß, als wäre Feuerqual im Innern – das Augenlid, die temperaturempfindlichste Stelle, schien zu schmelzen, und aus den Tiefen der Augen wollte etwas zum Vorschein kommen – aus der Spannung IHRES ganzen Zustands wurde Gefügeveränderung, IHR Stöhnen war jetzt polyphon, Aljoscha tauchte durch Kaskaden psychischer Energie – es lag keine Bedeutung mehr in Begrenzungen wie dem knöchernen Gitter des Brustkorbs – Umwandlung als Anpassung an besondere Bedingungen – Verfeinerung der Materie – hypertrophe Erzeugung mechanischer Energie durch übermäßigen Gestaltwandel der kontraktiven Eiweißmoleküle in den Muskelzellen – Metamorphose. IHR Körper wurde unkörperlich im Augenblick höchster Verschmelzung, wurde Seele, bloßes Kraftfeld, machte aus Aljoscha einen Energietrabanten, und dann – war Fauchen, wo vorher Atem war. Einen Moment lang: erstaunte Stille. Dann eine Bewegung. Anders, unvorstellbar anders.
Es gibt Kräuter, die im Mondlicht strahlen. Es gibt Wesen, die sich geheimhalten. Mädchen, die in der Wüste ertrinken können. Mädchen, die immer damit rechnen, daß man sie von hohen Türmen werfen wird, so wie es im Mittelalter die Meute manchmal mit Katzen tat. Mädchen, die es im Betriebsklima der Welt nicht aushalten und sich zurückziehen an die Peripherien. Wissend, daß man ihresgleichen entweder als zu heimlichtuerisch oder als zu exhibitionistisch verurteilt. Fürchtend, daß man ihnen Böses will, weil sie irritierenden Gesetzen folgen. Oder sich selbst Gesetz sind. Weil sie mit kaltem Blick und unbeirrbarer Präzision dort etwas beobachten, wo andere ums Verrecken nicht das Mindeste erkennen. Weil sich ihre einzelgängerische Eleganz so wenig um Bewunderer kümmert, daß man glaubt, sie halten sich für unsichtbar. Weil sie zu erröten wissen, während sie Verruchtheiten hüten, vor denen jede Schamlose erblassen müßte. Frauen, deren Blick die Nacht durchdringt und die Umrisse des Unsichtbaren kennt. Ich weiß jetzt, was diese Frauen tun.
Bei Tag erschrecken sie mit dem harten, despotischen Geräusch ihrer hohen Absätze, um zu verbergen, daß sie nachts mit unhörbaren Schritten geheime Muster auf den Boden zeichnen, Zauberkreise, Strahlenfelder; daß sie eine andere Gestalt annehmen, lautlos und geschmeidig durch die Gassen huschen und einem unergründlichen Instinkt folgen: dorthin, wo sie ein vertrautes Fluidum ahnen. Ich weiß jetzt, was der Spürsinn einer solchen Katze tut.
Der Spürsinn einer solchen Katze nimmt Quartier bei einem, dem sie sich verwandt weiß. Sie hat seine verborgensten Neigungen erkannt und macht sich selbst zu ihrem Anreiz. Ihre Nähe verändert seine fünf, sechs, sieben Sinne. Er durchquert vergessene Regionen, versunkene Domänen; immer deutlicher sieht er die Welt, in der sie nach ihm sucht. Bis er weiß: wenn er ihr endlich begegnet, ist er ihr schon einmal begegnet.
Das ist, was die Mädchen tun, die sich verstecken vor den Katzenhassern.
– Clovis Trouille, Dolmancé et ses fantômes de luxure (Detail)
– Nicolas Poussin, Atalante und Hippomenes, Skizze
– Foto CE
– Artwork CE
– Nine Inch Nails, Ghosts V: Letting Go While Holding On
SIE hatte sich in seine Träume geschlichen in einer der Nächte
SEVEN LONG NIGHTS TO THINK
zwischen Dienstag und Dienstag, lautlos und so, wie der Gott seiner Träume SIE erschaffen hatte, badend wie eine Tochter des Neptun, jedoch nicht unter freiem Himmel, sondern in einem Schwimmbecken. Ein Schwimmbecken, wie es in einer Sequenz des Filmes Katzenmenschen vorkommt. Aber niemand löschte wie im Film das Licht, kein Fauchen zerriß die Stille, Aljoscha schwamm einfach neben IHR im Wasser, ohne jede Anstrengung, zwischen ihnen hundert Andeutungen, und er dachte: Das Becken ist das Gefäß der Liebe.
Mancher hat ein Traumland, das er Nacht für Nacht durchwandert, im Wachen nie gesehene Gestaltungen, stets aufs neue reproduziert, wie Gedächtnisrelikte eines früheren Daseins. Jeder hat im Traumreich seine eigenen Archetypen. Und die unergründliche Regie der Nachtseele ergötzt sich an unbegreiflichen Konstanten und merkwürdigen Apotheosen. Iris, ein Mädchen aus Aljoschas Schule – sie hatte ihm einmal nach der letzten Stunde einen langen Kuß und unruhige Zärtlichkeiten erlaubt –, residierte unanfechtbar als Liebesgöttin in seinem Traumuniversum, obwohl er die wirkliche Iris schon längst nicht mehr sah und nicht einmal mehr an sie dachte. Wenn er von Iris geträumt hatte, wachte er gesegnet auf. Gefährtin, Führerin, Verführerin, Fingerzeig aufs Schicksal, Erlöserin, Fatale und Totale, Irre und Wirre, Weise, Naseweise, Fesselnde, Entfesselnde, Besänftigende, Rasendmachende, Märchenhafte und Mirakel, Gedankenvolle, Geneigte und Genaugenommene, Dominierende, Dolmetscherin und Dame, Zärtliche, Zähe, Zielbewußte und Zerzauste, Elegante, Ernste, Erregende, Erlaubende, Erhebende, Bestechende, Bewußte, Beflügelnde, Blatt-vom-Mund-Nehmende, Verbessernde, Vernünftige und Verrückte, verblüffend, verwundert und verträumt, hemmungslos, humanisierend, heilkräftig und herb, trotzig, tonangebend und tiefblickend, kräftigend, entkräftend, infernalisch, intensiv und ohne ihresgleichen, ruhend, revoltierend, radikalisierend, kurz das Weibliche in jeder Hinsicht war Iris, die sich’s nicht hätte träumen lassen, in Aljoschas Träumen.
So wie das Becken in jeder Hinsicht das Gefäß der Liebe war. Aljoscha war nicht mit der Liebesgöttin Iris in das Traumwasser des Schwimmbeckens getaucht; er verstand, er verstand. Das Schwimmbecken war 2000 Faden tief. Aljoscha sah den Grund. Leda beklagte sich manchmal: „Warum träumst du eigentlich nie von mir?“, und Aljoscha antwortete: „Aber ich träume ja von dir“, denn schließlich ist auch abstruse Archetypenwahl nur Archetypenwahl.
Es war fast 15 Uhr 45, und daß Aljoscha die letzte Vorlesung des Dienstags absaß wie im Mastkorb eines Schoners, lag eben daran, daß nicht Iris im Traum erschienen war. Die Katzenmenschenfrau hatte bewirkt, was Leda zu bewirken wünschte: SIE hatte seine Archetypen abgesetzt und seinen alten Traumkult vernichtet.
Es war der siebte Tag. Aljoscha beeilte sich. „Sie ist vor mir in Wolchonka gewesen letzten Dienstag“, dachte er einen Denkfehler, denn es war ebensogut möglich, daß SIE am letzten Dienstag mit derselben Metro von Damtorsk nach Wolchonka gefahren war wie er selbst, daß SIE nur schon in Damtorsk am anderen Ende des Zuges eingestiegen war (um dann in Wolchonka am anderen Ende des Bahnsteiges auf ihn zu warten) (und ihn zu sich zu rufen) (durch psychomagnetische Deklination) (und es war um die sechste Stunde und Jesus traf die Frau am Brunnen und sie sagte, Herr, du hast nichts, womit du schöpfest und der Brunnen ist tief).
Aljoscha beeilte sich. Er hielt einfach mit der Menge Schritt, die es fast immer eilig hat, bei Kälte ganz besonders. Seinetwegen hätte die Menge auch anfangen können, zur Damtorsk-Station zu traben oder zu hopsen, er hätte alles mitgemacht, was seine Hochspannung ein wenig gelöst hätte. Andererseits durfte er das Schicksal auch nicht zu sehr herausfordern. Er und mit ihm alles andere mußte den normalsten Gang gehen. Wenn nur keine Hexe hinter ihm war! Russische Hexen gehen nämlich hinter ihrem Opfer her und imitieren seinen Gang; wenn Hexengang und Opfergang in völliger Übereinstimmung sind, läßt sich die Hexe fallen…
Aljoscha wünschte sich 360°-Augen. Er wünschte sich genau dorthin, wohin seine Füße ihn jetzt trugen, und zugleich wünschte er sich weit, weit fort. Er hörte die Musik, die sich wie von selbst zusammengestellt hatte zu einer Art von Liturgie.
Als er den Bahnsteig erreichte, sah er die Metro nach Putjagora auf dem Gleis stehen. Noch waren die Türen geöffnet. Noch konnte er in den Zug springen.
SOMEONE FETCH A PRIEST
War SIE da drin, in diesem Zug? Oder war SIE noch auf dem Weg zum Bahnhof?
YOU CAN’T SAY NO TO THE BEAUTY AND THE BEAST
Wirbelndes Schicksalsrad! Wirbelndes Schicksalsrad! Laß mich zwischen deine Speichen für eine Sekunde der Wahl!
Nein. Nicht dieser Zug.
Das Zeichen zur Abfahrt! Die Türen schlossen sich, die Metro fuhr dahin. Aljoscha lehnte sich an den Betonwall, der vor dem Fall auf die Rolltreppe schützte. Im Bahnhof Damtorsk fuhr man mit der Rolltreppe zu den Bahnsteigen hinauf, und Aljoscha observierte den Menschenstrom, der da ankam, so gut man das vermag, wenn man zugleich den Eindruck panoramischen Desinteresses zu erwecken versucht.
Stundenlang vergingen einige Minuten, untermalt von Klängen und Gesängen aus Schwarzafrika, zu denen der Trommler Stewart Copeland seine eigenen Rhythmen beisteuerte. Plötzlich nahm auch die Realzeit einen Rhythmuswechsel vor.
Eine Aureole schien SIE zu umgeben, weil SIE die Langerwartete war. Noch konnte er IHR Gesicht nicht sehen. Er erkannte SIE an der hohen Gestalt und an der 40er-Jahre-Thriller-Frisur. SIE trug einen langen Wintermantel. Russischgrün. Sehr tiefes Grün. Als SIE von der Rolltreppe auf den Bahnsteig trat, war Aljoscha schon wieder eine Allegorie der Indifferenz.
Verhindert ewig, o ihr Weltenlenker, daß dem Auge eines Todgeweihten, dessen Blick schon bricht, als letzter Anblick eine Frau erscheint, die einfach nur vorbeigeht. Verhindert, wenn der Arme nicht verdammt sein soll, daß sein letzter Blick den Schritten einer Dame folgt, die zufällig des Weges kommt. Man sagt, des Todes Schrecken ist einzig und allein das Nichts, aber hol’s der Teufel, wenn dieses Nichts nicht fein gestaffelt ist! Wenn endgültig genug geschrammelt ist nach schönen Augenblicken und die Stunde dräut, da wir der Dinge kommen, die da harren; wenn man nicht mehr sieht, wie hoch man schon gestiegen war, sondern nur, wie tief der Fall sein wird; fängt dann nicht sogar der Hartgesottene an, die Nichtse zu sortieren? Und ist’s nicht eins der schlimmsten Nichtse, wenn nichts mehr auf die Netzhaut geht? Das kann man so und so sehen? Noch. Da liegt der Hase ja im Pfeffer. Aber wenn kein Hase und kein Pfeffer mehr zu sehen ist, kein neuer Morgenhimmel mehr, der sich rötet wie die Wangen einer Braut? Wenn man nicht mal mehr die Hand vor Augen sieht, kann man sich das vor Augen halten? Eben nicht. In dieses Nichts zu müssen, das ist arg; und darum, mächt’ge Richter, verschlimmert nicht den Abschied tausendfach – laßt ab vom Wack’ren, der seine Seele schon verröchelt; laßt nicht sein letztes Bild, bevor der Große Wandler kommt, das Wandeln eines Weibes sein.
Nur die Frau hat einen Gang. Der Mann geht, weil er gehen muß, er ist immer unterwegs von A nach B, sein Gehen ist rein funktional und ohne Lust, es hat nichts Metaphysisches und gleichsam Schwebendes, und es hat schon gar nichts, was das Erfinden solcher Worte wie Grazie oder Anmut zwingend nötig gemacht hätte. Aber gerade der Mann, der zu schlendern versucht, der also seinen Funktionalgang vorsätzlich zum Herumlatschen abbremst, produziert Fortbewegungsarten, die seit dem täppischen Abgang des Australopithecus von diesem Planeten als eliminiert galten. Wenn er beschwingt eine Treppe abwärts schlingert, wenn seine Füße dabei in alle Richtungen schnellen, als würden aufgescheuchte Frösche in den Socken sitzen; wenn frenetisches Flattern der Hose den debilen Step begleitet und das ganze unkoordinierte Chaos deutlich macht, warum der Physik gar nichts anderes übrig bleibt als die Auflösung des klassischen Materiebegriffes, dann wird evident, daß Treppen dazu da sind, die Frau herabsteigen zu lassen aus den objektiven Himmeln ihrer Weiblichkeit. Keine Treppe bringt die Frau aus ihrem Ur-Rhythmus, dem welttragenden, der aus dem Becken kommt, dem Klangkörper des All-Tons. Wenn die Frau einen Zank damit beendet, daß sie auf dem Absatz kehrt macht, ist ihr Gang Bestimmtheit selbst, autonom und zwingend, einen Stolz diktierend, der aus Königen Kretins, aus Prälaten Pöbel und aus Städten Sandgekrümel macht. Dem Mann fehlt diese Fähigkeit: sich mit jedem Schritt zu buchstabieren. Man weiß nicht, ob er gerade zum Martyrium unterwegs ist oder zur Bushaltestelle. Geht er die Welt retten oder ins Büro? Kein Unterschied.
Der Gang der Frau ist das ewige Weitertanzen Salomes, die niemals zu versklavende Geschmeidigkeit der Artemis, der kreisende Schoß der Astarte, der Trotz der Jeanne d’Arc vor ihren Richtern, der unbeirrbare Gang durch die Geschichte mit jenem Hauch von Überlegenheit, an den zehntausend Jahre Unterdrückung nicht reichen – das für immer Unberührbare. Die Frau geht voller Eleganz durch einen Hurrikan und mit Würde aufs Schafott, ihr Gehen ist die ewige Bewegung um einen Schöpfungspunkt herum, der Schreitzyklus ihrer Schenkel ist wie der elektromagnetische Atem des Universums, und wenn ihr Gang von jener Art ist, daß es einem Mann die Augäpfel zu sprengen droht, dann handelt es sich nicht um etwas Künstliches, sondern um Natürliches als Kunst. Alles andere bildet ihr Spalier: der Gang der Frau ist jederzeit ein Kommen, auch wenn es nur ein Gehen ist.
Es war der 24. November. Aljoscha überquerte die Kreuzung am Damtorsk-Bahnhof und bog in die Allee ein, die zum Universitäts-Hauptgebäude führte. Ein Schwarm nachdenklicher Vögel zog über ihn hinweg. Er näherte sich den Mysterienkulten, und das Mysterium näherte sich ihm.
SHE’S WALKING DOWN THE STREETS
SIE kam ihm entgegen unter den schwarzen Gerippen der Bäume. Er war wie vom Wetter gerührt. Es war doch erst Montag! Es war erst gottverdammter Montag! SIE,
BLIND TO EVERY EYE SHE MEETS
zunächst nur ein Schemen in der Ferne, eine Luftspiegelung in der Wüste, dann jedoch eindeutig offenbart durch IHREN Gang, SIE kam auf ihn zu wie des Henkers schöne Tochter, unbeirrbar, ohne Hast,
SHE HOLDS HER HEAD SO HIGH
IHRE Ledertasche mit beiden Armen an sich drückend wie eine Magd den Apfelkorb oder eine Hexenkönigin den Kater, die fünf Töchter der Gnade im schwarzen Handschuh. Weil der Schwung der Arme entfiel, wirkte SIE
LIKE A STATUE IN THE SKY
noch zurückhaltender, noch unerschütterlicher, noch mehr in sich gekehrt als sonst; IHR Gang wurde dadurch nur noch aufsehenerregender. SIE vollzog eine gelassene Tortur an jedem, der SIE beobachtete, und allein die Art, wie SIE sich bewegte, brachte klar zum Ausdruck, wie das Getriebe der Welt für SIE keinerlei Konkretheit annehmen konnte, wie extravagant die Vorstellungen sein mußten, die für diese Frau Bedeutung hatten. Oder war es ein Schmerz, zu tief, um Außenwelt zu dulden? SIE ging wie eine Frau, die abzuwarten wußte, den Blick gesenkt, vornehm wie eine Pfingstrose am Mittag, schlank wie eine der Lamien.
Aljoscha betrat den Fahrstuhl und schloß das Gitter. Der Fahrstuhlführer musterte ihn mit dem Nicken eines listigen Untersuchungsrichters. Es nahm kein Ende, dieses Nicken.
„Was soll das heißen?“ rief Aljoscha. „Sie verstehen sich am Ende gar als eine Art Mitwisser?“
„Hören Sie“, sprach der Fahrstuhlmann, „im dritten Stock wohnt eine, die Sie liebt!“
„Ich weiß“, antwortete Aljoscha müde.
„Und dann ist da eine, die sich im Souterrain verborgen hält, die liebt Sie auch!“
„Das sagen Sie. Können wir jetzt fahren?“
„Dritter Stock oder Souterrain?“
„Zur Empore. Ich möchte die Konstellationen betrachten.“
„Gibt harsche Tendenzen bei einer Triade, was?“
„Zerstörerische. Schweigen Sie endlich.“ Aljoscha hatte plötzlich den Eindruck, als trüge der Fahrstuhlführer eine Maske und hinter der Maske kein Gesicht.
„Mythen, gewiß. Aber sind sie fraglich, weil sie Mythen sind?“ gab der Fahrstuhlführer zu bedenken. Die Empore war erreicht. Aljoscha gab dem Fahrstuhlführer ein paar Münzen und sagte: „Hier, kaufen Sie sich davon einen Flugfrosch.“ Er bezog den Standpunkt der Observation und richtete sein Augenmerk auf eine Vielheit, die sich zur Einheit versammelte in einem reichlich abgekarteten Spiel.
(Allgemeines Gemurmel)
DER HERRSCHER. … doch, doch… manche beginnen zu verstehen, daß die Ewigkeit in einem einzigen Augenblick wohnt…
DER HOHEPRIESTER. Wollen’s hoffen, wollen’s hoffen!
DER RITTER DER SCHEIBEN. Mein Pferd tanzt auf zwei Hufen über 39 Stufen voller Pulverschnee!
DER RITTER DER STÄBE. Mein Pferd machte mich kürzlich darauf aufmerksam, daß sich die Sterne in der Sakeschale spiegeln!
DER RITTER DER SCHWERTER. Sag noch, dein Pferd furzt Maximen.
DER RITTER DER STÄBE. Auch, auch!
DER NARR. Pardon! Pardon! Wohlaufgemerkt! Das erste Wort!
TUGEND. Bitte, wäre es wohl zuviel verlangt, uns den Grund zu nennen, der uns hier zusammenführt?
DER TEUFEL. Gründe, wer braucht Gründe? Kleinkariert, ducknackig! Kannst du nicht einmal grundlos sein? Motivation, Klotivation! Nimm mal den dings, wie hieß er, Jesus! Hatte der einen Grund? Den würde er wohl immer noch suchen!
TUGEND. Mit dir spreche ich nicht, Versucher!
DER TEUFEL. Mit mir spricht jeder irgendwann. Darum sind wir ja hier, Puppe.
DER MAGIER. Wir sind hier, um in die Waagschale zu werfen und Widerhall zu finden. Wir werden ins Gewicht fallen, und wir haben Nachdruck zu verleihen.
DER TEUFEL. Sicher, wir waren nicht immer einer Meinung, aber er hatte doch Mumm, dieser Christus. Doch, doch. Ich ziehe meinen Hut.
DER NARR. Hut?
DER TEUFEL. Das sagt man so. Ich ziehe meinen Hut. Man muß keinen aufhaben, weißt du? Ich hab mich mal mit Grammatik beschäftigt.
DER MAGIER. Als der Vorsitzende dieses Nachtkonzils erinnere ich daran, daß wir nichts als Ganzheit sind, sobald ein freier Wille durch die enge Pforte dringt. Laßt daher alte Zwistigkeiten ruhen! Ich werde jeden Streit beenden, der nicht dazu taugt, die Dunkelheit, aus der man uns rief, zu erhellen. Wer weilt noch anderwärts?
MOND. Der Tod. Doch ich sehe ihn, er ist schon nah.
DER TEUFEL. Oh stille Mondgöttin, deine Weitsicht! Dein mädchenhaft ungetrübter Blick! Dein keusches, kaltes Licht! Aber mich kannst du nicht täuschen, Urheberin der Fieber! Schöpferin des Zweideutigen! Sind wir nicht wie Geschwister?
MOND. Mein Licht ist wie eine Oase für den Durstigen. Deine Liebe ist wie Gift in einem Brunnen.
DER TEUFEL. Was für eine gräßliche, groteske Unterstellung! Ich habe allenfalls interesseloses Wohlgefallen an –
DER TOD. (Hereinstürzend) Entschuldigt! Ich wurde aufgehalten.
TAPFERKEIT. Hat man Euch zu einer Partie Schach gefordert?
DER MAGIER. (zum Tod) Nimm Platz, wir wollen beginnen.
DER TOD. Ich stehe lieber. Man weiß nie.
DER MAGIER. Du bist jetzt nur Prinzip.
DER TOD. Ach ja. Verfluchtes Durcheinander.
DER MAGIER. Ich eröffne also diese Konferenz, die nach irdischer Zeit den zehnten Teil vom zehnten Teil einer Sekunde dauern wird. Wer will beginnen?
DER WEISE EREMIT. Ich bitte um Gehör.
DER TEUFEL. Was will er, ein Hörrohr?
DER MAGIER. Sprich, Eremit.
DER WEISE EREMIT. Ihr wißt, ich bin ein Pilger, der von Stadt zu Stadt gegangen ist, ohne einen Blick für Tand und Flitter; ich war auf hohen Bergen und in tiefen Tälern, um zu finden, was keiner von euch sucht. Und so mancher wird sich denken: was will er uns denn sagen, er kennt sich doch nicht aus! Aber ist einer unter euch, der mit einem Scheusal rang, größer als die Pyramiden? Stand einer von euch Auge in Auge mit dem Biest, das Versuchungen ausdünstet, betörend wie die wohlduftenden Essenzen der Libyer, lockend wie ein Hauch von Ambra oder Zibet auf der milchweißen Haut der Odaliske? Hat einer von euch je einen Zweikampf ausgetragen mit dem von schwarzen Pusteln übersäten Urbild des Verrats? Der soll mich unterbrechen!
DER TEUFEL. (Wiener Schmäh imitierend) Der Sigmund, des is a Freud.
DER WEISE EREMIT. Ich sehe mit Betrübnis in das Innere der Angelegenheit, die wir verhandeln sollen. Sie ist ernst.
DIE HERRSCHERIN. Und wißt Ihr auch, wie ernst sie ist, mein weiser Mann?
DER WEISE EREMIT. Ah, Ihr! Unwürdige! (mit dem Finger auf die Herrscherin zeigend) Ihr sitzt da wie ein Freudenmädchen!
DER TEUFEL. Ach Gottchen, haben wir noch nie einen Strumpfhalter gesehen?
DIE PRINZESSIN DER KELCHE. (Tuschelnd) Henri der Dritte fiel jedesmal in Ohnmacht, wenn er eine Katze sah!
DIE PRINZESSIN DER STÄBE. (Mit ihrem Fächer wedelnd) Das Obszöne entsteht im Auge des Betrachters, das ist meine Meinung! Ist sie die Liebesgöttin oder nicht?
DER MAGIER. (zur Herrscherin) Madame, hättet Ihr die Güte, Eure Kleidung ein wenig zu arrangieren.
DER TEUFEL. Köstlich! Was für eine Farce! Haben wir schon angefangen, oder wie?
DIE PRINZESSIN DER SCHWERTER. Aber wer ist es denn, der uns befragt?
DER MAGIER. Er zählt die Sterne an seinem Nachthimmel, verhundertfacht die Zahl und schwört, es sind die Jahre, die er eine Fremde liebt.
DIE PRINZESSIN DER SCHWERTER. Ach… das ist hübsch.
DER WEISE EREMIT. Sinnlose Verwirrung ist nicht hübsch! Dieses Herz, das in einer anderen Schuld steht, wird von einer Sirene becirct! Und ich sage, wer den Weg gefunden hat, warum sollte er den Weg verlassen? Wer den Stab hat, sich darauf zu stützen, warum sollte er nicht standhaft bleiben? Das höchste Gesetz, hat es keine Geltung mehr? Dieser törichten Anwandlung muß Einhalt geboten werden, oder die Steine in den Mauern werden schreien!
DER TEUFEL. (zum Narren neben ihm) Très joli, n’est-ce pas?
DIE HERRSCHERIN. Ihr seid im Irrtum, Eremit. Das höchste Gesetz, es gilt noch immer. Auf die Silbe.
DER TEUFEL. Großartig! Dann können wir ja alle wieder nach Hause gehen. Ich habe einen Braten in der Röhre.
DIE HERRSCHERIN. Einen Menschen lieben, das war und ist Gesetz.
DER WEISE EREMIT. Ihr betont es falsch. Einen Menschen lieben.
TUGEND. Muß man nicht alle Menschen lieben, damit man einen liebenkann?
DER KÖNIG DER SCHWERTER. Durchaus nicht. Aber man kann alle Menschen lieben, indem man einen liebt.
DIE PRINZESSIN DER SCHWERTER. Aber wer alle Menschen lieben will, muß ganz abstrakt werden! Sind nicht alle großen Komponisten Philanthropen?
DER RITTER DER SCHWERTER. Philanthrop oder Misanthrop. Was im übrigen dieselbe Abstraktion ist.
DIE KÖNIGIN DER SCHWERTER. Aber jeder Philanthrop hat etwas Misanthropisches, weil er von der Güte des Einzelnen absieht. Und jeder Misanthrop hat etwas Philanthropisches, weil er die Schlechtigkeit des Einzelnen verzeiht.
DER RITTER DER STÄBE. Ha! Genug Schwertgeschwätz, um der Hydra die neun Köpfe abzutrennen, aber leben eure Worte je durch Blut? Worum es geht, das ist doch wohl, beim Zeus: ist der Mensch denn noch bei Trost, der sich davon abhält, seinem Herz zu folgen?
DER KÖNIG DER SCHEIBEN. Worum es geht, das ist doch wohl, beim Jupiter: ist der Mensch denn noch bei Trost, der alles aufgibt wegen einer Laune?
DER TEUFEL. Worum es geht, das ist doch wohl, bei meiner Rübe: ist der Mensch denn noch bei Trost, der sich diesen Quack noch länger anhört?
DER RITTER DER SCHEIBEN. Es gibt nur eine Wahrheit, und wer sich ihr in den Weg stellt, hat mit Sachschaden zu rechnen!
DER RITTER DER STÄBE. Aber welche ist es?
DER RITTER DER SCHEIBEN. Weiß ich doch nicht.
DER RITTER DER STÄBE. Die Moderne geht mir auf den Sack. Früher war alles einfacher.
DER MAGIER. Konflikt entsteht aus der Verschiedenheit von Sein und Sollen. Was trifft aufeinander? Ein Herz, das sich ein Gesetz gab, und eine Fügung, die scheinbar Herz und Gesetz entzweit.
DER HÄNGENDE MANN. Man kann natürlich vieles Fügung nennen!
DER TEUFEL. Herrgott, warum schreist du bloß immer so?
DER HÄNGENDE MANN. Verzeihung. Meine Haltung verleiht mir die Impression, daß ich schlecht zu verstehen bin.
DER HOHEPRIESTER. Und wenn diese Fügung nur als Phantasie besteht?
DER MAGIER. Wäre sie dann weniger bedeutsam?
DER HOHEPRIESTER. Scheinbar greift sie an, was besteht. Oder greift sie an, was nur scheinbar besteht?
DIE HOHEPRIESTERIN. Hat diese Fügung Sein, das werden soll? Oder ist ihr Sein ein Widerspruch zum Sollen?
TUGEND. Ist ihr Sollen nicht nur Schein?
DAS SCHICKSAL. Oh nein, ihr Sein steht tief im Soll.
DER WEISE EREMIT. Was andere Fügung nennen, nenne ich Schuld!
DER TEUFEL. Zicke zacke zicke zacke, hoi hoi hoi!
DER RITTER DER KELCHE. Schuld ist ein hohles Wort. Ein extrem gewölbter Begriff. Bauchig geworden vor lauter hineingestopftem Sinn.
DER WEISE EREMIT. Schuld ist Schuld, im Norden wie im Süden, im Westen wie im Osten!
DER RITTER DER SCHEIBEN. Könnte es sich bei dem Stand, den wir betrachten, um eine vorübergehende Erscheinung handeln?
DER TEUFEL. Könnte es sich bei deinem Verstand um eine vorübergehende Erscheinung handeln?
DER RITTER DER SCHEIBEN. Ich lasse mich nicht beleidigen, auch nicht vom Herrn Satan persönlich! Nennt mir Euren Sekundanten!
DER TEUFEL. Hm – Ozzy Osbourne?
DER RITTER DER SCHEIBEN. Sehr witzig.
DER TEUFEL. Ach, hol dich der Teufel.
DER KÖNIG DER KELCHE. Hört mich an, bei der Asche Gogols! Kein Geschehen ist ohne Bedeutung, oder stimmt das etwa nicht? Hat schon alles seinen Sinn, ja, das kann man sagen! Das Geschehen, das ist wie ein – wie ein – Glas mit Wodka! Es wäre schlecht bestellt um die Bedeutungen, wenn sie nicht schon drin wären im Geschehen, wie Wodka im Glas! Ich meine, wo sollten sie sonst hin, die Bedeutungen?
DER TEUFEL. Ist ein Doktor anwesend? Rasch, wir haben einen Notfall hier!
DER KÖNIG DER KELCHE. Wie soll einer die Bedeutung des Geschehens erkennen, wenn es kein Geschehen gibt? Ich bin für weiteres Geschehen, bis man die Bedeutung trinken kann! Sehen kann, ’zeihung.
DIE LUST. Ja! Ja! Ich will, daß es geschieht! Das Geschehen soll geschehen! Immer!
DER WEISE EREMIT. Nur über meine Leiche!
DER TOD. (Aufwachend) Pardon?
DER NARR. (Klatscht Beifall) Das ist ein Wort! Ein gutes Wort! Das ist das beste Wort! Das erste Wort! (spricht leise vor sich hin, mit verschiedenen Betonungen) Pardon? Pardon! Pardon…
DIE PRINZESSIN DER STÄBE. Geschehen muß sein. Wovon sollte man sich als Eremit sonst abwenden?
DER WEISE EREMIT. Ein solcher Hang zum Fatalismus kann nur von Übel sein!
DIE HERRSCHERIN. Niemand sprach von Fatalismus hier.
DER WEISE EREMIT. Aber man kann den Dingen nicht einfach ihren Lauf lassen!
DAS SCHICKSAL. Ach! Seit wann denn nicht?
SIE kam. SIE ging nicht in die andere Richtung. SIE ging nicht an ihm vorbei. Man kann nur tun, was man will, wenn man auch das Gegenteil tun könnte, und nichts hätte SIE am Gegenteil gehindert. Aber SIE war ihm gefolgt und stand urplötzlich auf einem Punkt im All, der von seinem Standpunkt nur zwei Armlängen entfernt war. Unauffällig wie eine gotische Kathedrale. Als hätten die Himmelsmächte in Windeseile eine Statue errichtet neben ihm, eine Marmorschönheit, die Kunst des Phidias übertreffend. Ihre Position war so eindeutig auf ihn, Aljoscha den Idioten, abgestimmt und eingestellt, daß ihm das Herz in die Kniekehlen sank, und mit also beherzten Knien versuchte er, neben dieser Hohepriesterin des Unnennbaren zu bestehen. Zu stehen, fürs erste.
Majestätisch, erhaben, unbewegt, doch Gott weiß welche Schwingungen aussendend, tat SIE nichts, als einfach mit rätselhafter Unerbittlichkeit in sein Leben zu treten. Wer war SIE? Oder was war SIE? Die Diskrepanz zwischen IHRER diktatorischen Präsenz und IHRER demonstrierten Gleichgültigkeit war nervenzerfetzend.
Ein Mann kam auf Aljoscha zu. Und was war jetzt das? Ein weiterer Abgesandter, ein Unheilsbringer? Ein Kurier aus anderen Dimensionen? Wladimir Majakowski? Hauen Sie ab, ich warne Sie! Der Ziegenbock oben! Der Ziegenbock unten! Der Ziegenbock oben! Der Ziegenbock unten!
„Kennen Sie sich hier aus?“ fragte der Mann.
„Ja.“
„Fährt diese Bahn nach Wolchonka?“ fragte der Mann.
„Nein“, sagte Aljoscha.
Der Mann ging nicht weg. Aljoscha hatte Lust, in seinen Schal zu beißen und zu rufen: „Schmeckt sehr schal!“ – wenn es nur den Mann verjagte.
„Fährt denn gar keine Bahn nach Wolchonka?“ fragte der Mann. Die großen Anzeigetafeln überall kümmerten ihn wohl nicht sehr.
„Doch. Wahrscheinlich die nächste.“
Wieder vergingen kostbare Sekunden.
„Wann kommt die denn?“
Unbeirrbar ging der Mann am Rande einer Ohrfeige spazieren.
„Bald. In fünf Minuten. Keine Panik.“
Der Mann machte runde Augen: „Ich? Panik? Wieso?“
Aljoscha dachte: weil sich gleich ein Loch auftut und dich verschluckt. Aber der Mann zog endlich weiter.
Und damit hatte SIE seine Stimme aus der Nähe vernommen. Beruhigend, daß man Gesagtes nicht an sich bringen kann, um Fernzauber damit zu treiben. Oder kann man? Vielleicht hatte SIE Mittel, um den Klang seiner Worte substantiell zu machen und einzureiben mit einem Gemisch aus Geckospucke, Viperntränen, Belladonna und Pulver aus dem Gürtel der Persephone und… Jessas. Wie sagt Majakowski in Seht, so ward ich ein Hund: „Sicher – die Nerven, gehn mir an die Nieren…“
Als die Metro in den Bahnhof eingerollt war und Aljoscha einstieg, folgte SIE ihm so spurgetreu, als würde SIE hinter ihm durch eine Schneewehe gehen. Unfaßbar, dachte er. SIE will es so. SIE will es so.
Er lehnte sich an eine Trennwand. Ob IHR das Gedränge keinen Ausweg ließ, oder ob SIE sich dazu entschloß, jedenfalls blieb SIE ganz nah bei ihm, als hätte er ein Anrecht auf das berauschende Gefühl dieser Nähe, auf den Reiz, der darin lag, daß SIE vor aller Augen eine Art von Zugehörigkeit vorspielte, andererseits aber nur sie beide wußten, was hier vor sich ging. Für diesen exklusiv exhibitionistischen Akt drehte SIE ihm, natürlich, den Rücken zu, und trotzdem war es, als würde er durch ein Schlüsselloch schauen, und als würde SIE es wünschen, ihn auf diese Weise zum Voyeur zu machen. Für eine kostbare Minute exquisiter Martern lud SIE seinen Blick ein, in IHR Haar zu tauchen und sich von den Wellenlinien jeder Strähne mitreißen zu lassen; dann, wenn SIE den Kopf ein wenig drehte, die Länge IHRER Wimpern zu studieren, während IHR Parfum ihm die Sinne verwirrte, Dufthauch einer prächtigen Blüte, die sich für einen luxuriösen Exzeß zur Schau stellt. Dann, als sich an einer Trennwand vis-à-vis ein Platz zum Stehen bot, nahm SIE diesen mit einer raschen und geschmeidigen Bewegung ein; es war unmöglich, zumindest für Aljoscha, dabei nicht an den lautlosen, waagrechten Sprung eines todsicheren Panthers zu denken. SIE warf herrisch den Kopf in den Nacken, schien einen scharfen, seltsam befriedigt wirkenden Atemzug zu tun und sah ihn kurz und beunruhigend an. Zum ersten Mal standen sie von Angesicht zu Angesicht.
Auge in Auge.
Woher kommen wir? Woher kommen wir zurück? Welche Sprache, in jedem Gedächtnis längst erloschen, sprachen wir? Welche Dynastie statuierte ein Exempel? Welchen Glauben erklärte sie für rechtens? Welchen Kult verbot sie? Welcher Tyrann ließ uns verfolgen? In welchem Land, in welchem Reich kam ich zu spät? Begehrte diese Frau Erinnerung an jene Stunde, da SIE an einen Pfahl gekettet war, zu Tode gequält von den Schergen des Herrschers? Erinnerung an den letzten schwachen Glanz in IHREN Augen? Erinnerung an seine zorngeballte Faust und seinen Schwur, diesen Glanz wiederzufinden, bevor die Sterne aufhören zu wandern? Ein Zucken IHRER Lippen – es lag Getriebensein darin und Grausamkeit. Oft wie nie zuvor fand er IHREN Blick, den Blick, der zwischen ihm und der Vernunft jedes Band zerschnitt. IHRE Haltung war gebieterisch und streng, IHRE ganze Erscheinung erteilte die Lektion, nichts erhoffen zu dürfen, niemals; und gerade darum glich IHR Blick einer Verzweiflungstat: die sehnsüchtige Aufmerksamkeit IHRER Augen wirkte scheu und beinahe flehentlich, als wollte SIE dem Zeichenlehrer sagen: laß mich Rosen tuschen in das Album deiner Not… IHRE Stiefelspitzen zeigten in so grundverschiedene Richtungen, daß es nur zwei Möglichkeiten gab: SIE war Ballettänzerin oder vom Teufel besessen.
Könnte man unsichtbar werden wie Ariel, der Luftgeist, um zu spionieren! Einmal nur sich umschauen in den Gemächern, die SIE bewohnte! Zwei oder drei Geheimnisse IHRES Lebens, um wenigstens die Nervosität ein wenig zu lindern! Bevorzugte SIE Kirschen oder Erdbeeren? Rosen oder Lilien? Paris im Frühling oder London nach Mitternacht? Sacher-Masoch oder den Marquis de Sade? Opium oder Shalimar? Trank SIE den Tee mit Zucker oder nicht? Liebte SIE vielleicht nur Frauen? Welches war der Spiegel, vor dem SIE IHRE Strumpfnaht richtete? Was bedeuteten die Bilder, die an den Wänden hingen? Erschienen jede Nacht dieselben Silhouetten vor dem Fenster? War Zeit ein Schwindel hier, im Schein von 13 Kerzen? Träumte SIE zuweilen, daß eine dieser Türen in unterirdische Verliese führte?
Hier, wo SIE aus IHREM langen, schweren Wintermantel glitt, in den gehüllt SIE auf den Straßen die Blicke der Verstohlenen mit eisiger Mißachtung strafte. Hier, wo IHR in einem schwarzen Universum milchig weißes Licht huldigend entgegenströmte. Hier, wo IHRE geschlossenen Lider erzitterten, wenn die Wesen in den unterirdischen Verliesen brüllten.
SIE schlägt die Augen auf und sieht: nicht ihn. SIE beobachtet nicht ihn mit kühlem Interesse und präziser Neugier. Mit IHR erhebt sich eine ägyptische Königin, gewillt, IHRE Macht zu erproben mit ruhiger Selbstverständichkeit. SIE läßt nicht ihn den Kuß der züngelnden Natter fühlen, dann IHREN eigenen Kuß, und nicht ihm schmilzt das Rückgrat in der Glut. SIE schmiegt sich an die bronzene Katzengöttin, eingesperrt in ein fremdes Jahrhundert wie in einen Kerker voller Seufzer, deren Echos keinen Ausweg finden. Während SIE in unangreifbarer Reinheit thront, läßt SIE nicht ihn sein Verlangen büßen. Die Sterne werden rasend. Nebelschwaden kriechen durch den Korridor. Aljoscha kniet, die Hände auf dem eisigen Stein, den Blick zur schönen Peinigerin erhoben, die nicht ihm unter seidigen Bedingungen IHREN Willen aufzwingt. Nicht er streckt die Hände nach IHR aus wie eine verdammte Seele. SIE legt sich auf einen steinernen Altar wie auf einen Diwan, hingegossen, man hätte SIE für wollüstig halten können, eine Bewegung IHRER Beine verursacht anschwellendes Dämonenheulen – und der Hauptmann, der hervorwächst aus dem Nebel, brüllt martialisch – und Aljoscha heult sein eigenes Heulen, als er die blanke Klinge in den Hauptmann rammt und den Widersacher meuchelt und ein ganzer Lebensstrom die steilen Stufen in die Tiefe rinnt. In der Bredouille war Aljoscha an der Peripherie des Wirklichen – und im Zentrum des Phantastischen.
– Artwork CE
– Foto CE
– A. E. Waite Tarot Card
– Artwork CE
– Artwork CE
Aljoscha Tuschkin glaubte an eine Führerin durch alle neun kreisenden Sphären des Universums. Das war die unzeitgemäße, antiquierte, vielleicht auch futuristische Idee des Erstgeborenen, der jede Widerlegung dieser Idee in seinem Herzen widerlegte und in dieser Frage, auch wenn man ihm erklärt hätte, daß leben lernen ein Leben dauert, alles gute Zureden ignorierte. Er hatte immer glauben wollen, daß über diese Erde, diesen Asphalt, diese Brücken, unter diesem Mond, unter diesem Morgenstern, unter diesem Abendhimmel und unter diesen Satelliten, zwischen diesen Statuen und Parkbänken und Laternenpfählen, durch diese Gemäuer und durch diese Korridore jene Eine und Einzige wandelte, für die er geboren war, jene eine Tochter, der er versprochen war seit der Entstehung des Wasserstoffs. Er hielt das selbst für ziemlich dumm, aber „o Dummheit, wenn du doch ohne mich regieren wolltest“ stöhnte einer wie er völlig vergeblich. Es gab dieses Etwas, das als Engel am Bühnenrand entlang schritt und dem er verfallen sein würde, solange er lebte.
Ein Saufaus namens Aristophanes, wohnhaft in einer Zeit ohne Nachnamen, streute bei einem Symposion das Gerücht, die Menschheit habe ehedem aus Kugelwesen bestanden, was an sich eher geschuckt klingt und nicht dazu geeignet, die herrschende Meinung über Philosophen irgendwie zu ändern, aber mit einer homöopathischen Dosis gutem Willen wird man die Kugel als ideale Form wohl anerkennen können. Diese Kugelwesen also, behauptet Aristophanes, wurden sämtlich in zwei Hälften gespalten, was deutlich nach dem Schnickschnack aussieht, mit dem göttliche Mächte sich allenthalben zu beschäftigen scheinen: das Universum krümmen, eine Lichtgeschwindigkeits-Begrenzung festsetzen, 100 Sekunden nach dem Urknall die Temperatur auf 1 Milliarde Grad Celsius fallen lassen, warum also nicht Kugelwesen spalten. Jede Hälfte sucht nun auf Erden ihr Pendant, und so gaben die Götter den Menschen Sehnsucht, Liebe und Verlangen. Eine akzeptable Theorie, wäre nicht besagter Aristophanes Komödiendichter gewesen.
Manchmal, wenn Aljoscha aufs Meer hinaus sah, meinte er sich an sein Schiff erinnern zu können, an das Ächzen und Knarren der Planken und Spanten, an das verzerrte Gesicht des Steuermanns, an Admiral Nelson, der nachts bei rauher See bisweilen aufstand, um die Schiffskatze zu trösten. Das ließ seine erste Ehe scheitern.
Es war ihm selber ein Rätsel, aber wenn er wollte, konnte Aljoscha nahezu waschechtes Cockney-Englisch sprechen. Und in einem verschämten Winkel seines Herzens glaubte er, daß er in einem früheren Leben hinter einem der Fenster aufgewachsen war, unter denen die Huren von Whitechapel Wünsche weckten und nicht selten auch an Ort und Stelle erfüllten, daß er dann ausgerückt war zu den Docks von Bristol oder Plymouth, in Moloneys Bar seine Seele für ein paar Silbermünzen und eine Blasphemie verkauft hatte und dann an Bord gegangen war. Dafür sprach unbedingt, daß die alten Lieder aus England, Irland oder Schottland, die vom Leben der wehmütigen Seemänner und der tapferen Fabrikmädchen handelten, von blutigen Schurken wie Long Lankin, von der toten Braut, die als Geist zurückkehrt, oder von Thomas The Rhymer, den die Elfenkönigin ins Elfenland entführt, in Aljoscha stets den ungereimten Wunsch weckten, in der Zeit dieser Lieder gelebt zu haben – bis er sich eben sagte: das habe ich dann ja wohl, verflucht.
Oft war es Musik, bei der die Melodie sich über einem einzigen beständig durchgehaltenen Akkord erhob; schon das machte Aljoscha völlig widerstandslos. Wie ein fester Blick, in dem die Macht von tausend Worten liegt. Eine Weite tat sich auf zum Auf-die-Knie-Sinken, und jede Melodie darin klang wie das erste oder letzte Lied auf Erden. Und wenn dann auch noch D-Dur die Tonart war! A Sailor’s Life, ein ganzes Seemannsleben in D-Dur… Aljoscha konnte keine Noten lesen, aber sobald er Musik hörte, bei der er sich wünschte, daß sie niemals aufhört, konnte er 100 Guineas darauf setzen, daß D-Dur im Spiel war.
Wenn er also in einem früheren Leben Seemann gewesen und ertrunken war, wenn ihn die Undinen auf den Meeresgrund gezogen hatten, wenn in diesem Leben nun sein Ohr so überaus empfänglich für D-Dur war, und wenn das Meer uns ein Gedächtnis gibt für das letzte, was man hört nach einem Schiffbruch, dann konnte das zusammengefaßt nur eins bedeuten: die Undinen sangen in D-Dur.
Und da stand sie. Die unentzifferbare Wahrheit des Schauerlichen. SIE.
Aljoscha kannte IHREN Namen nicht, doch er kannte SIE, erkannte SIE, sie erkannten sich, buchstäblich und nicht im biblischen Sinne. Niemand hätte Zeuge sein können, niemand hätte vermutet, daß die kaum merkliche Regung auf dem Gesicht der jungen Frau in Verbindung stand mit dem flüchtigen Blick des jungen Mannes, der gute fünf Meter von IHR entfernt stehenblieb, weil eine Eingebung oder eine Erinnerung oder die Stimme der Isis ihm sagte, daß er nicht zu weit gehen durfte, buchstäblich und in jedem anderen Sinne.
Seine Sinne gerieten in kompletten Aufruhr, seine Nervenbahnen glichen den Straßen von Kalkutta, wildes unverständliches aufgeregtes Gestikulieren im Gangesdelta seines ZNS, Aljoscha vertiefte sich in sein Buch und verstand von dem, was er da las, kein Wort mehr. Er starrte auf die Zeilen, aber seine Augen gehorchten einer technischen Störung. Aljoscha stand auf dem Bahnsteig von Wolchonka mit einer Wahrnehmung, die auf einen Punkt im All fokussiert war, der fünf Meter links von ihm lag, nur noch auf das reagierend, was da zu empfangen war. Und es war da, um empfangen zu werden. Die Erregungsübertragung in seinen Synapsen randalierte, als wollte sie verhaftet werden. Er stand völlig still, und sein Inneres tanzte einen Veitstanz.
Mit überlegener Noblesse hatte SIE sich im Hintergrund gehalten, nahe bei den Schaukästen mit den Fahrplänen. Als eine Minute verstrichen war, maß der Abstand zwischen IHR und ihm jedoch nicht mehr die ursprünglichen fünf Meter. Die Distanz verringerte sich, ohne daß Aljoscha sich von der Stelle rührte. Teile, addiere, multipliziere und verstehe.
Immer mehr Menschen drängten auf den Bahnsteig und schoben sich, ohne es zu merken, in einen Strahl allerfeinster Teilchen, in den durch beschleunigten Herzschlag aufgeladenen Ionensturm zwischen zwei scheinbar unbeteiligten Menschen, aber nichts und niemand unterbrach Aljoscha beim Empfinden jener Macht zu seiner Linken. IHRE Nähe beschlich ihn panthergleich, und Aljoscha ahnte, welche Veränderung jetzt heraufbeschworen wurde. Diese Ahnung war es, die ihn beinahe niedersinken ließ. Er hätte jetzt nur noch den Arm ausstrecken müssen, um SIE zu berühren. Mit überlegener Noblesse hatte SIE sich im Hintergrund gehalten, um alle Fahrpläne außer Kraft zu setzen.
Er sah er SIE an, mit einer Frage in den Augen. SIE erwiderte den Blick, kurz und knapp, aber mit einer Antwort in den Augen. Es war, als hätte jemand Schach geboten.
Langsam rollte die Metro nach Putjagora ein. Aljoscha ließ sein Buch verschwinden, und SIE, bei Isis, ließ erkennen, daß SIE mit ihm einsteigen und nicht von seiner Seite weichen würde. SIE änderte die Spielregeln. Er steuerte wie in Trance auf eine der Metrotüren zu, vor denen sich Menschenmengen stauten. Das Einsteigen zog sich hin… Aljoscha spürte, mit welch mathematischer Präzision dieses Zeitlupentempo auf etwas zulief, das seine Kräfte überstieg – im allerletzten Augenblick floh Aljoscha aus IHREM Bann und bestieg den Metrowaggon durch eine andere Tür. Solch abrupter Richtungsänderung konnte SIE nicht folgen, würde SIE nicht folgen – und SIE folgte nicht.
Als die Metro sich in Bewegung setzte, fand Aljoscha seine Fassung wieder. Er dachte die Gedanken, die Deserteure eben denken. SIE mußte sich irgendwo in diesem langen Waggon befinden, in dem etwa ein Viertel der Weltbevölkerung enerviert aus der Wäsche schaute. Noch vor zwei Minuten hätte Aljoscha überhaupt darauf gesetzt, daß SIE die Metro nehmen würde, die durch die noblen Stadtteile in Richtung Belonosko fuhr. Die bourgeoise Metro. Die Putjagora-Metro war die Metro des Proletariats. Die Wege des Herrn, nur halb so unergründlich wie die der Herrin. Aber wenn man es genau betrachtete, hätte die bourgeoise Metro ebensowenig zu IHR gepaßt. Was hätte überhaupt zu IHR gepaßt? Vielleicht eine Petersburger Troika auf einem zugefrorenen See, weiße Pferde links und rechts und ein schwarzes in der Mitte.
Woroprod, die erste Station, und wer starrte so gebannt aus dem verschmutzten Fenster wie Aljoscha? SIE war nicht ausgestiegen. Eine Metro voll eschatologischer Erwartung rollte weiter durch den trüben Winterabend.
Dobropol, die nächste Station. „Nicht hier! Das geht nicht!“ dachte Aljoscha – SIE war ausgestiegen. Auf der anderen Seite der schmutzigen Glasscheibe sah er die Katzenmenschenfrau mit eiligen Schritten entschwinden, hier, schon, warum denn ausgerechnet hier? Dobropol? Unfaßbar. Unmöglich. Dobropol. Ha.
Ozeane von Bildern und Gedanken überfluteten Aljoscha in dieser Nacht, kein Damm hielt stand, das war der Untergang, wie süß! Seit Stunden ging das so, und anders ging es nicht. Der Himmel wird brechen, weiß eine orientalische Sage, es sei denn, der Dicke, der Unendlich Dicke, schluckt jeden Tag eine Murmel. Aljoscha betrachtete die Sterne und fragte sich, ob sie wohl günstig standen oder ungünstig, jedenfalls standen sie, blinkend wie Tigeraugen im Dschungel, und sie hatten etwas vor. Scheinbar lag der Kosmos immer noch an dem Ort, von dem man wußte, daß er da lag. Wenn in dieser Nacht kein Vollmond schien, war es ein Versehen.
Eine neue Zeitrechnung hielt Einzug in Aljoschas Leben. Eine Zeitrechnung von Dienstag zu Dienstag.
Als Aljoscha am Donnerstag mit der Metro zur Universität fuhr, sah er beim Halt in Dobropol mit aufgerissenen Augen aus dem Fenster. Vor 48 Stunden war SIE hier ausgestiegen: Neubauten zur Rechten, Einfamilienhäuser links. Eine Atmosphäre von Verlassenheit und Öde über allem, mitten in der Großstadt. Ein Quartier, durch das drei Monate alte Zeitungen wehten. Vielleicht waren die fragwürdigen Tendenzen, die den fahlen Lichtschein scheuen, hier nicht fragwürdiger als anderswo, vielleicht war die finstere Tätigkeit, die Schuldlast mehrt, hier nicht finsterer als anderswo, vielleicht brach sich hier in kalter Nacht der Wind an der zum Umpusten ausgemergelten Gestalt eines einsamen Stromers, vor dem sich die Betonburg wie eine Gewitterwand auftürmte. Aber der Klang IHRER Absätze hier… was fängt die Einbildungskraft damit an? Hatte SIE hier IHRE Wohnung? Oder ein ganz anderes Ziel?
Freitag. Aljoscha sprach seit einer guten Stunde am Telephon mit Leda, als ihm, Schuß ins Auge, plötzlich aufging, daß das wahre Leben schon woanders war. Er selbst war längst woanders. Auf der anderen Seite des Spiegels. Es war möglich: er konnte der Welt das Spiegelbild jener Geschichte zeigen, die sich eben zutrug an der Oberfläche, doch diese Geschichte war für ihn wie Tarnung. In der Welt hinter dem Spiegel schaute er sich um mit angespannter Wachsamkeit, ein Spion durch Transition, im Hinter-Land der Wirklichkeit.
Am Sonnabend war Dienstag vier Tage her.
Am Sonntag fuhren Leda und Aljoscha aus der Stadt heraus, ließen den Wagen in der Nähe eines Schloßparks stehen und wanderten in den Nebel, den die Dämmerung brachte. Krähen stiegen auf, und in der Ferne bellte heiser und unermüdlich ein Hund. Aljoscha erwartete noch ein Rudel Wölfe und eine Pokerrunde Moorleichen.
„Ich weiß genau, wenn wir erst zusammen wohnen, wird alles einfacher“, sagte Leda und umschlang ihn fester. „Nicht wahr, das glaubst du doch auch? Aljoscha?“
„Manches“, sagte er. „Nicht alles. Manches ist entweder da, oder es ist nicht da. Und wenn es jetzt nicht da ist, wird es nie da sein.“ Er ging weiter, als würde Leda ihn nicht fester umschlingen. „Erinnerst du dich an den Tag, an dem ich sagte: wenn du mich wirklich willst, dann bekommst du mich restlos, aber bedenke, daß ich dich genauso restlos will –?“
„Natürlich erinnere ich mich, warum?“
„Wir hatten uns nie restlos, oder?“
Leda ließ ihn los. „Ich empfinde nicht so, nicht im mindesten, und ich weiß auch nicht, warum du immer so grundsätzlich wirst!“
Sie überquerten eine Holzbrücke. Herabgefallenes Laub bedeckte den Wassergraben wie eine gemusterte Decke. Ein paar Untote schwebten grinsend vorbei.
„Erinnerst du dich an den Tag, an dem ich sagte: ich verfluche jede Stunde, in der ich nicht weiß, was du fühlst, und wenn du das nicht mehr ertragen kannst, werde ich dich auf andere Weise lieben… und dich dabei verlieren –?“
„Jetzt aber genug davon! Wenn das dich quält – nun, dann sollten wir gleich morgen damit anfangen, eine Wohnung zu suchen! Ich erinnere mich nämlich auch daran, daß du einmal sagtest, du würdest erst zufrieden sein, wenn du Tag und Nacht mit mir zusammen bist!“
„Klang wie eine Drohung, was?“
„Nein, das klang sehr schön!“
Sie erreichten das Rondeau, auf dem einst Vierspänner zum Stehen gekommen waren, und Aljoscha betrachtete die wenigen erleuchteten Fenster des Herrenhauses wehmütig wie einer, der Wache halten muß die ganze Nacht und seine klammen Runden macht im Schmatzen nasser Erde.
Wenn man es pragmatisch sah, hatte Leda recht: lebten sie erst einmal zusammen, würden sich die Dinge leichter richten lassen. Aber das war eine A-Dur-Betrachtung der Dinge, und so wie die Dinge lagen, hieß das vor allem keine D-Dur-Betrachtung der Dinge, und da war schlechterdings kein Mittelding dingfest zu machen. A-Dur ist von kluger Diesseitigkeit, realistisch wie die Kornsieberinnen von Courbet. Mit zarter Sympathie für das Skurrile, aber niemals ungesund entrückt. A-Dur hat etwas Versicherndes. A ist für Akkommodation. Wenn D-Dur der Eingang in das Labyrinth ist, dann ist A-Dur der Ariadnefaden. A-Dur stellt sich zur Verfügung, räumt Steine aus dem Weg, reicht die Hand und stärkt den Rücken. Von A-Dur aus sind die Wege klar und deutlich. A ist für Apollon. Wenn D-Dur geschürte Spannung ist, dann ist A-Dur der beendete Schwebezustand, der Fuß auf dem Erdboden, das Erdende überhaupt, das Heimleuchten, das Klipp- und Klare, das durchaus Robuste, die kluge Entscheidung, die weisen Jungfrauen, der merkurische Verstand. A-Dur sorgt ganz unsentimental für Sachlichkeit. A-Dur, das sind die schnörkellos unterzeichneten Dekrete des Königs und die aus der Stadt gejagten Gaukler, Falschspieler und Hochstapler. A-Dur kennt nichts hinter den Dingen und steckt vier Pflöcke zum Quadrat.
Dagegen ist D-Dur die Frau auf einem Hügel, die Ausschau hält nach einem Reiter. Die Farbe, die im Regenbogen fehlt. Die Göttin, die nicht in ihrem Tempel bleibt. Eine Nacht aus unerklärlichem Licht. Der Schein hinter der Wahrheit hinter dem Schein. D-Dur ist der Blick zwischen Lancelot und Guinevere. Der nahe Atem einer nächtlichen Besucherin. Der schwarze Adler, der sich im All verliert. Ein Ruf in einer Schneelandschaft. Erinnerung an einen fernen Nachmittag, als ein Wispern war im Blätterrauschen. Vernichtung einer klaren Antwort. D-Dur behauptet: Mögliches kann niemals aufgehoben werden. Also ist Mögliches begründet durch unbedingt Notwendiges. D-Dur ist, was Felsen bröckeln läßt.
An den Fels, von dem es hieß, er würde niemals bröckeln, dachte Aljoscha, als der Kies der Einfahrt unter seinen Schuhen knirschte. Ein Tupfer fahlen Mondlichts erschien hinter den Wolken. Leda nahm Aljoschas Hand, doch etwas Schauerliches griff nach ihm.
In seinen vier Wänden angelangt benötigte Aljoscha dringend einen Energieschub: gut, daß er aus Musik Energie aufnehmen konnte, als wären Töne Kalorien; zur Not funktionierte das Kopfhörerkabel wie ein Infusionsschlauch. Der Mann der Stunde war Nick Cave, ehedem Sänger der Birthday Party, einer Combo, die so klang wie der eiskalte Samen des Teufels sich anfühlen mußte. Cave zog durch seine Texte wie ein Wanderprediger mit Dreck am Stecken zwischen Sumpfland, Strumpfband und Altem Testament. Sein Spießgeselle war jetzt nicht mehr der seltsame Rowland S. Howard, der mit seinen weinenwollenden großen Augen wirkte wie ein im Cabinet des Dr. Caligari Vergessener und von dessen Gitarre Georg Büchner sagte, daß sie wie ein offenes Rasiermesser durch die Gegend lief (man schnitt sich an ihr), sondern Blixa Bargeld, dessen luziferisches Gebrodel über Caves Lieder kroch wie eine Tarantel übers Bett. Kicking Against The Pricks und Your Funeral, My Trial von Nick Cave schärften den Sinn für die manische Unschuld der Obsession.
– Zeichnung von Heinrich Vogeler, Worpsweder Archiv
– Fairport Convention, A Sailor’s Life
– Artwork CE
– Artwork CE
– Nick Cave & The Bad Seeds, Kicking Against The Pricks, Albumcover
Was dann kam, war anders, unvorstellbar anders. Zunächst war nur Vibrieren, eine schaurige Präsenz, aus unendlichen Tiefen kommend, als Klang zunächst kaum hörbar; dann, so unerwartet, als würde eine Statue ihr steinernes Haupt bewegen, eine Stimme. Eine Frauenstimme. Eine Welt entfernt.
O MENSCH
singt sie und etwas regt sich, 2000 Faden tief, là-bas,
O MENSCH
auferweckt, beschworen,
GIB ACHT
unbeirrbar aufsteigend, höher und höher,
GIB ACHT
bis es an die Oberfläche kommt und auftaucht unter einem Purpurhimmel,
WAS SPRICHT DIE TIEFE MITTERNACHT?
schattenlos sich erhebend in unheimlicher Stille, unauslöschlich, unausweichlich – die Gestalt der Namenlosen, die namenlose Gestalt.
ICH SCHLIEF! ICH SCHLIEF!
Ihre Macht ist göttlich genug, um Blasphemie zu sein. Sie kennt ihre Opfer. Sie macht sich auf den Weg, um
AUS TIEFEM TRAUM
in tiefen Traum
BIN ICH ERWACHT
zu führen einen Erstgeborenen und ihn an vergessene Weisen zu erinnern, vergessene Seinsweisen, versunkene Kaskaden quälend süßer Töne, wie sie die Undinen singen.
DIE WELT IST TIEF
Die nunmehr Anwesende legt über ihn den Hauch des Abwesenden und spricht: „Du bist nur halb von dieser Welt.“
UND TIEFER ALS DER TAG GEDACHT
Sie schießt ihm eine Silberkugel durch den Kopf und spricht: „Unbedingte Liebe oder überhaupt nichts. Die Wurzeln sind abgeschnitten. Du wirst verdorren.“
TIEF IST IHR WEH
Sie schlingt die Arme um ihn, und ihre Augen sind Speere aus Licht, und sie spricht: „Aber eine Sehnsucht ist in dir, mächtig wie Tigersprünge, maßlos wie Prinzenwünsche, geduldig wie ein Reptil.“
LUST –
Sie peitscht ihn mit Ruten und spricht: „Sie rührt sich nicht. Doch sie ist hellwach. Und so viel älter als das Schlaflied, das die Welt ihr singt.“
TIEFER NOCH ALS HERZELEID
Sie zeigt sich in den Winkelspiegeln eines Kaleidoskops, in dem bunte Glassplitter zu Sternen werden, und sie spricht: „Schönbildschauer, meine Gunst ist ein Palast, mit hunderttausend Juwelen geschmückt. Lerne zu vergessen und tritt ein.“
WEH SPRICHT: VERGEH!
Sie steht in einem perfekten Kreis und spricht: „Glaubst du an die Möglichkeit des Ideals, das Seiende zu berühren?“
DOCH ALLE LUST WILL EWIGKEIT, WILL
Sie benetzt sein Auge mit einer Träne und spricht: „Du bist das Auge. Du bist der Schauplatz. Finde die eine Illusion, von der du vergessen kannst, daß sie eine ist.“
TIEFE, TIEFE EWIGKEIT
Morgenglocken lösten den Bann: der Traum verflüssigte, die Umgebung nahm ihren Platz wieder ein. Auch der Namenlose auf der Bühne rieb sich die Augen: er sah ein ätherisches weibliches Wesen – einen Engel. Jähe Lichtung. Kehre des Seins. Er näherte sich vorsichtig, und der Engel scheute nicht zurück, gab sich zum Pas de deux, zum Nichts als Zwei…
Oder war dies wieder nur ein Traum in einem Traum? Zur Schlußsequenz der Symphonie über schicksalsschweren Paukenschlägen schritt das engelhafte Wesen am Bühnenrand von rechts nach links, als müßte es die Parade der vom Schattenreich mit einem Gestellungsbefehl Versehenen abnehmen, schritt langsam von einem Ende zum anderen, von Kether zu Malkuth, vom Sein zum Woanderssein, von den Brettern, die die Welt bedeuten, zum Ausgang, von der Wirklichkeit zum Riß in der Wirklichkeit, von irgendeinem Hier zu irgendeinem Dort.
Und gerade so, als läge im Erscheinen dieses ätherischen Wesens nichts anderes als ein immerwährendes Urteil, das Unerreichbarkeit verhängt, sah der Namenlose aus der Ferne zu wie ein Gerufener, der doch nicht folgen kann, obgleich es sein Wille ist. Und mit einem letzten Blick in ihre unbewegten Augen fragte er sie – nichts. Er fragte sich, ob er sie wohl jemals wiedersehen würde. Und sagte stumm Adieu.
War dies das Ende? Oder schritt sie nur voraus auf einem Weg ins Folgenschwere, in eine wirkliche Geschichte, die vielleicht immer schon bestanden hat, als einzig mögliche? Es gab keine Antwort mehr auf diese Frage. Der Vorhang war gefallen.
Die Menge gönnte den Tänzern stürmische Ovationen, um sich dann doch recht eilig zu zerstreuen. Aljoscha sah sich um. Er hätte gerne noch auf irgendwas gewartet, doch er wußte nicht, worauf.
Oder auch nur Laute spielen und den Hals riskieren, wenn man in Gegenwart des dicken Fürsten Verse auf die Fürstin vortrug, nur irgendwo sein, wo noch eine Idee war und nicht nur Hühnerschiß. Was konnte in diesem Jahrhundert einer werden, der sich Lieben und Lernen auf die Fahne geschrieben hätte? Was galt einer, der darin Aufgabe genug sah? Wohin mit einem, der grimmig einen Fuß vor den anderen setzte zwischen Wohnblocks und Kaufhäusern und dabei dachte: Besser, Pferdeknecht zu sein an einem Mädchenpensionat, im Jahre 1900!
Freilich, es hatte diesen einleuchtenden Augenblick gegeben letztes Jahr, als er in Paris war und beim Sonnenuntergang im Jardin du Luxembourg von seinem Buch aufsah, weil es ihm plötzlich so erschien, als sei er eben an sich selbst vorbeigegangen mit den Worten: „Der da sitzt, das ist Aljoscha Tuschkin, der die Philosophie studiert und Leda Geltzer liebt“, und ein Glücksgefühl durchströmte ihn, weil alles auf so unfaßbare Weise richtig schien, diese Stadt, der Sonnenuntergang, der Park; das, was alle taten in diesem Park, und das, was er, Aljoscha Tuschkin, in diesem Leben tat.
Während er noch an diesen Glücksmoment dachte, spürte Aljoscha, daß da etwas näher kam aus einem Korridor. Sehr bestimmt und würdevoll, indes sehr langsam. Es war die leere Fülle einer Entität, und sie schien ein Zipperlein zu haben.
„Ähem“, machte die Entität. „Hörte ich Lieben und Lernen?“
„Jawohl! Zu lieben lernen und das Lernen lieben! Wissenwollen, Liebenwollen! Nicht wahr, das ist doch Philosophieren?“ rief Aljoscha.
„Liebenwollen? Hier in meiner Bibliothek?“
„Sind Sie nicht Herr Cosimo, der große Förderer der Künste? Der es Marsilio Ficino ermöglichte, hier in Florenz eine platonische Akademie zu gründen?“
„Nun ja. Kann sein. Ficino, sagst du?“
„Man hat etwas überaus Bedeutendes herausgefunden, Signore de Medici! Erlauben Sie mir, daß ich Ihnen davon Mitteilung mache. Philosophie, das heißt doch Liebe zur Weisheit. Und die Götter, Herr von Medici, die Götter philosophieren nicht. Denn sie sind ja weise. Nicht wahr, was soll man da philosophieren? Und die Liebe, was ist das? Besitzenwollen und zugleich das Gegenteil von Besitz. Sie stimmen zu?“
„Si, si“, gähnte Cosimo der Alte.
„Die Weisheit ist also bei den Göttern. Das Streben nach Weisheit ist Sache der Menschen. Und die logische Folge daraus ist: alles Philosophieren ist erotisch. Ich weiß, Sie wollen sagen, das ist keineswegs die logische Folge. Gut. Schön. Warten Sie… hier, Platons Symposion! Schlagen Sie es auf, Herr Cosimo, und berauschen Sie sich daran, wie Sokrates der Vorstellung, Eros sei ein Gott, den Wert einer zermatschten Weintraube beimißt. Eros ist kein Gott! Eros ist ein Daimon. Ein Zwischenwesen ganz einfach. Nicht irdisch, nicht göttlich, sondern dazwischenseiend, wissen Sie? Und zwar für immer. Und Eros ist so dazwischen, eben weil er das Göttliche begehrt. Das heißt, wo Eros wirkt, da ist das Irdische unterwegs zum Göttlichen. Das ist brillant, nicht wahr? Wie kann man da widersprechen? Eros strebt, weil er verlangt. Also ist das Streben erotisch! Das ist doch wohl die logische Folge! Wenn Eros uns antreibt, begehren wir Göttliches. Sie wissen das alles, Herr Cosimo, und Sie wissen, welche Macht es ist, die diesen Daimon anzieht. Die Schönheit! Schon in der Sphäre der Ideen, das sagt doch Platon, ist Schönheit die Idee, die glänzt wie keine andere. Ja, daß sie überhaupt glänzt! Wie kann eine Idee glänzen? Sie kann, sie muß! Damit wir uns an sie erinnern, wenn wir die Schönheit treffen, hier im Irdischen! Denn die Schönheit will, daß wir das Göttliche in ihr verlangen. Und nun, wenn wir begriffen haben, mein lieber Vecchio, daß die Schönheit so göttlich wie die Weisheit ist, was dann? Dann ist der ein Philosoph, den das Schöne – ich darf so sagen – erotisiert. Er strebt zum Göttlichen, ganz wie einer, der nach Weisheit strebt. Das hat man herausgefunden! Ist das nicht großartig? Philosophie ist erotisch, und Erotik, Herr Cosimo, ist Philosophie. Und nun erklären Sie mir, warum der große Sokrates behauptet, sein ganzes Wissen über Eros einer Priesterin mit Namen Diotima zu verdanken. Gar nichts soll das nicht sagen! Was für ein Zufall soll das sein, daß die Weisheit weiblich ist? Ist es vielleicht Zufall, daß Eva anfing, mit der Schlange zu verhandeln? Was, frage ich Sie, nimmt Eva aus dem Paradies mit? Einen nicht mehr einholbaren Vorsprung an Autonomie gegenüber diesem Obrigkeitshörigen, diesem Gesetzesfanatiker Adam. Ist es vielleicht auch Zufall, daß die schöne Hypatia, diese glänzende Philosophin aus Alexandria, gesteinigt wurde von einem christlichen Mob? Wie? Und daß Dante von Vergil durch die Hölle geführt wird, von Beatrice aber durch alle neun Sphären des Paradieses, vom Mondhimmel bis zum Kristallhimmel und zur Anschauung des Göttlichen, ist das auch Zufall? Die Frau ist das überlegene Geschlecht, Herr Cosimo, nur glauben das die meisten Frauen nicht. Dabei könnten sie dem albernen Treiben zusehen, als wären sie die Sterne, die alles schon längst wissen… Herr Vecchio, sind Sie noch wach? Hören Sie? Diese Hypatia, das war auch eine glänzende Mathematikerin, und die Schulpreise für Mathematik gingen nur deshalb lange nicht mehr an die Mädchen, weil die keine Lust hatten, gesteinigt zu werden! Aber das versteht sich doch von selbst, daß der stille Waliser den Heiligen Gral gefunden hat und nicht eine stille Waliserin! Oder glauben Sie an die Notwendigkeit, der Vollkommenheit Beine machen zu müssen? Oder eine Taille? Haben Sie gehört, wie Marlene Dietrich sagte: Hello, boys…?“
„Seltsamer Junge“, sagte Cosimo der Alte.
Aljoscha stand noch immer auf der Treppe der Laurenziana-Bibliothek. Etwas in ihm lag brach wie sibirisches Land, trotz des Sonnenuntergangs im Jardin du Luxembourg. „Aber wo fehlt’s denn bei Ihnen?“ schnarrte eine Sachbearbeiterstimme vom Schreibpult der Daseins-Verwaltungs-Angelegenheiten her, eine kleinlaut machende Stimme, der man nur antworten konnte: „Ja, wenn ich das wüßte“ und „Bitte die Störung zu entschuldigen“.
„Woran denkst du?“ fragte Leda.
In der Galleria del Costume kam der Geist über Leda. Sie bewunderte die alten Stoffe, den Schnitt früherer Moden, sie studierte die Qualität der Verarbeitung und ignorierte, Zeichen der Ekstase, zwei oder drei Berühren verboten. Ihr Entzücken war ein sachverständiges, und ein schwarzes Charleston-Kleid wurde nicht von einem lasziven Vamp mit Perlenkette und Zigarettenspitze vorgeführt, sondern von der weißen Puppe Nr. 40. Aljoscha aber beschäftigten solche Fragen: welche Contessa hatte einst diese unfaßbar zierlichen Handschuhe von ihren unfaßbar grazilen Händen gestreift? Auf welches Bein hatten diese Spitzenstrümpfe ein Ornament im spätgotischen Flamboyantstil gezeichnet? Erweiterte die eingeengte Taille das Bewußtsein?
„Ein schwarzer Seidenstrumpf ist wie eine Glasur“, erklärte Aljoscha ungefragt. „Eine Glasur aus Dunkelheit. Geschmolzene Dunkelheit. Die Dunkelheit geschmolzener Träume. Auf dem Bein wie Blattgold auf einer Ikone. Sakraler Glanz eigentlich. Die Haut unter dem Glanz wird unberührbar. Durch den Schutz betont, durch die Betonung geschützt. Stiefel aus göttlichem Lack. Schwarze Rüstung als bloße Idee.“
„Ein Seidenstrumpf ist ein Kleidungsstück, Aljoscha.“
„Festgezurrt wie das Jagdkleid der Artemis! Schwarzes Licht, das sich über einen Schenkel ergießt! Unterweltsgöttinnenhülle!“
Pjotr, der sonst zur Not mit dem Teufel nach Rom gefahren wäre, war wirklich mit den Nerven zu Fuß und beschloß, in der Spelunke gegenüber den Schrecken mit ein paar Gläschen einzulullen; später am Abend rief er nochmals an, ein paar Wattebäuschchen im Mund, aber wieder halbwegs versammelt, und als er Aljoscha den Fortgang seiner Arbeit schilderte, sah er wieder klar:
„Ich werde in den Kopf der Sphinx ein blaues und ein rotes Auge setzen! Blau für die Unendlichkeit… die Ewigkeit… das Absolute. Rot, die Liebe. Aber in dem Dings, in der Zone, in dem Spannungsfeld der Projektionen können sich Blau und Rot für den Betrachter zu Violett vermischen, der Farbe des Todes…“
„Je nachdem, wie man sie ansieht“, meinte Aljoscha, „führt die Sphinx also in Verzückung oder ins Verderben.“
„Genau!“ schrie Pjotr. „Es kommt darauf an, wie man vor sie tritt! Der Blick ist es, dein eigener!“
Der Blick ist es, dein eigener.
Was ganz nah vor Augen ist, verschwimmt – man kann es nicht mehr deutlich sehen. Der Blick, der die Welt erfaßt, trennt den Sehenden von ihr: Sehen heißt, Distanz zu schaffen und Entfernung. Der Blick bringt zur Strecke. Er gleitet über Außenseiten. Er weiß nichts von der alten Rastafari-Parole Distanziere kein Objekt. Er sieht eine spanische Wand neben der anderen. Jedes Ding hat mehr als eine Seite, mehr als zwei, mehr als die Seiten, die es Phänomen sein lassen, und selbst wenn man unentwegt die Stellung ändert, kann man nicht das ganze Ding, das Ding an sich sehen. Könnte man es, wäre das Ding nicht mehr das Ding, und man selbst wäre nicht mehr man selbst. Man kann es aber nicht, und darum ist Sehen ständiges Nachsehen. Nichts paßt in einen Augenblick, nur eins: ein anderer Augenblick.
Denn Blicke, die sich treffen, setzen Zeit und Dauer und Entfernung außer Kraft: ein exklusiver Stromkreis wird geschlossen, der in der Realität einen Kurzschluß auslöst. Während das Auge die Welt vergeblich zu penetrieren versucht, dringt durch das Ohr die Außenwelt ins Innere, behauptet man; darum sei Hören ein Verschmelzen mit der Welt. Aber, dachte Aljoscha, durch den Lichtstrahl des Augenzaubers gelangt doch auch das Innerste nach außen; also ist der Blick auch Hingabe. Die Pupille, die von Verengerer und Erweiterer verstellte, von der Iris umkränzte Blende, ist auch eine Austrittsstelle, durch die ein Universum hinaus stößt, eine Innenwelt, die sich wie nach einem Urknall ausdehnen will. Im Blau des Auges – wenn die Iris kurzwellige Strahlen besser reflektiert als langwellige – oder im Grün oder im Mandelbraun erscheint ein Lebenslauf, als würde Seele schimmern auf der Netzhaut. Träume, Hoffnungen, Enttäuschungen, Erinnerung, Verlangen, Warnung, Hilferufe: jedes Auge leugnet, von tief innen her, das unsäglich banale Urteil. Die Augen sind die Wunden auf der Haut der Welt. Das Auge ist der ganze Mensch, nur darum funktioniert der böse Blick – vorgestellte Inbesitznahme.
Der Blick ist nicht nur Wahrnehmung, er ist auch Wahrgebung, nicht nur Aufnahme, sondern auch Abgabe von Realität. Zwei Menschen, die sich ansehen, wirklich ansehen, dringen ineinander ein, schließen die Umgebung aus wie bei einem Liebesakt und liefern sich einander völlig aus. Wer blickt, ist nicht nur Voyeur, er ist auch Exhibitionist. Erblickt zu werden mag Scham verursachen, zugleich aber ist man sehend schamlos. Nicht etwa, weil der Blick entkleidet, Rundungen umrundet oder sich an einen Rocksaum heftet. Sondern, weil es sich beim Sehen überhaupt um etwas handelt, das plötzlichem Mantelaufreißen durchaus gleicht: ich blicke, also offenbare ich mich.
Sehr recht hatte Pjotr. Es kommt darauf an, wie man vor die Sphinx tritt.
Es war der 3. Oktober. Aljoscha begehrte zu erfahren, was aus der Bestellung jener Schachtel geworden war, die er Leda zum Geburtstag hatte schenken wollen, und begab sich um die Mittagsstunde zum Geschäft Schachtjor & Wostvich, wo sich eine Dame des Problems annahm.
„Wie ist Ihr Name, bitte?“
„Tuschkin.“
„Einen Augenblick, Herr Tuschkin. Ich werde nachsehen.“
Aljoscha wartete und
I REMEMBER HOW THEY USED TO STARE AT THE GROUND
schaute auf seine Schuhe. Steckte die Hände in die Hosentaschen und kratzte mit der Schuhspitze auf dem Parkett herum. Und dann stand plötzlich das Wasser bis zum Hals.
Der Klang von hohen Absätzen. Schritte einer Frau, die sich niemals umdreht. Aljoscha erkannte sie. Für diesen Takt hatte er das absolute Gehör. Durch den Laden schritt die Katzenmenschenfrau, die Sphinx, die mysteriöse Schöne, die an den Rembrandt-Tagen im Saal C seine ewige Wiederkehr beobachtet hatte. Das heißt, hatte SIE? Oh Jesus. SIE ging, als hätte SIE nicht viel dagegen, wenn am Karfreitag eine Kirche brennt. SIE kam auf ihn zu. Er schaute wieder zu Boden. Und dann ließ er seinen Blick nicht langsam aufwärtsgleiten, sondern feuerte ihn ab
AND WE’D SING DA-DA DA-DA-DA-DA DUM DUM DAY
wie ein Geschoß. Fast unmerklich hob SIE die Augenbrauen und gab Erkennen zu erkennen. Trotz IHRES entschlossenen Schrittes war in IHREM Blick ein Anflug von Verwirrung, wenn nicht Erschrecken – mit eigenen Augen bat Aljoscha um Verzeihung, falls sein Blickgeschoß IHR einen Schock versetzt hatte, mit eigenen Augen sah er, daß SIE die Entschuldigung annahm. Sogleich wich das Erschrecken – das gewiß nur fürchtete, daß man es bemerkte – wieder vollkommener Beherrschtheit. Nichts anderes würde jetzt passieren, als daß La Belle Dame ihn kühl und streng passierte, sans merci, ohne IHREN Gang zu verlangsamen, ohne ein Zögern, das ihm gegolten hätte. Und es passierte, als könne nichts und niemand sich in IHRE inneren Angelegenheiten mischen, als verließe SIE gelangweilt den Zirkus der gequälten Seelen, unterwegs, den Untergang des Hauses Luzifer herbeizuführen.
Er sah IHR nach, gebannt noch von den Lichtblitzen in IHREN Augen, von IHREM Blick, in dem These und Antithese lagen, Interesse und Gleichgültigkeit, Neigung und Unerbittlichkeit, Gunst und Grausamkeit. Auf welch Synthese war dies aus? Was schenkte dieser Blick? Hundert Rätsel und eine Gewißheit: er hatte existiert darin.
Er blickte erneut zu Boden, wohl eine halbe Minute, um IHR, falls SIE ihn über das Gestell mit den Aquarell- und Zeichenblöcken hinweg musterte, zu bedeuten, daß durch IHR Erscheinen Schachtjor & Wostvich und überhaupt der ganze bewohnte Teil der Galaxis für ihn zur Banalität geworden war, Nippelkram, des Hinsehens nicht wert.
Herr! Laß Nachsicht walten!
Er zählte bis Sieben, dann mußte er seine Augen wieder mit IHREM Anblick füllen – und fast zeitgleich schenkte SIE ihm einen Augenaufschlag, in dem die Rosen sich für ihre Dornen schämten. Daß er nie mehr fürchten mußte, von IHR nicht gekannt zu werden, war es das, was SIE ihm nachsichtig bestätigte? Zurück auf Gottes Meisterplan rief die Verkäuferin mit weithin schallender Stimme:
„Herr Tuschkin?“
„Hier!“
„Ich habe nachgesehen!“
Ich habe nachgesehen, dachte Aljoscha, als er Schachtjor & Wostvich verließ mit der Gewißheit, daß die Katzenmenschenfrau jetzt seinen Nachnamen kannte.
– Gustav Mahler, Sinfonie Nr. 3, Misterioso
– Sandro Botticelli, Porträt einer jungen Frau (Simonetta Vespucci), Detail
– Foto CE
– Artwork CE
– Artwork CE
NOW WHEN I LOOK AT MY TV
THESE ARE THE WORDS I SAY:
?$*&#! ?$*&#! ?$*&#!
Aljoscha wechselt das Programm und holt den Ton zurück; hier beginnt soeben ein Schwarzweißfilm aus dem Jahre 1942. Zu romantischer Streichermusik mit drohendem Beiklang erscheinen die Worte: Laß keinen sagen, daß du schuldig bist, wenn das, was schön war, jetzt verdorben ist.
Aljoscha löscht das Licht.
IT’S BEEN SO LONG
Es ist die Geschichte einer Frau mit einem gefährlichen Geheimnis. Sie stammt aus Serbien und sie lebt in New York. Sie ist eine Fremde, sie gehörte noch keinem. Sie liebt die Dunkelheit und sie scheint Schatten um sich zu versammeln. Manchmal bilden sich in ihrer Nähe Schattenlinien, die wie Gitterstäbe aussehen und andeuten, daß sie in einem unsichtbaren Käfig lebt. Ihre Einsamkeit ist freiwillig. Denn sie glaubt, mit einem Fluch belegt zu sein. Wehe dem, der ihr Tabu bricht. Ihr Kuß bringt unheiligen Schrecken. Sie weiß, daß sie nicht lieben darf. Sie weiß nicht, daß nur Liebe sie erlöst. Und wenn sie einmal liebt, ist sie anders als die anderen, unvorstellbar anders… sie ist überzeugt, von einem dunklen Geschlecht abzustammen, dessen Frauen in alter Zeit durch teuflische Kulte die Anlage entwickelt haben, sich in Raubkatzen zu verwandeln, sobald heftige Leidenschaft sie erfaßt – grotesker Aberglaube, befindet der Mann, der sich in Irena Dubrovna verliebt.
Aber die Aura dieser seltsamen Schönheit setzt ihm zu: er spürt die sinnliche Wärme und Weichheit eines anschmiegsamen Kätzchens, doch er glaubt nicht an das Ungeheuerliche in ihr. Als er sich dann, verstört von den Ängsten und Nöten dieser Frau, die glaubt, daß etwas einen Zwang auf uns ausübt, dem wir zum Opfer fallen müssen, einer nicht so komplizierten Freundin zuwendet, ist er blind für die Qual des ruhelosen Raubtiers. Abgewiesen, für verrückt erklärt und in ihre Einsamkeit zurückgestoßen, erfährt Irena, wie es wirklich zum Exzeß einer ihrer Leidenschaften kommt: Eifersucht.
Das graue, enggeschnittene Kostüm. Die hauchdünnen Nahtstrümpfe. Hohe Absätze auf dem nächtlichen Asphalt. Aber dann – jemand löscht das Licht, und dann – ist nur noch das Fauchen am Rande des Schwimmbeckens zu hören, hallend durch den Raum, durch die Zeit, Echo des fatalen Fluchs, Generationen und Generationen und die unentzifferbare Wahrheit des Schauerlichen, alles Mögliche heraufbeschwörend, vor allem das Unmögliche. Und jene, die auf die Zeichen treffen, können dem Verstand nicht länger trauen. Sie können nur noch hundert Rätsel zu einer Gewißheit zusammenfügen: „Irenas Parfum… schwer und süß…“ – dort, wo eben noch ein schwarzer Panther schlich.
Vielleicht erzählte der Film davon, wie unkontrollierbare Mächte uns treiben. Vielleicht war es ein Film über die Blindheit vor dem wirklich Außerordentlichen. Aber vielleicht handelte er auch einfach davon, wie schwer es ist, jemanden zu finden, der einen wirklich liebt.
Der Film hieß Katzenmenschen.
Am nächsten Morgen, nach Träumen schwer und süß, befindet sich Aljoscha in einem langen Korridor. Das Haupt-Gebäude, die Baukunst des Bewußtseins, muß von unermeßlicher Größe sein. Äußerst erstaunliche Architektur voller absurder, barocker, widersinniger, labyrinthischer, der Logik spottender und alles in allem doch wieder klarer Konstruktionen, die jedes Wort in Schweigen und jedes Schweigen in ein Wort verwandeln können. Das Echo ist eine Frage des Standpunkts. Die Begegnung ist eine Frage der Zeit. Die meisten Wände sind mit Erinnerungsfetzen tapeziert. Durch die Hallen und die Gänge, in den Zimmern und geheimen Winkeln spuken flüchtige Phantome. Der Gedächtniswärter schwingt die Peitsche und treibt Bilder aus der letzten Nacht in der Haupthalle zusammen:
Aljoscha hatte geträumt, daß er der Plündertruppe eines martialischen Hauptmanns angehörte. Sie waren eine Fünferbande: vier Schurken und eine verwirrend schöne Frau. Die Mätresse des Hauptmanns, sagten sie. Etwas Sonderbares war an ihr, etwas nicht ganz der Natur Entsprechendes, etwas unmenschlich Geschmeidiges, unwiderstehlich Betörendes und doch Ungesundes. Aber vor allem schien es, als wäre sie zum Sterben unglücklich. Sicher mißhandelte der Hauptmann sie! Aljoschas Zorn verlangte Meuterei und Rache. Und dann, nach einer sehr gelungenen Plünderei bei einem Fronvogt, hatte die Frau im Schutz des wilden Räuberfestes heimlich ihre Lippen, ihren Kuß auf seine Qual gepreßt. Aber nicht heimlich genug.
Reflexion der Sonne auf der Klinge eines Schwertes. Aljoscha stand auf einem Felsen, und weil er ohne Waffe war, rief er dem säbelrasselnd heranstürmenden Hauptmann entgegen: „Sie ist keine Mätresse!“ Denn das war die Wahrheit und alles, womit er kämpfen konnte. Da löste sich der Fels in Geröll auf; immer mehr Steine kamen unter Aljoschas Stiefeln ins Rollen, und schließlich verlor er den Halt. Es war der Fels, von dem es hieß, er würde niemals bröckeln.
Aljoscha trank nachdenklich seinen Morgenkaffee. Nachdenklich wie alle Peitschenschwinger, wenn sie Pause machen.
Bald darauf befand er sich in einem anderen Korridor, einem Korridor des Hauptgebäudes der Universität von A***. Man schrieb die dritte Semesterwoche, und Aljoscha wartete auf den Beginn eines Vortrags über Rembrandt. Mit keinem der Kunstgeschichtler recht bekannt, achtete Aljoscha kaum auf die Ankömmlinge. Er stand vor Hörsaal C, der sich zusehends füllte, stand an die Wand gelehnt, stand im Gemurmel, das wie Stille war, dachte an seinen Traum, dachte an den Fels, von dem es hieß, er würde niemals bröckeln, schaute auf seine Schuhe, und dann dachte er an nichts mehr. Es war der Vormittag des 29. April.
Plötzlich waren Schritte. Sie kamen näher, waren anders, unvorstellbar anders, sie waren nicht wie Korridorgeräusch, sie veränderten Aljoschas Wahrnehmung. Es waren die Schritte einer Frau. Aljoscha starrte auf den Boden und hörte auf den Takt. Es war der Klang von hohen Absätzen. Die Begegnung ist eine Frage des Standpunkts. Das Echo ist eine Frage der Zeit.
Aljoscha starrte noch immer auf den Boden, sah die hohen Absätze, sah die Schritte aus dem Jahre 1942, elektrisiert bis in den letzten Nerv, in schmerzend heller Hörigkeit. Er kannte diese Schritte und erkannte diesen Takt. Er wußte es. Ohne zu wissen, was er wußte.
SEE THESE EYES SO GREEN
Endlich hob er den Blick und sah das Wesen: die Frau hatte Saal C betreten und schickte sich an, die Treppe hinabzusteigen. Sein Blick fiel wieder abwärts, hinab an einer Naht: die Frau trug hauchdünne Nylonstrümpfe. Sie trug ein enggeschnittenes Kostüm. Es war grau.
Eine Sekunde der Kataplexie, und Aljoscha schloß die Augen. Tausend Impulse jagten unkontrolliert durch sein Bewußtsein und machten den Krach von tausend Kollisionen. Allgegenwärtiges Wissen verdichtete sich an einem dunklen Punkt. Sieben Nadeln steckten in einer Wachspuppe. Ein drittes Auge schwebte durch den Korridor. Es überwachte den linearen Verlauf einer kausalen Kettenreaktion. Dominosteine, hochkant aufgestellt zu einer langen Kolonne: sobald der erste Stein kippt, besteht auch für den letzten Stein schon keine andere Möglichkeit mehr, als ebenfalls zu kippen. Die Art von Kausalität jedoch, die Aljoscha gerade heimsuchte, hatte jemand mit einem ziemlich verdächtigen Besenstiel umgerührt.
Aljoscha wußte, daß er der Frau folgen mußte. Er wußte, eine andere Möglichkeit hat nie bestanden. SIE war erschienen. Also mußte er IHR folgen.
I CAN STARE FOR A THOUSAND YEARS
Aljoscha betrat den Hörsaal und sah das Haar der Frau in der Unterwelt des Auditoriums leuchten. Er hatte dieses Haar schon in der letzten Nacht gesehen. Alles beginnt und alles endet zur richtigen Zeit am richtigen Ort, sagte das Mädchen Miranda beim Picknick am Valentinstag. Zwei Treppen teilten das Auditorium, dessen Sitzreihen wie bei einem Amphitheater zur Bühne hin abfielen. SIE hatte einen Platz im rechten Saaldrittel gewählt, weit unten.
Als Aljoscha die Treppe hinabstieg, fühlte er sich wie eine Marionette, die panisch an den eigenen Fäden zieht; sein Gang erschien ihm ruckartig und steif. Auf halbem Weg zu IHR überkam ihn Schauder vor der Realität: sein Abstieg hatte plötzlich etwas gefährlich Definitives. Er erreichte die Unterwelt mit dem Gefühl, etwas definitiv Gefährliches zu tun. Er sah jetzt, daß SIE die graue Kostümjacke ausgezogen hatte. SIE trug eine schlichte weiße Bluse. SIE saß betont aufrecht, und IHRE Haltung schien
IT’S BEEN SO LONG
fast so etwas wie Erwartung auszusprechen… aber hatte SIE ihn überhaupt wahrgenommen, vor einer Minute, als SIE an ihm vorbeigegangen war? Was tat er hier? Zurück, bevor die Welt von Farbe auf Schwarzweiß umschaltete!
Zu spät. Aljoscha, der jetzt kurz zögerte, war in IHRER Nähe angekommen; mit der Geschwindigkeit einer Wolke, die am Mond vorbeizieht, wandte SIE sich ihm zu. Für den zehnten Teil vom zehnten Teil einer Sekunde meinte Aljoscha, in diese Augen nicht zum ersten Mal zu schauen. Wissendes lag in IHREM Blick, und Seltenes; es war, als durchschaute dieser Blick den Zufall, ja, es war, als würde SIE sich lediglich eines Kennzeichens vergewissern, um noch im selben Sekundenbruchteil
JUST BE STILL WITH ME
YOU WOULDN’T BELIEVE WHAT I’VE BEEN THROUGH
vollkommene Geheimhaltung zu verhängen.
In der Welt, an die sich Aljoscha in diesem Augenblick nur bruchstückhaft erinnerte, wäre es wenig schicklich gewesen, sich direkt neben SIE zu setzen. In dem Zustand, in dem Aljoscha sich in diesem Augenblick befand, schien überhaupt keine Handlung sinnvoller als eine andere. Jedenfalls tat er instinktiv noch einen Schritt, war somit eine Reihe tiefer angelangt, schon fast zu ebener Erde, und landete auf einem Platz fast unmittelbar vor IHR. Damit war für die nächste Stunde besiegelt, daß kaum einen Meter entfernt IHR Atem ging, IHR Blut pulsierte und die feinsten Vibrationen IHREN roten Mund durchzuckten. Heiliger Boris und Gleb.
Die Philosophie ist eine Königin, und die Königin ist auf Entzug. Der Stoff, den sie braucht, heißt Welt und ist kaum noch zu haben, zumindest nicht in reiner Form. Oft schießt sie sich verschnittenes Zeug, deliriert dann süße Idealismen oder wird sehr sinnlich.
Das Abendland wird es bereuen, sie entthront, geschändet und entehrt zu haben. Mißachtet wie Kassandra und wie eine Sklavin auf den Weltmärkten verhökert, zu Schandarbeit und Hurendienst gezwungen mit Krämerseelen und Banausen, schließlich in Vergessenheit geraten bei raffgierigen Ministern und Geschäftemachern: wer noch mit ihr wandert, weiß um die Tiefe ihrer Trauer. Einst, vor langer Zeit, hat sie die Mächtigen erzogen, sie vor das Abbild eines Bettgestells geführt, und wem sie ihre Lust nicht gab, der konnte sich sein Sein nur noch erzweifeln. Sie hatte Legionen in den Armen, und jedem einzelnen versuchte sie zu zeigen, was heilig und was Humbug ist, was lebenswert und was Lappalie, was Plunder und was Privileg. Alle kamen, um ihr zuzuhören, jedem gab sie eine innere Stimme.
Jetzt ist sie die Traumbraut der Verlorenen. Wer ihr nahe ist, weiß sich in weiter Ferne. Manchmal spricht sie leise vor sich hin wie eine Wahnsinnige mit verlassenen grauen Augen, sie friert immerzu wie eine erkältete Venus, ihr Lächeln ist bitter, und doch ist sie von atemberaubender Schönheit, sie ist wie die eisige Stille eines Gebirgssees. In der Frühe geht sie abstrahieren, öffnet das Fenster der Monade, grüßt den Außenposten GOTT mit eudämonischem Lächeln und kocht sich dann auf dem Realgrund eine kleine Stärkung aus Substanz und Attributen. Dann jagt sie falsche Dualismen wie Kätzchen vor die Tür, legt zuhandenes Zeug in Zeitlichkeit, führt den wilden Zufall an der Leine durch das Reich der bestehenden Kausalgesetze und flüstert dabei Dinge wie: „Kleine abweichende Handlungen tun not, ganz besonders in der Morgenröte.“ Oft geht sie zum Fluß der Dinge, um zu sehen, wie alles fortgetragen wird, dann fängt sie an zu weinen – ach, ihr Schluchzen, wenn sie glaubt, daß niemand sie hört!
Ihr Herz ist das einer Verbannten, doch sie selbst hat nie ein Herz verbannt. Sie hat keine Antworten, dafür schenkt sie Fragen. Jedes ihrer Worte verändert die Perspektive, aber keines ihrer Worte läßt sich verifizieren. Luzide Schleier kleiden sie, gewoben aus Disposition oder aus Kaprice, mal Spinnstoff, mal manieristische Masche, aber immer im Stil der Zeit – man wird entweder sehr aufgeregt oder Metaphysiker. Wie könnte sie nicht das Objekt der Begierde überspannter Nachtschwirrer sein? Sie ist, was die Stoiker ein „blondes Gift“ nannten. Schon im ersten Semester seines Dienstes durfte Aljoscha die raffiniert geschnürten Bänder des logischen Korsetts lösen, in das sie ihren aufreizenden Körper hüllt… welch Adel! Welch Anmut! Welch ganzheitliche Bewandtnis! Sie sagt, sie wird auf ihren Thron zurückkehren. Sie wartet auf Verstärkung; sie sagt, eine noch unbekannte Armee wird kommen.
Kurzum, als Student der Philosophie gehörte Aljoscha Tuschkin zu den Hofnarren der Universität. Wo die Philosophie nicht überhaupt als Gebrechen galt, betrachtete man Studentinnen und Studenten dieser Fakultät als irgendwie dubiose Subjekte, die einer völlig brotlosen Kunst nachgingen und darin offenbar eine perverse Befriedigung fanden.
Faszination ist ein Wort aus dem Lateinischen, wo es Behexung meinen konnte, oder auch Beschreiung. Einer Faszination unterliegen kann demnach bedeuten, daß man behext wird, oder aber: etwas wird beschrien. Im Sinne von: Beschreie es nicht.
Pjotr durchmaß seine Faszination, bis der noble Mond sich keusch verhüllte hinter Wolkenschleiern. Und Aljoscha hörte Pjotr zu, wie man früher auf den Plätzen den Propheten zuhörte. Und dann zurückging in das Haus, wo wenig Wasser war. Wo ständiges Besorgen keine freie Hand ließ. Aber Wehmut war gekommen in das Haus. Und sie fragte, wo Faszination geblieben sei. Und Aljoscha sprach, daß er sie weggegeben habe. Und Wehmut fragte, wohin weggegeben. Und Aljoscha sprach, daß Faszination an einen Stein gebunden sei und im Meer versenkt, 2000 Faden tief. Und Wehmut fragte: warum so? Und Aljoscha sprach: weil mein Ort auf dieser Erde nur bei Leda ist, und weil ich dies besiegeln wollte. Und Wehmut fragte: wann hast du dies verstanden? Und Aljoscha sprach: als unser Weg schon so lang war, daß er mir schien wie ein heiliger Fluß. Und Wehmut fragte: bist du darum von den anderen so weit entfernt wie eine Nacht in Babylon vom Licht? Und Aljoscha sagte: ja. Und Wehmut fragte: hast du darum diese Augen? Und Aljoscha sagte: ja. Und Wehmut fragte: kehrt sich darum deine Seele ab von allem, was vor deinen Augen ist und nicht Ledas Namen trägt? Und Aljoscha sagte: nein. Und Wehmut fragte: wie also? Und Aljoscha sprach: alles, was vor meinen Augen ist und nicht Ledas Namen trägt, ist wie ein Bild. Und Wehmut fragte: wie ein Bild nur? Und Aljoscha sprach: wie ein Bild nur und sonst nichts. Und Wehmut fragte: von welcher Art ist dieser Makel deiner Augen? Und Aljoscha sprach: daß sie blutleer saugen, das ist der Makel meiner Augen. Und Wehmut fragte: nur in Leda läßt du Blut? Und Aljoscha sagte: ja. Und Wehmut fragte: und bist du Ledas Blut? Und Aljoscha sagte: ich verstehe deine Frage nicht. Und Wehmut fragte: bist du verloren, wenn sie dich verliert? Und Aljoscha sagte: weiß ich denn, was Unbehextseinwollende beschreien?
Im hohen Mittelalter hätte Leda an Tapisserien gearbeitet, von früh bis spät und dann von spät bis früh die Fehler anderer Stickerinnen ausbessernd. Ihr Pflichtbewußtsein war aus Erz und Stahl gemacht, wenn auch stets durchsetzt mit einer Spur von Kummer, und manchmal litt sie arg am eigenen Ethos. Wenn sie sich einer Sache widmete, dann mit einzigartiger Hingabe, aber ihr Wille, sich zu widmen, mußte sich stets dagegen wehren, ausgenutzt zu werden; ebenso haßte sie es, sich gleichzeitig verschiedenen Dingen widmen zu müssen. Nicht, daß die Dinge deshalb ihr Unternehmen abgeblasen hätten, Leda das Gefühl zu geben, in einem ständigen Belagerungszustand zu leben.
Diese Belastung wog um so schwerer, als Leda ihren Eindrücken oft zweimal ausgeliefert war, einmal in der Realität und dann kaum weniger intensiv nochmals im Geiste, wo sie durch das unabänderlich Gewordene ging, um es an seinen nicht mehr zur Verfügung stehenden Varianten zu messen. Jeder neue Morgen fand sie noch halb im Gestern, jeder Tag stieß an ein geschlossenes Visier, hinter dem ein zweifelnder Blick nach innen sah.
Dann aber wurde das Visier geöffnet. Dann war da dieses Lächeln: nicht blendend wie eine Sonne, die keinen Schatten mehr wirft, sondern milde Septembersonne, die einen Herbstwald vergoldet. In diesem Lächeln war immer eine Art von überraschter Rückkehr in das, was so war, wie es war. All ihre Freundinnen nannten sie Prinzessin, und all ihre Freundinnen hatten Leda zu Konzessionen an das Irdische verführt.
Leda machte Abendessen zu Stilleben an Earl-Grey-Sonntagen, und wenn man sie nach der höchsten Zahl fragte, die sie kannte, sagte sie: „Einstein.“ Sie sah gern die kleinen Lämmer gähnen auf dem Deich, wo sie mit Aljoscha oft spazierenging. Sie hielt Aljoscha für ein wenig weltfremd, und Aljoscha hielt die Welt für weltfremd. Sie konnte erschreckend sein, wenn sie widersprach, und sie konnte erschrecken vor Rechtgeben. Einmal hielt sie Aljoscha vor: „Immer, wenn du von einer Frau sagst, sie sei schön, sieht sie ganz anders aus als ich!“ Und er sagte, daß er sich nie mit einer anderen Frau die langen Wimpern ihrer Tochter vorstellen wird.
Nadelstiche, die Vergangenheit zusammennähen: dazu war Leda wohl berufen. Doch sie traute diesem Frieden noch nicht recht, traute keinem Frieden so wie andere, wenn sie ihn denn finden; sie fühlte sich nicht nur durch Prüfungen geprüft, nicht nur durch Orpheus, das ganze Leben war ihr ein Textil, an dem es viel und oft zu viel auszubessern gab. Zu ihren schwersten Lasten zählte es, daß alle glaubten, sie trage Lasten leichter als die anderen. Das Gefühl, ihr eine Last zu sein, war eine Altlast für Aljoscha. „Ich würde all das niemals durchstehen ohne dich“, das sagte sie ihm manchmal; den Verdacht, den er zuweilen hegte, nämlich daß sie all das besser durchstehen würde ohne ihn, forderte ein solches Gelöbnis zwar tapfer zum Duell, doch die beiden Kontrahenten erschossen sich nur immer gegenseitig.
Wenn Leda bekräftigte, daß nur er der Drachentöter war, daß nur er die Waffe gegen ihre Sorgen hatte, war er nie ganz sicher, gegen was er eigentlich kämpfte, und seine Erfahrung darin, Ledas Kummer zu verursachen, gab ihm das Gefühl, daß er mit verrutschtem Heiligenschein gegen die Drachen antrat. Und im Heim für Drachentöter wartete ein kleiner weißer Wurm auf ihn, der boshaft fragte, warum er nur der Sorgendrachentöter war, hoho, ho. Was für ein Märchen das denn sei, wenn die Jungfrau unmittelbar nach ihrer geglückten Befreiung auf die Armbanduhr blickt. Wenn seine Liebe stark genug war, um Leda wiederherzustellen für einen neuen Tag, dann war sie zu schwach. Sie sollte Leda ohnmächtig hinsinken lassen. Sie sollte nicht das Riechsalz sein, sondern das, wonach man Riechsalz braucht.
– Cat People, 1942, Regie Jacques Tourneur, Collage CE
– Giovanni Battista Piranesi, Carceri d’Invenzione
– Holzschnitt aus Frans Masereel, Die Stadt
– Edward Burne-Jones, The Briar Rose Series – Study for The Garden Court
– La Dame à la licorne Tapestry, Detail
Foto © Christian Erdmann
Juni 2019
Foto © Christian Erdmann
SPIEGEL ONLINE Forum
„Literatur – Was lohnt es noch, zu lesen?“
03.06.2008
Ty Coon:
Einen, der einen sehr gefühlvollen Umgang mit unserer Sprache pflegt, der auch wirklich etwas zu sagen hat, haben wir übrigens in unserer Mitte: den geschätzten Aljoscha.
05.06.2008
ray05:
Jetzt mal abgesehen von den Verrenkungen Ihres Verlegers; erzählen Sie wirklich das Unsagbare? Sagen Sie JA und ich werd’s kaufen.
06.06.2008
Pnin:
Mindestens jedenfalls das nur-sehr-schwer-Sagbare. Und das mit leichter Zunge :)
Ty Coon:
Einerseits fühlte ich mich von Erdmanns Sprache angezogen, weil sie wirklich etwas Neues im deutschen Blätterwald darstellt, als hätte sich ein wunderschöner Quetzal in die norddeutschen Wälder verirrt, andererseits von dieser Zitat-, Metaphern- und Aphorismenwut etwas verprellt.
An diesem Buch ist vieles besonders. Es ist das erste in Eigenregie gedruckte Buch, ein überaus ambitioniertes zumal, das den Weg in meine Wohnung gefunden hat …
Aljoscha der Idiot / Christian Erdmann:
Entweder kann man mit dem Roman rein nichts anfangen oder er steigt in persönliche Lieblingslisten auf. Unglücklich macht mich so eine Konstellation nicht gerade. In die schlimmste Hölle kommen bekanntlich die Lauen.
easystreets:
Ich habe nur Auszüge gelesen und mich dagegen auf Aljoschas Webseite etwas umgetan. Mein eins-Komma-zweiter Eindruck war von sowohl der auf der (zum Buch eigentlich dazugehörigen) Webseite vorgestellten Musik wie der Stilisierung wie der Thematik: Ach das meint er! Da hat er sich aber ein schwer zu fassendes Thema ausgesucht und das zur heutigen Zeit, wo ja nun grad gerade da herum a) ein Bogen gemacht wird oder b) es wie nur unwirklich zu existieren scheint oder c) man ja nur scheitern kann mit. Aus c) ließe sich schließen, dass Aljoscha der Idiot nur der eine Teil der Geschichte ist, und zwar sowohl inhaltlich als auch sprachlich für den Autor.
ray05:
Jetzt verrat nicht alles. Will mir grad das Buch besorgen. ;)
easystreets:
Einen Teufel werd ich tun! Ich träte in die Bärenfalle zudem.
Monika Cate:
Keine Sorge. Selbst nach dreimaligem Lesen entdecke ich neue Zusammenhänge, die in meinem Kopf erst entstehen. Das schafft selten nur ein Film, selten nur Musik, selten nur ein Gemälde. Das macht einen Künstler aus für mich, er führt mich in seine Welt, ich entdecke meine eigene und nichts ist mehr wie vorher. Nehmen Sie sich Zeit, es lohnt sich.
07.06.2008
BerSie:
Ich besitze das Buch seit etwa einem Jahr.
Persönlich fand ich dieses bemerkenswerte Buch äußerst lesenswert, weil es ein Kontrapunkt (metaphernreich und sprachlich schön) zu der „Schreibe“ ist, die ich so anstrebe.
Das Buch war eine Meditation über Thematiken, mit denen ich mich bisher weniger beschäftigt hatte. Hab auch daraus gelernt.
easystreets:
In meiner Ordnung gehören Musik und Literatur zusammen, das eine wie das andere ist für sich wie ohne Gegenkraft. Musik ist dem Wesen nach weiblich; ist die Literatur dem Wesen nach männlich? Das würde ein Deut sein in die Alchemie, in der es heißt: Kunst entsteht zwischen Mann und Frau – wobei Mann & Frau ja nicht nur streng körperlich zu sehen sind, sondern „attributös“. An Aljoscha finde ich das Schlichte wie Famose und auch Moderne im Sinne von klassisch, dass er die beiden „Länder“ zusammen präsentiert.
08.06.2008
Edda Sörensen:
Oberflächlich gesehen – das kommt vom „Herumstöbern“ – kann man sicher den Eindruck gewinnen, es handle sich um ein akademisches Werk. Die Geschichte spielt zwar zum Grossteil in den Vorlesungsräumen einer Kunstakademie, obwohl Aljoscha ja eigentlich Student der Philosophie ist, doch durch den Anblick von erst mal nur den Beinen in hauchdünnen Nylonstrümpfen und hochhackigen Schuhen einer mysteriösen Schönen elektrisiert, entwickelt sich die Geschichte zusehends rasant in Richtung magischer Besessenheit, gespickt mit einem Feuerwerk an wirkungsvoll eingebauten Zitaten und ausgeschmückt mit schier unglaublich phantasiereichen Metaphern, das hat der Forist mit dem Quetzal-Gleichnis sehr schön erkannt.
Auch Monika Cate liegt ganz richtig, wenn sie sagt, dass man obendrein beim wiederholten Lesen viel aus diesem Buch lernen kann.
22.06.2008
easystreets:
So sanft wie Aljoscha sich der Sprache bedienen kann, wenn es um Innenwelten geht, vermag ich es nicht.
01.11.2008
ray05:
Zwei Romane habe ich seit dem Frühsommer 2008 gelesen: Erdmanns Aljoscha und Mosebachs … bereits vergessen, habe mit galoppierender Verblödung zu schaffen seitdem.
02.11.2008
ray05:
Falsch formuliert, sehe ich gerade. Habe zwei Romane gelesen seitdem, Ursache meiner Beschwerden ist allerdings lediglich der Mosebach.
Den Erdmann kann ich weiterempfehlen. Einige taten das hier ja bereits, ich schließe mich an.
Von Dr. Bruno Brotmitbutter (Hamburg / Wagga Wagga).
Der Verfasler: Bruno („Bruce“) Brotmitbutter von der Universität Heidelbeerberg ist Herausgeber zahlreicher wissenschaftlicher Pöbelaktionen. Zu seinen Hauptwerken zählen „Manische Depression bei Eurasischen Eichhörnchen“ (1995), die Langzeitstudie über Nußverstecke, für die Brotmitbutter 1997 mit dem Nuxi-Preis der Norddeutschen Reformhäuser ausgezeichnet wurde, sowie „Laßt die Nuggets doch den Nagern“ (1912), das Standardwerk über den Goldrausch bei Goldhamstern. Brotmitbutters gegenwärtige Forschungen gelten dem „missing link“, der fehlenden Übergangsform zwischen Beutelratte und Einkaufstüte.
Der Federbettenwombat ist eine jüngst entdeckte Spezies der Vombatidae, von Dr. Gurkenbrötchen vorläufig als Nacktnasenwombat eingestuft. Dr. Fünfuhrtees Hypothese, nach der sich der Federbettenwombat als Verwandter des noch unentdeckten asiatischen Futon-Wombat erweisen könnte, scheint haltbarer als die These von Dr. Pølser (Kopenhagen), dessen These nur bis zum 10.11.12 haltbar war.
Wie es scheint, ernähren sich Federbettenwombats von Haferflocken und Cornflakes, die größeren Lebewesen aus der Tüte fallen. Weichholzbenagung ist seltener, überhaupt sind die Tiere bemerkenswert genügsam. Dr. Kartoffelninsaureryoghurtsauce von der Universität Sydney Greenstreet: „Ich habe noch nie ein so dickes Tier so wenig essen sehen.“ – Dr. Soufflè (Koala Lumpur), einer der am wenigsten erforschten Forscher überhaupt, wies jedoch schon in seiner Streitschrift „Naßforsche Naßrasuren nützen Nacktnasenwombats nichts“ (1999) darauf hin, daß man sich ganz schön verpforschen kann. Es ist also Pforschicht geboten.
Der Federbettenwombat bewegt sich meist überhaupt nicht, es sei denn, er wird bewegt, aber was ihn bewegt, wissen wir nicht. Forscher, die im Dunkeln lagen, sahen nichts. Dr. Dankemir Reichts (Izmirschlecht) zieht Schlußfolgerungen aus den mysteriösen Wombatfunden abseits des Federbetts, die Dr. C.G. Nimmnochwas-Jung, der Schweizer Psychoanalytiker, indes kritisiert: „Der Mann ist doch krank!“ (aus: „Kommunikatives Handeln als Paradigma einer Seinsmetapher im Dekonstruktivismus-Streit zwischen Natur-Teleologie und Logisch-Semantischer Popeldeutik“). Dr. Quarkspeise (Kühlschrank) hält dies alles für Käse. Wohl zurecht; Dr. Sprachforscher, der bekannte Sprachforscher, hat mittels Computeranalyse die nächtlichen Laute eines Federbettenwombats analysieren können: „Halt – nein – warte – die – “ Und so weiter. Dr. Bratmirwas von der Universität Bratdirselberwas (Slowakei) hält den Wombat für einen Liebhaber moderner Kunst. Collagen finden sein reges Interesse. Dreht man den Wombat um, betrachtet er allerdings mit unermüdlichem Interesse die andere Wand, an der überhaupt keine Bilder hängen. Aber wo beginnt Kunst, wo endet sie? Kunst kommt ja nicht von „Können“, sondern von „Kunstmann, Gemüsehändler“. Dessen Diktum „Man kann auch Artischocken nehmen“ ist immer noch subjektiver Grund ästhetischen Urteilens. Dr. Spielverderber konnte erleben, wie ein domestizierter Wombat einen Spielverderber, der ein Spiel verdarb, anpischerte. Dr. Selbstschuldgemeinerdoofi gab daraufhin Rhabarber zu Protokohl.
Dr. Nudelsupp, der schon Gugel hupfen sah, berichtet, daß beim ersten Lauf des Rennrudelns in Luistrenker eine Gruppe Wombats das Rennrudeln mit dem Rudelrennen verwechselte. Damit zum Sport.
RUMKUGELN. Beim Rumkugeln im französischen Boulangerie kam es zu einem Eclaire. Der Schietrichter griff rein, fand aber nichts schiete.
SCHIEFSPRINGEN. Bei der Vierschranzentournee im Schiefsprung gelang Luggi Oberdeppner aus Sepplmütz im Zenzital die tolle Weite von Pi mal Zwiesel. Wombats waren nicht am Start.
STAPELLAUF. Bestnoten bekam ein Wombat beim diesjährigen Meeting im schwedischen Regal, als er über einen Stapel Bücher lief.
PHILOSOPHIEREN. Wieder einmal setzte sich im 8. Rennen Stoizismus durch. Mit einer Nasenlänge Vorsprung holte sich Wombat den Grand Prix de la Schisselaweng und verwies Ferkel mit Skeptizismus und Bär mit Dialektischem Materialismus auf die Rote Grütze.
MAULAFFENFEILHALTEN. Mit 84 feilgehaltenen Maulaffen belegte ein Wombat beim Blöd-Cook-Memorial einen erstaunlichen 2. Platz hinter Dumm Rumpupen (USA).
DOPPELKLOPP. Bundestrainer Kloppo Klopp hat seinen Vertrag in beiderseitigem Einvernehmen an Bimbo, Bombi und Schlippo verkloppt. Auswechselungen: Bele, Bumsch und Beule (4. Minute).
Rezension #10
15. Februar 2008
„Meine paar Groschen Verstand sind verspielt…“
Von Zadig
„Wer die Deutsche Sprache liebt, wird auch dieses Buch lieben“, schrieb ein anderer Rezensent – eine Behauptung, der ich mich anschließen möchte. Die außergewöhnlich lebendige und komplexe Sprache ist eine der großen Stärken dieses Romans. Sie macht einen erheblichen Teil von dessen Faszination aus, indem sie auf geschickte Weise immer wieder überrascht und fesselt.
Den Leser erwarten eine Liebesgeschichte, deren wohltuende Handlungsarmut ihr ausreichend Platz lässt, um sich auszudehnen und, als Umkehrschluss daraus, einen perfekt eingefangenen Entfremdungsprozess, der ihn ein um das andere Mal traurig lächeln lassen wird. Ein unausgleichbarer Gegensatz und eine Unterlegenheit unter das Schicksal, ausgelöst durch eine rätselbehaftete Fremde, die exakt so geheimnisvoll und unnahbar ist, wie sie sein muss.
Der Roman konzentriert sich weitestgehend auf die Gefühls- und Erlebniswelt des Aljoscha. Diese aber ist so intensiv, dass sie eine dichte Körperhaftigkeit und Mehrdimensionalität schafft, die Aljoscha stofflich, von allen Seiten greifbar und sinnlich erfahrbar werden lässt.
Es gelingt dem Autor gewissermaßen, den Leser in Aljoschas Gedankenräumen einzusperren, wo er sich mal vorsichtig dessen Hirnwindungen entlang tastet, mal von einer Gedankenstromschnelle unerwartet fortgerissen wird, um sich ein Stück weiter wieder hochzurappeln, neuzuorientieren und schon neugierig um die nächste Ecke zu schielen.
Gemessen an dieser Intensität müssen die wenigen übrigen Personen notgedrungen blass bleiben und wollen dies auch. Gegen Ende wird über einen Schwebezustand, ein kleines Handlungsvakuum, ein geradezu gemein raffinierter Spannungsbogen hergestellt, der den Leser unruhig umherrutschen lässt und fast zum Weiterblättern verführen könnte.
Kein leichtes, aber ein lohnendes Buch für den, der es mag, Sprache auf sich wirken zu lassen und in ihr zu versinken. Wer weiß, vielleicht findet man sogar ein Stück von sich selbst darin wieder. Und selbst wenn nicht, so darf man zumindest damit rechnen, von der Geschichte berührt und eingefangen zu werden.
(Rezension auf amazon wurde später gelöscht)
Rezension #9
20. Dezember 2007
Reine Poesie
Von John Ford
Ich finde das Buch (für heutige Zeiten im Besonderen) aussergewöhnlich, vor allen Dingen wegen Christian Erdmanns meisterlich-kunstvollem Umgang mit der Sprache, der Reichhaltigkeit, der Poesie, der Beschreibungen, Metaphern, Verweisen und Bezügen zu alten Horrorfilmen (Jacques Tourneurs „Cat People“, ein wunderbarer Klassiker!) sowie zur Musik und Popkultur (das ist eher mein Feld). Mir selbst fehlt der Hintergrund zur Philosophie, (griechischen) Mythologie oder Kunstgeschichte teilweise, aber ich empfinde diese Reise als lohnend. Eine Liebesgeschichte oder Geschichte von der Liebe, sehr sensibel – ja, geradezu altmodisch geschrieben.
Ich werde es wohl mehrmals lesen. Einige Passagen haben mich sehr berührt, aber auch feinsinniger Humor fehlt nicht.
Und das ist längst nicht alles. Auch wenn dieses Werk nicht so hopplahopp zu bewältigen sein sollte, lohnt es sich, sich darauf einzulassen und man wird das Buch nicht mehr vergessen.
SPIEGEL ONLINE Forum
„Literatur – Was lohnt es noch, zu lesen?“
15.10.2007
Edda Sörensen:
Anspruchsvolle Texte hatten es wahrscheinlich schon immer schwer, zu ihrem Publikum zu finden, das es jedoch sicherlich in grosser Anzahl gibt. Deshalb bin ich froh, dass es dieses Forum gibt, das mir schon viele Anregungen geschenkt hat. Deshalb Anregung zurück:
„Aljoscha der Idiot“ von Christian Erdmann
Edition BoD – Herausgeber Vito von Eichborn
Nach der Lektüre dieses Buches komme ich von Geistesblitzen geradezu illuminiert langsam wieder auf die Erde zurück, genau mit diesem (anfangs hielt ich die Anpreisung des Verlegers auf der Rückseite des Buches für ein wenig vermessen) versprochenen Lächeln im Gesicht. Glücklich, ja, denn mit blankpolierten Augen konnte ich wie mit einem Präzisions-Fernglas Einblick in faszinierend inspirierende Gedankenwelten gewinnen, die sich wie schimmernd feiner Galaxienstaub in weiten Kreisen um die Liebe drehen, bis sie am Ende, waagrecht wie senkrecht Gewissheit schaffend, auf sie treffen.
Erstaunlich, dass dieser Dichter noch nicht „entdeckt“ wurde. Ich kann dieses Buch nur wärmstens für den Gabentisch Feingeistiger empfehlen.
kurzundknapp:
Da kommt uns allen aber etwas schwer bekannt vor…
Edda Sörensen:
Das versteh ich jetzt aber ganz und gar nicht: Was ich da geschrieben habe, ist von mir.
Wo wollen Sie denn das gelesen haben? Bitte um Aufklärung.
Niobe:
Das Buch von Herrn Erdmann wurde hier schon sehr sehr gelobt.
Ich habe es auch fast durch. ;-)
(Ungefähr 1,5 Jahre her. Ich hab noch die Erstauflage von ihm, da war er noch nicht beim Eichborn-Verlag). Aber Sie haben Recht, man kann es nicht oft genug erwähnen!
Monika Cate:
Ich habe das Buch vor über einem Jahr gelesen, dann ein halbes Jahr später zum 2. Mal. Das wird nicht das letzte Mal gewesen sein. Sie beschreiben sehr schön, was passieren kann, wenn man sich auf dieses Buch einläßt. Und es läßt einen auch nicht wieder los, nachdem man es aus den Händen gelegt hat. Es hat meine eigene künstlerische Arbeit beeinflußt, hat meinen Horizont erweitert, hat mich sensibilisiert. Ein Glücksfall.
Edda Sörensen:
Vielen Dank Niobe und Monika
War ganz erschreckt über die „kurzknappe“ Dusche :o) Umsomehr freu ich mich über Eure Antwort und darüber, dass
a: dieses Buch also doch bekannter ist, als ich annahm und
b: Ihr Beide genauso beeindruckt seid.
Polymorph:
„Aljoscha der Idiot“ habe ich jetzt auch auf meine Einkaufsliste gesetzt, es wird aber noch ein Weilchen dauern, bis ich dazu komme… z.Z. lese ich zum wiederholten Male Bonaventuras „Nachtwachen“ – ein schriftgewordener Albtraum, so düster, ekstatisch und maßlos…!!
16.10.2007
kurzundknapp:
Das sollte keine „Dusche“ sein, bitte vielmals um Pardon. Ich wollte nur meinen, daß man den guten Aljoscha hier so oder so kennt. (Und lancieren tut der auch nix!)
Edda Sörensen:
Das kann jedem mal passieren – also, Schwamm drüber über die Dusche :o)
Es freut mich, dass man Christian Erdmann hier bereits kennt. Bei meinen sporadischen Besuchen dieses Forums, immerhin schon 650 Seiten lang, hatte ich bisher nichts dergleichen entdeckt.
hans-werner degen:
Da mir hier immer wieder die Postmoderne um die Ohren geschlagen wurde:
Ich habs versucht und versucht und versucht… Was mir auffiel… jeder zitiert ununterbrochen sich oder andere; verweist sinnlos auf sich und andere… Das lässt mir die Vermutung kommen: Die geben nur mit ihrem literarischen Wissen an.
Monika Cate:
So wie Sie? ;-)
hans-werner degen:
Ich schreib ja nicht… ausser für meine Allerliebste ab und zu ein Gedicht… und eh ich es ihr schenke guck ich noch überall ob die Worte wirklich von mir stammen.
Monika Cate:
Die Worte stammen nie von Ihnen. Die haben Sie gelernt. Wenn Sie eine besondere Aneinanderreihung von Worten meinen, die eine spezielle Aussage und Qualität vermitteln, wie bei einem Zitat, das, wenn es kunstvoll in den Handlungsablauf eingeflochten ist, dem Leser diese Qualität dann direkt zugänglich macht und das Gedankengebäude somit erweitert, ist das in meinen Augen ein ganz ausgezeichnetes Stilmittel.
Im Falle von Christian Erdmann, den ich da gern als Beispiel heranholen möchte, werden die verwendeten Zitate mit einer unübersehbaren Liebe und gleichzeitig als Tribut an diese Denker und Künstler eingesetzt, und das so virtuos, daß es einem manchmal den Atem verschlägt. Denn sehen Sie, würde er (um bei diesem Beispiel zu bleiben) das nur tun, um anzugeben, würde der Leser das sofort merken und das Buch gelangweilt beiseite legen. Doch es funktioniert genau andersherum, er baut die Zitate als eine neue Ebene ein, die sich bezieht auf alle anderen Ebenen, die er beschreibt, und drückt damit gleichzeitig aus, dass alles das, was jemand schon mal gedacht und aufgeschrieben und uns zur Verfügung gestellt hat, ja sowieso schon als Qualität sich verselbständigt hat. Es ist eine Farbe im Feuerwerk der beschriebenen Zustände.
Also nur zu, lassen Sie sich doch einfach mal ein und legen Ihre mühsam zurechtgezimmerten Kriterien, nach denen Sie schnell oder langsam oder überhaupt nicht lesen, einmal beiseite. Vielleicht wundern Sie sich. Mit Querlesen kommen Sie diesem Roman z. B. nicht auf den Grund.
Darüberhinaus machen die Zitate und Referenzen Lust auf Viel-Mehr-Lesen (es ist eben alles mit allem verbunden), aber da muss man sich bei Ihnen, Herr Degen, ja keine Sorgen machen.
Somit ist er, neben vielem anderen, auch noch ein „Bildungs“Roman :)
Edda Sörensen:
Ihre beiden Beiträge, liebe Monika, sind, vom Inhalt wie von der Formulierung her, einfach virtuos, besser kann man es wirklich nicht beschreiben.
paparatzi:
Zitat von Monika Cate:
Ich habe das Buch vor über einem Jahr gelesen, dann ein halbes Jahr später zum 2. Mal. Das wird nicht das letzte Mal gewesen sein.
dito
Kam nur durch Zufall hier (!) im SPON auf das Buch. Völlig bescheuert finde ich, dass so eine Perle im Autorenverlag auftauchen muss und keinen renommierten Verlag (Verzeihung bod) finden konnte.
Aljoscha der Idiot
Aljoscha berauscht sich am unablässig strahlenden Einfluss aller Wesen und Dinge aufeinander. So wie Kinder ihre Nasen am Fenster plattdrücken, ständig fragen: „was ist das?“, fragt er nach dem Sinn. Diese Eigenschaft, die wir Erwachsene in unserem gelernten System der Superchunks verloren, höchstens noch im Urlaub erleben können, ist der Klebstoff dieses Romans. Eine Liebesgeschichte, und was für eine, verpackt in eine Sprachreise der Gefühle.
Im wortgewaltigen Roman wimmelt es nur so von Hintergründen, Abgründen, Anspielungen, philosophischen und religiösen Exkursen, Musik, und Perlen der Sprache wie: „Achttausender des Trübsinns“, „Qualitätsarbeit von Meister Verfall“, „Morpheus‘ Schlaf letzte Nacht war nur zweite Wahl“, „Institution Kirche ist ein bisschen Bürgerwehr im Unerforschlichen“.
„Ich weiß nicht, ob ich je geliebt habe“, spricht Aljoscha zu seiner Freundin, die bereits sein Abrücken ahnt. „Nicht mehr alles wissen wollen vom anderen, beginnt da nicht die Lüge?“ Ja, wie wahr! Die zwei Groschen Verstand, die Aljoscha im Laufe seiner Reise zu verlieren ahnt, aufgerieben zwischen der Frau, zu der er sich hingezogen fühlt und nur blicken kann, und der Freundin, die er nicht unglücklich machen möchte.
„Felsbröckelkunde, Gestaltwandlung und Gegenspionage“ sind nach Aljoscha Nebenfächer des Studiums der Liebe. Was ist Liebe? „Zwei Menschen mit Schlüsseln für dieselbe Tür, Seelen die sich im Korridor begegnen und dieselbe Zukunft im Gedächtnis haben“. Und wie kann man den Gegenschlüssel erkennen? Aljoscha beantwortet dies mit einem todsicheren Code: nur bestimmte Menschen sehen das Zeichen, psychoenergetisch aufgeladene Spuren, die der Andere hinterlässt. Bestimmung? Ja! Es wartet jemand auf dich, der dich will, mit einem versichernden Lächeln alles geschehen lässt, und es geschieht ohne Anstrengung. Ebenso wie das erste Wort von IHR: „Hallo“, ganz einfach.
Vito von Eichborn schreibt in seinem Vorwort: „ich schwöre: wer dies liest, der bekommt einen glücklichen Ausdruck im Gesicht“. Ja, und wie habe ich gelacht, nicht nur über den „Granatsplitter im Kopf“. Oh wie wahr, Liebe scheint eine Form der Geisteskrankheit zu sein.
Auf das Buch „Aljoscha der Idiot“ kam ich nur zufälligerweise. Aljoscha würde dies nicht einfach hinnehmen und nicht von Zufall reden. Wie dem auch sei, der Roman steht bei mir direkt neben dem Solschenizyn und Voltaire im Bücherregal ganz vorne, mit dem Prädikat „besonders wertvoll“.
Rezension #8
15. Oktober 2007
Geistesblitze
Von Edda Sörensen
Nach der Lektüre dieses Buches, das ich vor einer Woche bei Euch kaufte, komme ich von Geistesblitzen geradezu illuminiert langsam wieder auf die Erde zurück, genau mit diesem (anfangs hielt ich die Anpreisung des Herausgebers auf der Rückseite des Buches für ein wenig vermessen) versprochenen Lächeln im Gesicht. Glücklich, ja, denn mit blankpolierten Augen konnte ich wie mit einem Präzisions-Fernglas Einblick in faszinierend inspirierende Gedankenwelten gewinnen, die sich wie schimmernd feiner Galaxienstaub in weiten Kreisen um die Liebe drehen bis sie am Ende, waagrecht wie senkrecht Gewissheit schaffend, auf sie treffen.
Erstaunlich, dass dieser Dichter noch nicht „entdeckt“ wurde. Ich kann dieses Buch nur wärmstens für den Gabentisch Feingeistiger empfehlen.
Rezension #7
10. Juli 2007
Was für ein exzellenter Gebrauch der deutschen Sprache!!!
Von Rita Handt
Danke an Christian Erdmann für dieses wunderbare Buch. Als Kämpferin für die deutsche Sprache habe ich es mit Begeisterung gelesen. Bitte mehr davon.
Was für ein exzellenter Gebrauch der deutschen Sprache!!! @amazon
Ostern 2023
Außerdem war unsere Lehrerin Fräulein Albinus. Wenn sie uns nach den Pausen vom Schulhof abholte, wir uns also in Zweierreihen hinter ihr aufzustellen hatten, gab es bei uns Jungs immer Gerangel um die erste Reihe, direkt hinter ihr. Fräulein Albinus hatte nämlich, und mir fällt da jetzt gerade keine andere Formulierung ein, einen bemerkenswerten Hüftschwung.
Listening to „Warszawa“ in Warszawa, 20/08/2019
Auch wir sind in Räumen freigelegter Zeit
Wie weiße Spinnen, die in Einsamkeit sich weben
Träumend, wie im Garten vor lang verschwundenen Monden
Ein Wispern war im Rauschen dieser Blätter
Wartend, daß noch einmal unser Weben so erzittert
Rubinrot auf den Lippen und sie sagte: komm
Und der Wind, der ihre Haare wehen ließ
War kalt und nicht von dieser Welt
Und sie verging, als wäre sie ein Stich ins Licht
Und seither all die Tode, die uns trennen
She’d sigh like Twig the Wonder Kid / And turn her face away
Zuerst schrieb mir die Marketing-Abteilung von BoD. Vito von Eichborn, einer der innovativsten Buchmacher Deutschlands, betätige sich als Herausgeber einer Edition für BoD und wäre erfreut, meinen Roman in diese Edition aufnehmen zu können. Zu diesem Zeitpunkt war „Aljoscha der Idiot“ fast zwei Jahre auf dem „Markt“ – jenem Markt, von dem mir der Lektor eines renommierten Verlags gesagt hatte, ein Roman wie dieser sei dort „nicht durchsetzbar“. Ich hatte mich dann für das System Books on Demand entschieden, „Aljoscha“ also auf eigene Faust veröffentlicht, ich hatte die Erlaubnis der Erben des berühmten Frans Masereel, einen seiner Holzschnitte für das Cover verwenden zu dürfen, ich hatte all das mit Freuden bezahlt, und dummerweise hing ich nun sehr an der Art, wie dieses Werk in die Welt gekommen war. Und darauf schrieb mir dann Vito von Eichborn selbst.
Lieber Autor, schrieb er, oje, das habe er befürchtet: jemand, der so schreiben kann, hat absolut seinen eigenen Kopf. „Ihr Buch ist für mich der so seltene klassische Fall: grandios gut und absolut schwer verkäuflich. Dies ist für mich der erste Fall, in dem die literarischen Verlage offensichtlich versagt haben.“ Die Edition, schrieb er, habe ein festes Gestaltungsprinzip, aber er wolle dafür sorgen, daß wir den Masereel-Holzschnitt mitnehmen. Mit der ihm eigenen Machen-wir-uns-nichts-vor-Haltung sagte er mir: machen wir uns nichts vor, BoD kommt in den Feuilletons nicht vor, keine Versprechungen, aber: „Ihr Buch ist eine ganz seltene Perle“, und vielleicht könne seine Stimme mehr Menschen zum Lesen bringen.
Er schrieb ein Vorwort für die Neuausgabe, und wenn einer wie er sagt, dieser Roman sei „literarisch das Beste, was ich in den letzten Jahren gelesen habe“, hat das sehr große Bedeutung für einen, der tausend Nächte tief daran gearbeitet hat, ohne zu wissen, ob dieser Balg je Hosen trägt. Es war bezaubernd zu hören, wie er dann auf der Leipziger Buchmesse in einem Radio-Interview von „Aljoscha“ schwärmte – wenn man die Begeisterung eines mit allen Wassern Gewaschenen so nennen darf.
Seine Emails waren immer wie kleine Stromstöße, und in einer der letzten, die ich von ihm erhielt damals, stand: „Wenn jemand schreiben muß, dann Sie!“
Gute Reise, lieber Vito von Eichborn. Danke für die Neugier, für den Enthusiasmus, für den Mut. Danke für alles.
„Zuletzt verschlug es Aljoscha in einen Schallplattenladen. Ein alter schwarzer Bluessänger sang alten schwarzen Blues. Der Mann an der alten schwarzen Kasse sah aus wie Majakowski. An einem Ständer hingen T-Shirts. Aljoscha sah sie gelangweilt durch, bis er eines mit dem Erkennungszeichen des Kollektivs Einstürzende Neubauten fand. Auf dem schwarzen Stoff zeichnete sich ein archaisches Symbol ab, das an eine Höhlenmalerei der Frühzeit erinnerte. Nur war hier kein Tier dargestellt von Menschenhand, sondern eine menschliche Gestalt, die so wirkte wie die Vorstellung, die ein Tier vom Menschen haben könnte. Ein Rückgrat, davon ausgehend Arme und Beine, statt Händen oder Füßen nur die Andeutung einer atavistischen Drehung der Extremitäten; der Kopf ein Kreis, überdimensional vergrößert, und in den Kopf-Kreis war ein Mittelpunkt gemalt. Wie der Herzmittelpunkt in der Umrißzeichnung eines Elefanten in der Pindal-Höhle, 12000 Jahre alt. Was bedeutete dieser Mittelpunkt hier? Gesicht? Blick? Brennpunkt? Verdacht auf Innewohnendes? Vermuteter Sitz einer Matrix, die für unfaßbare Vorgänge im Innern der Gestalt verantwortlich ist?
Reduktion auf das Wesentliche, äußerste Stilisierung, äußerste Verdichtung. Diese Figur, dieses ins Quintessentielle implodierte Menschlein, strahlte gespenstische Intensität aus. Unheimlich stand es da wie die unentzifferbare Wahrheit des Schauerlichen, unheilschwanger in seiner primitiven Indifferenz, und lud sich auf mit Exzentrizität – mit extremer Abweichung vom gegenwärtig eingenommenen Punkt.“
Christian Erdmann: Aljoscha der Idiot
(Vorwort für die Neu-Edition von „Aljoscha der Idiot“, Februar 2007)
Meine Buchhändlerin sagte mir, „ja“, sagte sie…
„Ja, die Liebesgeschichte eines Studenten könnte reizvoll sein. Liebe ist nach der Lebenshilfephase wieder gefragt, und das Uni-Milieu geht ja irgendwie immer. Der beste Beweis war damals der Bestseller von Schwanitz…“
„Um Gottes Willen“, fiel ich ihr ins Wort, „den ‚Campus‘ habe ich ja selbst verlegt! Das war neckische Unterhaltung mit Altherrenhumor, auf Erfolg hin geschriebener Identifikationswitz mit Nullachtfünfzehn-Plot. War klasse für den Verlagsumsatz. Dies hier ist absolute Literatur auf hohem Niveau, weil…“
Nun unterbrach mich meine Buchhändlerin. Das macht sie ja immer gerne. „Oje, das ist also richtig rundherum anspruchsvoll? Hat es denn unterliegend wenigstens eine spannende Handlung, ein bißchen Sex and Crime, was Filmisches, ein Roadmovie oder so?“
„Herrje, nein! Tja, wie sag ich’s? Also Klartext: Dies ist ein Buch, das es – wie übrigens alle wirklich guten Bücher – den Lesern nicht leicht macht. Es ist, um aus dem Internet zu zitieren: ‚Ein Roman voller Rätsel und Anspielungen, um Sehnsucht und die Unmöglichkeit der Liebe. Ein Mosaik des Fühlens und des Träumens, jenseits von Geschichte und Verstand. Ein komplexes Gespinst aus Gedanken und Geschehen – denn nichts ist einfach zwischen den Menschen und ihren Wünschen.'“
„Ja, und wie soll ich das komplexe Gespinst verkaufen? Postmoderner Hirnschwurbel oder wie? Eine dekonstruierte Liebesgeschichte, in der offensichtlich nicht mal richtig gevögelt wird?“ Sie redete sich in Rage. „Komplizierte Literatur geht halt nicht. Das kann man bedauern, aber es gilt die logische Formel: Je intelligenter ein Buch – desto weniger Leser. Die Leute sind nicht mehr bereit – wenn sie es denn je waren -, Texte zu entziffern. Denen ist Faulkner zu anstrengend. Arno Schmidt hatte ja mal eine intellektuelle Gemeinde – der ist auch völlig out. Wenn ich nicht voller Überzeugung ’spannend‘ sagen kann, werde ich keinen Roman mehr los.“
„Aber Herrgott nochmal, das ist doch spannend! Nur eben nicht schwanitzmäßig platt! Es ist weit entfernt von Arno Schmidts chiffrierten Verkomplizierungen – und dennoch, auch dies ist rauf und runter voller Anspielungen, ich zitiere: ‚Eine Hommage an die Liebe, die Philosophie, die Musik und die Kunst – daher unbedingt lesenswert für alle, die noch nicht aufgehört haben oder wieder anfangen wollen zu denken und zu fühlen.‘ Nein, dies ist nicht Arbeit wie bei Schmidt – es ist Lustlektüre, das zieht und zwingt und…“
„Und was erzählt uns dieses Wunderwerk?“
„Die Handlung ist alltäglich. Die gegenwärtige Liebe des Philosophiestudenten Aljoscha geht allmählich zu Ende. Und er verliebt sich neu in eine unbekannte Schöne, so ergreifend und verstörend, daß es – auch dem Leser – weh tut. Bei Amazon jubelt eine Leserin: ‚Unglaublich, daß es so etwas noch gibt. Fast jeder Satz ist für sich genommen schon ein Kunstwerk‘, und eine andere greift tief in die Kiste – und sie beschreibt es sehr richtig: ‚Der Autor schreibt in einem atemberaubenden, wunderbar altmodischen Sprachstil und führt den Leser mit unglaublicher Gewandtheit, erstaunlich weit gefaßtem Wissen und äußerst feinem Humor durch die tiefe, empfindungsreiche, philosophisch geprägte und doch postmoderne Gedanken- und Gefühlswelt des Protagonisten.‘
Also, ich versteige mich zu der Behauptung: Dies ist literarisch das Beste, was ich in den letzten Jahren gelesen habe. All die neue Realitätsliteratur, wo Autoren Wirklichkeiten abschreiben und Literatur behaupten, ist banal und langweilig im Vergleich zu ‚Aljoscha‘. Erdmann erzählt das Unsagbare.“
Meine Buchhändlerin hatte ihre Grübelfalten angelegt: „Mensch, so eine Jubelei kenne ich ja gar nicht mehr, das ist mir nun fast unheimlich. Übrigens ist das auch gefährlich – wenn jemand in den Feuilletons so loslegt, reizt das zum Widerspruch, mich auch, dann werden alle anderen automatisch skeptisch.“
Sie hatte mir das Buch aus der Hand genommen und zu blättern und sporadisch zu lesen begonnen, wie Vielleser es gerne tun.
„Aber verdammt nochmal, wenn etwas erste Sahne ist – und sei es anspruchsvolle Literatur -, dann muß es doch möglich sein, das einfach zu sagen…“
Sie unterbrach: „Aber das sind ja wirklich außergewöhnliche Worte und Sätze, stimmt, das sieht man schnell, oje, am Wochenende werde ich wohl wieder zu nix anderem kommen – aber ich spüre ganz unmittelbar: Dies will, nein, muß ich in Ruhe ganz lesen. Und dann vermutlich nochmal…“
Richtig, dies ist eins der seltenen Bücher zum Mehrfachlesen, weil man immer wieder Neues entdeckt.
Wer auch immer dies auf sich nimmt – ich schwöre, der bekommt einen glücklichen Ausdruck im Gesicht…
Vito von Eichborn
Cimetière de Montmartre
„aj_graveyards Feature: christi_erdmann“
07.12.2022
„PROJECT_NECROPOLIS presents christi_erdmann“
08.09.2021
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„aj_graveyards Feature: christi_erdmann“
29.07.2021
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„PROJECT_NECROPOLIS presents christi_erdmann“
19.07.2021
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Foto © Christian Erdmann
Some photo booth in Paris. I’m in my twenties.
Blond, blurred, bibliophil
Cimetière du Père Lachaise
„PROJECT_NECROPOLIS presents christi_erdmann“
11.08.2022
„Blackstar“
Marcin Witt
2016
(Auftragsarbeit)
Der Auftrag stammte von meinen lieben friends and colleagues, das Gemälde war ihr Geschenk zu meinem Geburtstag. Daß der Tod von David Bowie mir schwer zusetzte, konnte ich nicht gut verbergen, und daß Marcin Witt diese schöne Idee so phantastisch umgesetzt hat, daß ich zum stolzen Besitzer dieses Gemäldes werden durfte, hat mir viel bedeutet.
Dieses Exemplar stammt aus der Straße U Stareho Hrbitova in Prag, bei der Altneu-Synagoge, wo der Golem seinen Hauptwohnsitz hat.
Mein Regal der Sieben Weissen Dinge. Weil schon Konfuzius sagte, Du sollst ein Regal haben mit Sieben Weissen Dingen.
Collected over the years, bis auf das Verlorene Paradies, bei The Booktrader in Kopenhagen, Skindergade 23, ein favourite bookstore, den auch William S. Burroughs einmal besuchte.
Everybody needs somebody to love.
„aj_graveyards Feature: christi_erdmann“
07.05.2022
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Interview mit Christian Erdmann
Literatur-Feder Magazin
Ausgabe 5, Juni 2007
Der Autor Christian Erdmann und sein Werk „Aljoscha der Idiot“
„Aljoscha der Idiot“ erschien bereits 2005, bevor es nun neu, in der besonderen Buchreihe Edition BoD, aufgelegt wurde.
„Ich schwöre: Wer dies liest, der bekommt einen glücklichen Ausdruck im Gesicht…“, so der Gründer des Eichborn-Verlags, nun Herausgeber der BoD Edition und einer der renommiertesten Branchenkenner in der Literaturszene, Vito von Eichborn.
Erdmann gilt als außergewöhnlicher Autor, der das Talent besitzt, den Leser von der ersten bis zur letzten Seite in den Bann zu ziehen.
Daher war es uns eine ganz besondere Ehre, dass wir ihn in dieser Ausgabe für ein exklusives Interview gewinnen konnten.
Literatur-Feder: Herr Erdmann, auf Ihrer Homepage stellen Sie beinahe ausschließlich Ihr Buch in den Vordergrund. Über Ihre Person als Autor erfährt man so gut wie nichts. Möchten Sie unseren Lesern etwas von sich preisgeben?
Christian Erdmann: Oh, gut. Ich lebe in Hamburg und versuche wie jeder andere, das tägliche Chaos irgendwie zu ordnen. Ich habe Philosophie studiert, aber keine Karriere daraus gemacht. Unter meinem Bett liegen Schiffsladungen von Papier, Entwürfe für das, was einmal meine Dissertation werden sollte, eine „Philosophie des Horrors“. Aber das hat den Rahmen gesprengt, und ich bräuchte einen Deutschen, der mir das systematisiert. Ich habe einen ziemlich bizarren Job, um mich über Wasser zu halten. Und wenn ich meine Feder in mein Herzblut hätte tauchen können, um den Roman zu schreiben, hätte ich es getan.
Literatur-Feder: Ihr Roman „Aljoscha der Idiot“ ist Ihre erste Roman-Veröffentlichung. Wann haben Sie mit dem Schreiben begonnen und gab es dafür einen bestimmten Auslöser?
Christian Erdmann: Wann ich mit dem Schreiben begonnen habe? Als Kind! Ich konnte schreiben, bevor ich in die Schule ging, und ich habe Lexika vollgekritzelt mit… notwendigen Ergänzungen. Ich hatte bloß die Angewohnheit, zwischen den einzelnen Worten Striche zu setzen… Gedankenstriche. Wie Kupplungen zwischen den Waggons eines Zuges. Vielleicht hatte ich irgendwie schon immer das Gefühl, die einzelnen Worte sind nicht verbunden genug.
Die ersten ernsthaften Schreibversuche waren Gedichte. Es gab auch mal einen Gedichtband, den ich zusammen mit einer Freundin gemacht habe. Wir haben beim Drucker die Seiten selbst geschnitten und geleimt. Das Bändchen hieß „Vorwitz und Verstrickung“. Ein paar Hundert Exemplare im Eigenverlag, das war gnadenloser, furchtloser, furchtbarer Idealismus.
Der Anlaß für diesen Roman war, etwas Wunderbares festzuhalten. Ich sage nicht, daß es eine wahre Geschichte ist, aber der Anlaß war, etwas Wunderbares festzuhalten.
Literatur-Feder: Sie haben sich bei Ihrem Erstlingswerk für eine Veröffentlichung bei BoD entschieden. Was waren die Gründe?
Christian Erdmann: Nun, ich habe das Manuskript in unregelmäßigen Abständen an einige der großen Verlage geschickt. Nicht viele, nur eine Handvoll: Berlin-Verlag, Matthes & Seitz, Suhrkamp, Reclam Leipzig, Hanser, zuletzt Rogner & Bernhard, wo mir eine Praktikantin den Papierstapel zurückgab. Vermutlich hat’s da keiner gelesen, aber es sah trotzdem so aus, als hätten sie den Fußboden damit gewischt. Man hat als Autor nicht viel Geld, aber eine Menge Schmierpapier.
Die Absagen, die man auf meiner Homepage lesen kann, sind authentisch. Der Roman wurde abgelehnt als zu anspruchsvoll und „auf dem Markt nicht durchsetzbar“. Also, wenn man das Manuskript nicht in einem heiligen Ritual verbrennen will, was kann man tun? BoD war einfach der Weg, den Roman so herauszubringen, wie ich ihn wollte. Es hat mich natürlich auch gereizt, daß man die Covergestaltung selbst übernehmen und so eine Art Gesamtkunstwerk schaffen kann. Ich wollte unbedingt diesen Masereel-Holzschnitt! Und ich verstand BoD dann als eine Art Independent-Bewegung, die es erlaubt, gewisse Mechanismen des Betriebs zu unterlaufen. In der Musik geschieht ja derzeit Ähnliches, es gibt aufregende Bewegungen außerhalb der herkömmlichen Strukturen der Industrie. Im Internet hat ja gerade die kreative Schnitzeljagd für Furore gesorgt, die Trent Reznor für die letzte Nine Inch Nails-Platte veranstaltet hat. Ganze Alben werden nur noch im Internet zugänglich gemacht, die Einstürzenden Neubauten haben dieses System etabliert, Musik mit direktem Support durch Fans zu produzieren, jede Myspace-Seite bietet Hörproben, Musiker-Blogs geben bislang ungekannte Einblicke in das künstlerische Schaffen, kurz, die graben den Schacht von Babel da.
Literatur-Feder: Vito von Eichborn ist seit März 2006 neuer Herausgeber der Edition BoD, einer Buchreihe, in der außergewöhnliche BoD-Titel präsentiert werden. Ihr Buch wurde in diese besondere Buchreihe aufgenommen. Nun gilt Herr Eichborn als einer der innovativsten Buchmacher in der deutschsprachigen Literaturlandschaft mit einem feinen Gespür für hoffnungsvolle Autoren. Was bedeutet diese Aufnahme für Sie?
Christian Erdmann: Das war ein echter Schock. Und natürlich eine große Ehre.
Literatur-Feder: Konnten Sie bereits im Vorfeld damit rechnen, in diese Buchreihe aufgenommen zu werden?
Christian Erdmann: Nein, das kam aus heiterem Himmel. Ich hatte nur die Vorstellung, daß das Buch schon seinen Leser finden wird, aber abgesehen von der Website bestand meine Promotion darin, im Forum eines Nachrichtenmagazins zu schreiben, wobei ich das Buch aber nie offensiv bewarb. Man streitet da über Politik oder diskutiert Filme. Nach einer Weile kamen die ersten Emails von anderen Teilnehmern dort, die sich fragten, was ist das denn für einer, und über mein Userprofil die Website gefunden hatten. Die fragten dann nach dem Roman und wie man ihn bekommen kann. Die ersten Reaktionen auf das Buch waren sehr bewegend. Wenn dir ein Leser sagt, der Roman hätte sein Leben verändert – das geht schon unter die Haut. Daß mir dann plötzlich Vito von Eichborn ein Vorwort schreiben würde, in dem er erklärt, das sei literarisch das Beste, was er seit langem gelesen habe – nein, hätte ich nicht gedacht. Wenn das Buch sich durch Kanäle bewegt, die du nicht mehr kennst, wenn du nicht mehr weißt, wo die Flüsterpropaganda flüstert, dann merkst du, es ist auf dem Weg. Aber dem, der da nächtelang vor sich hin schrieb ohne Vorstellung davon, wo das hinführen soll, verschlägt das erstmal den Atem.
Literatur-Feder: Erscheint Ihr nächstes Buch ebenfalls als BoD?
Christian Erdmann: Erst einmal will es geschrieben sein. Dann sehen wir weiter.
Literatur-Feder: Wie viele Jahre Vorarbeit haben Sie für Ihren Roman investiert?
Christian Erdmann: Vorarbeit im eigentlichen Sinne gab es nicht. Es gab nur Arbeit. Ich habe an dem Roman geschrieben, bis er fertig war, und dann habe ich an einer neuen Fassung geschrieben – vielleicht drei- oder viermal. Allerdings habe ich nicht kontinuierlich daran gearbeitet. Eine erste Fassung war Ende der 90er fertig, aber sie ist nicht mehr zu vergleichen mit dem jetzigen Roman. Das, was jetzt „Aljoscha der Idiot“ ist, entstand zwischen 2002 und 2004. Das stand dann für mich schon unter dem Vorzeichen BoD. Und das hieß: keine Beschränkungen im Hinblick auf das, was „auf dem Markt durchsetzbar“ ist. Die Überarbeitung der Erstfassung bestand darin, alles viel kompatibler zu machen. Und dann habe ich den ganzen Prozeß langsam wieder umgedreht. Entweder sagt man die Dinge so, wie man sie sagen will, oder man läßt es.
Ich glaube ja an die ganz alten Geschichten. Wie Rimbaud mit „Eine Zeit in der Hölle“ zum Drucker gegangen ist, den bezahlt hat, und dann ist die Auflage in Brüssel verrottet. Das ist groß! Irgendwann stand ich dann in Paris vor dem Haus, in dem Lautréamont verhungert ist. Ich sagte mir, was der kann, kann ich auch. Und gab mein letztes Hemd für BoD.
Literatur-Feder: Vor nicht allzu langer Zeit galt der Aufenthalt des Dichters im sogenannten Elfenbeinturm als Symbol für eine verfehlte Einstellung, die lediglich als „Flucht aus der Wirklichkeit“ angesehen wurde. Im letzten Jahrzehnt hat sich an der Einstellung offensichtlich etwas geändert. Man bedenke das Anwachsen der phantastischen Literatur auf dem Markt.
Welche Aufgabe hat ein Autor heute Ihrer Meinung nach?
Christian Erdmann: Jeder Autor muß selbst entscheiden, wo sein Weg ist. Ich kann nur für mich selbst sprechen. Und nur für dieses Buch. Und dann ging es vielleicht darum: sagen, was bisher noch nicht gesagt wurde. Oder etwas so sagen, wie es bisher noch nicht gesagt wurde. Sich dem Unsagbaren annähern. Sie kennen sicher den Zustand, wenn zwischen Traum und Wachen das Gehirn auf Hochtouren läuft. Vielleicht sind wir dann die besten Literaten.
Die Flucht aus der Wirklichkeit gibt es ja eigentlich gar nicht. Jeder angeblich Flüchtende entdeckt da, wo er ist, eine andere Facette der Wirklichkeit. Wenn wir alle mit den alltäglichen Einschätzungen zufrieden wären, bräuchte es keine Literatur. Insofern bedeutet Literatur immer, neben der Realität zu liegen. Auch „Realismus“ ist nur ein Stil, nur vielleicht die schwächste Form des Danebenliegens. Zu dem, was uns als Antwort vorgelegt wird, keine neue Fragen finden, das ist der eigentliche Elfenbeinturm. Und die subversive Kraft des Danebenliegens ist es, neue Wirklichkeiten zu erschließen.
Für mich selbst funktioniert Schreiben wie eine Fahrt in der Geisterbahn. Ich möchte nicht schon vorher genau wissen, was am Ende herauskommt. Man fährt zwar auf einer Schiene, aber man weiß nicht, was man unterwegs trifft. Andere nicht langweilen, aber auch sich selbst nicht langweilen, wie Billy Wilder sagte.
Zum Roman
Literatur-Feder: Der Roman findet in der Gegenwart statt, in einer Gegenwart, würde man besser sagen. Aber Errungenschaften der Gegenwart spielen, wenn man vom Walkman einmal absieht, im Roman so gut wie keine Rolle. Gibt es Gründe?
Christian Erdmann: Oh, Aljoscha benutzt auch ein Telefon! Und der ganze Ablauf beginnt ja damit, daß Aljoscha einen Horrorfilm von 1942 sieht. Also gibt es auch Fernsehen… es gibt schon Errungenschaften der Moderne, aber es ist mehr wie bei Cocteau, wenn der Tod durchs Autoradio spricht. Die eine Gegenwart, in der das alles spielt, ist unbegrenzt und sozusagen panoramisch geöffnet, für Botschaften, die aus anderen Zeitebenen zu kommen scheinen, für Mythologie. Mir ging es auch darum, wenigstens anzudeuten, daß jede Situation ein unendlich komplexes Geflecht von Bezügen ist, praktisch unauslotbar. Um die Situation in 80 Perspektiven, gewissermaßen. Es spielt sich etwas ab, für das die Moderne eigentlich keinen Platz hat – ein magisches Ritual. Und alles, was Aljoscha begegnet, scheint einen Bezug zu diesem Ritual zu haben, es gibt überall Verbindungen und den totalen Zusammenhang der Ereignisse in einer scheinbar magischen Ordnung. Das, was Breton mal „die unwahrscheinliche Mitwirkung“ nannte. Aljoscha merkt, daß er aus der normalen Welt herausfällt, und die Dinge der normalen Welt haben keine Bedeutung mehr… sofern sie keine Bedeutung in Bezug auf das haben, was ihn mit dieser rätselhaften Frau verbindet, seiner Obsession. Aber gut, ein Rezensent schrieb, Aljoscha wirke, als hätte ihn ein böser Geist aus der Pariser Belle Epoque herausgerissen. Er hat wahrscheinlich ein paar Anlagen, die ihn in der Gegenwart ein bißchen deplatzieren. Aber vielleicht prädestiniert ihn das auch für die Erfahrung, die er macht.
Literatur-Feder: Im Zusammenhang mit der Bibliotheca Medicea Laurenziana in Florenz, die von den Protagonisten aufgesucht wird, sprechen Sie von „Schöner Wohnen für den Weltgeist“.
Hat der Weltgeist Ihrer Meinung nach in den modernen Lesesälen mit Buchbestellterminal etc. nichts zu suchen, bzw. findet er dort keine angemessene Behausung?
Christian Erdmann: Doch, nur hat man manchmal den Eindruck, er schwirrt da etwas aufgescheucht herum. Das Ganze ist ein bißchen ironisch gemeint. Das ist vielleicht eine der Passagen, wo der Leser sich zu fragen beginnt: meint der das alles ernst? Dann kommt er wahrscheinlich darauf, daß manches ironisch gemeint ist. Das stimmt, aber auf einer dritten Ebene ist hinter der Ironie alles wieder todernst gemeint.
Diese Reihen von Büchern, die man über Jahre hinweg zusammengetragen hat, und jedes einzelne präsentiert seine Aura, das ist doch einfach ein wunderbarer Anblick. Vor einer Weile las ich ein schönes Plädoyer für die Macht der Bücher, „Der Club Dumas“ von Arturo Pérez-Reverte, die Vorlage für diesen Polanski-Film mit Johnny Depp, „Die neun Pforten“. Diese leidenschaftlichen Bücherjäger, diese einzigartigen alten Ausgaben mit einzigartigen Geheimnissen, hinter denen alle her sind, mittendrin die aufregendsten Frauen, nicht minder geheimnisvoll, ich meine, da möchte man doch eine der Romanfiguren sein.
Bob Dylan hat mal gesagt, das Internet sei ihm unheimlich, und er fürchte immer, daß da irgendwann eine Hand durch den Monitor kommt und nach ihm schnappt. Gut, der Mann denkt in Metaphern. Der schnelle Zugriff auf Informationen im web, der Austausch, die Vernetzung, all das ist ein unbezahlbarer Vorteil. Aber es fehlt die Tiefendimension, die ein Buch hat. Wenn du ein Buch von Baudelaire in der Hand hast, ist Baudelaire dein Zeitgenosse. Dinge wie Wikipedia machen zwar klar, daß wir alle der Weltgeist sind, aber andererseits glaube ich an den Genius Loci. Die Atmosphäre eines Ortes und die eigene Stimmung, da gibt es eine Wechselwirkung. Sakralbauten haben die Funktion, dich einzustimmen, dir irgendeine Art von Empfänglichkeit zu schenken. Ich mag es, wenn man eine Bibliothek betreten kann wie einen Sakralbau.
Literatur-Feder: An welche Zielgruppe richten Sie sich? Lässt sie sich benennen?
Christian Erdmann: Naja, an jeden, der das Gefühl hat, hinter dem perfekt aufgeführten Theaterstück der Normalität toben noch ganz andere Mächte. Alle, die an irgendeine Art von Bestimmung und an Liebe als höchste Form der Magie glauben, sollten diesen Roman lesen. Jeder, der mal gedacht hat: Liebe ist anders, unvorstellbar anders. Alle, die daran glauben, daß die Reise in die Mitte der Wirklichkeit einen Auslöser auf zwei langen Beinen hat. Und jeder, der sich über das freut, was man mit Sprache anstellen kann. Es gibt doch diesen Song, „Man Out Of Time“. Dies hier ist ein „Book Out Of Time“. Es kennt den Zeitgeist nur vom Hörensagen. Manche empfinden den Sprachduktus als altmodisch, benutzen dann aber im nächsten Satz das Wort „postmodern“. Was kann ich sagen?
Literatur-Feder: Im Zusammenhang mit Äußerungen zu Wittgenstein fällt der Satz: „Positivismus ist das, was man seiner Oma erzählen kann“. Wie sehen Sie den heutigen oder kommenden Weg des Denkens?
Christian Erdmann: Als ich Arbeiten für mein Philosophiestudium schrieb, haben die Professoren mir immer gesagt: sehr schön, aber passen Sie auf, daß Sie nicht zu poetisch werden. Und dann habe ich einen Roman geschrieben, der einem Lektor „zu philosophisch“ war. Meine Idee ist, Poesie war immer schon eine Art Philosophie, aber Philosophie muß noch mehr als eine Art von Poesie verstanden werden. Denn alles wir tun, in welcher Disziplin auch immer, das ist, daß wir uns Geschichten erzählen. Es gibt keine Wahrheit, die man verabsolutieren könnte. Perspektivismus ist heilsamer als Dogmatismus. Ich behaupte in meinem Roman ein paar Wahrheiten über diese Welt, aber letztlich ist es nur meine Sicht, meine Erfahrung. Wenn das neue Räume öffnet für jemanden, wunderbar. Wir können uns nur annähern, aber das Streben an sich ist erotisch.
Literatur-Feder: Wie gehen Sie mit dem Vorwurf um, dass die Fülle der zur Sprache gebrachten Kenntnisse gelegentlich die Handlung zu überwuchern scheint?
Christian Erdmann: Das wird ja oft ironisch gebrochen, beispielsweise in den ganzen bizarren Majakowski-Zitaten, die ja völlig unsinnig wirken. Auch wenn sie im Aljoscha-Zusammenhang dann wieder Sinn ergeben, werfen sie auf Aljoscha sicher nicht das Licht eines von seiner eigenen Bildung Ergriffenen. Es gibt auch Passagen, in denen zwei Leute in einem Raum sitzen und ziemlich behämmert versuchen, den ganzen Lauf der Dinge zu verstehen. Andererseits ist die Fülle dessen, was da auf Aljoscha einströmt, aktiver Teil der Handlung selbst. Wenn da die Professoren in ihren Vorlesungen Botschaften mitteilen, die Aljoscha in seinen eigenen persönlichen Bedeutungszusammenhang fügt, dann ist das so, als hätten die Dinge hinter den Dingen eine eigene Stimme. Man kann sie halt nur nicht in den Credits aufführen, sozusagen.
Literatur-Feder: Eigentlich erübrigt sich die Frage nach Vorbildern, Einflüssen. Sie werden im Roman in der Regel genannt. Gibt es trotzdem Schwerpunkte? Welche Rolle spielt Kierkegaards „Tagebuch des Verführers“ für einen gewissen Handlungsteil?
Christian Erdmann: Kierkegaard war kein direkter Einfluß. Ich sehe, was Sie meinen, es gibt vielleicht gewisse Parallelen, aber Aljoscha ist kein distanzierter Ästhetiker. Natürlich ist die schöne Unbekannte Projektionsfläche seiner Phantasien. Aber es ist ja nicht so, daß Aljoscha dabei zugleich systematisch auf der Flucht vor der Liebe wäre, daß er bei alldem nur einen letztlich hedonistischen Reiz auskostet.
Die Parallele liegt sicher darin: Aljoscha erlebt, wie ihm ein Ideal erscheint, und er spürt ihm nach, er wird zum akribischen Beobachter, jedes Detail aus dem Leben dieser Frau wird sein Fetisch, jeder ihrer Bewegungen folgt ein Sturzbach von Bedeutungen. Der Unterschied: Beobachtung ja, aber Kontrolle, Machtausübung? Nein. Planmäßiges Verführen? Nein. Die Frau wird nicht zum Opfer seiner diabolischen Inszenierung. Im Gegenteil lernt Aljoscha die ganze Zeit, daß es immer etwas gibt, das ihm voraus ist. Er läuft ständig hinterher, das ist sein Grundgefühl. Da ist etwas, das mit äußerster Raffinesse vorgeht, aber dieses Etwas ist nicht er selbst. Es ist etwas anderes, das da steuert, nicht er selbst.
Beim Verführer Kierkegaards gibt es diese latent sadistische Komponente, die Machtausübung über ein Objekt. Für Aljoscha ist es eher masochistischer Suspense, in einer Verführung, die, wenn schon, wechselseitig ist.
Auch verläßt Aljoscha eigentlich nie die moralische Ebene. Für den Verführer ist Zweisamkeit ja keine Perspektive. Für Aljoscha beginnt aber genau da das Dilemma. Er ist voller Skrupel, eigentlich ein durch und durch ethischer Charakter. Er fühlt sich schon schuldig, bevor er sich schuldig gemacht hat. Erst als er wirklich begreift, daß die Realität tatsächlich mit seinem Phantasma identisch ist, stellt sich ihm auch die Frage, ob Schuld überhaupt ein sinnvolles Wort ist.
Es gab eigentlich keine direkten literarischen Vorbilder, obwohl es Passagen gibt, die ich meine Thomas-Mann-Passage nenne oder meine Francois-Villon-Passage. Einflüsse dagegen gibt es unendlich viele, natürlich. Man kann aus allem etwas Brauchbares ziehen. Aus einem alten Chemiebuch habe ich einiges über Metamorphose gelernt. Musik war natürlich auch ein Einfluß. Ich habe mal gelesen, Musik kann das Gehirn in einen Zustand versetzen, in dem es neue „patterns of speech“ entwickelt. Das habe ich zuweilen ganz banal instrumentalisiert. Die Suche nach Flauberts „mot juste“… statt wie Flaubert in den Teppich zu beißen, habe ich mir Kopfhörer aufgesetzt. Und manchmal hat mich die Atmosphäre eines Stücks wie „Boy Child“ von Scott Walker oder „Frozen Warnings“ von Nico genau dahin geführt, wo das Wort oder das Bild war.
Literatur-Feder: Könnten Sie uns etwas über die Gründe zur Wahl des Titels sagen?
Christian Erdmann: Zuerst hieß der Roman „Die Katzenmenschenfürstin“. Freunde, die das Manuskript gelesen hatten, sagten mir aber, das klinge zu sehr nach Fantasy und zu historisierend. Daß es dann „Aljoscha der Idiot“ wurde… Aljoscha hat das Gefühl, das Leben hat eine innere Struktur, die aufregend und bedeutsam ist, ein geheimes Muster der Existenz. Nur, er kapiert es lange nicht. Er weiß nicht, ob er zu äußerster Klarsicht oder zu äußerster Unzurechnungsfähigkeit vordringt. Und das, was er versteht, versteht er eben etwas anders. Das ist, wovon im Buch gesagt wird, es ist das Russischste am Russen – alles etwas anders verstehen. Alles etwas anders tun. Er geht eben nicht auf diese Frau zu und fragt sie: „Wollen wir nicht mal einen Kaffee zusammen trinken?“ Das hätte alles zerstört.
„Idiot“ ist auch kein klassisches Schimpfwort für mich. Nicht seit Dostojewski. Es ist nicht negativ gemeint, es bezeichnet nur einen, der eben ein bißchen ein komischer Heiliger ist.
Literatur-Feder: Die Handlung erstreckt sich über neun Monate. Warum haben Sie sich für die Romanform entschieden, wenn sich die relative Kürze der Handlung auch in einer Erzählung hätte wiedergeben lassen?
Christian Erdmann: Es geht um die Vorstellung von Mustern, die vielleicht einerseits Produkt unserer unbewußten Sehnsüchte sind, die uns dorthin bringen, wo etwas in uns schon immer hin wollte, und die uns andererseits irgendwie von außerhalb unserer selbst am Wegesrand Zeichen geben. Wir verändern die Muster, die Muster verändern unsere Realität. Um all das darzustellen, hätte die komprimierte Form der Erzählung nicht ausgereicht. Die Situationen, die dem Protagonisten mit Bedeutung aufgeladen scheinen – sie werden beschrieben, aber es war auch der Versuch, das in die Sprache selbst eindringen zu lassen. Auch die Worte und Sätze, die Aljoschas Realität beschreiben, sind mit Bedeutung aufgeladen. Die Geschichte, die Handlung selbst, ist nicht übermäßig ausgefallen. Wie sie beschrieben wird, das ist ungewöhnlich. Die Ebenen in Aljoschas Wahrnehmung haben eine Entsprechung in der Sprache. Bis zu dem Punkt, an dem die Vermischung von Realität und Phantasie, von Traumzeit und Echtzeit, von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, auch den vermeintlich auktorialen Erzähler völlig sabotiert. Aljoscha hat keinen Zweifel am kausalen Geordnetsein der Welt… aber er spürt einer genuin anderen Kausalität nach als der bekannten. All das, all diese Sequenzen und Koinzidenzen, ist in die Sprache eingewoben, diese ganze Textur. Manche Worte am Ende erklären manche Worte am Anfang. Das entspricht Aljoschas Gefühl, die Gründe für seine Gegenwart kommen aus der Zukunft. Eine Erzählung hätte all das nicht erlaubt. Konventionelle Erzählweisen werden immer wieder aufgebrochen, um darzustellen, wie Aljoschas Realität aufgebrochen wird, und wie sein Blick darauf sozusagen explodiert. Als würde eine Polaroidkamera in einen Haufen Polaroids explodieren, die sich gegenseitig anstarren.
Literatur-Feder: Den Protagonisten fehlt die Dimension der biografischen Vergangenheit nahezu völlig. Welches Konzept verfolgen Sie damit?
Christian Erdmann: Naja, es gibt schon Rückblenden, die helfen, den Punkt zu erklären, an dem Aljoscha und Leda jetzt stehen. Aber es stimmt, auch diese Rückblenden können von dem Punkt aus gesehen werden, an dem die Gegenwart für Aljoscha sich wie ein Universum ausdehnt. Die biografische Vergangenheit der Katzenmenschenfrau kennt Aljoscha ja lange nicht. Darum ist sie ja die Katzenmenschenfrau.
Literatur-Feder: „Wer auch immer dieses (das wiederholte Lesen) auf sich nimmt, der bekommt einen glücklichen Ausdruck im Gesicht“. Dies die Ankündigung des Herausgebers Vito von Eichborn. Hätten Sie eine Vorstellung davon, wie es zu diesem glücklichen Ausdruck kommen könnte?
Christian Erdmann: Ein ratloser, befremdeter Ausdruck ist sicher auch denkbar… ein „Hä?“ aus tiefstem Herzen. Ein Leser schrieb mir, bei vielen Büchern suche man die Nadel im Heuhaufen, während mein Buch ein Nadelhaufen sei. Manche sagen, der Einstieg in den Roman fällt schwer, und ich sage dann, wenn Sie die ersten 50 Seiten schaffen, kann Sie danach nichts mehr schrecken. Manche sagten mir: und dann kam diese Sogwirkung. Für mich ist das schwer zu beurteilen. Es scheint, entweder legt man das Buch schnell wieder weg, oder man läßt sich auf eine vielleicht schwierige, aber tiefgehende Erfahrung ein. Der glückliche Ausdruck, der kommt, wenn man Lust hat, sich von einem Buch ständig überraschen zu lassen. Wenn man sich zunächst fragt, wie kommt denn das jetzt da hin, dann aber alles plötzlich Sinn ergibt. Auch, daß Tarotkarten eine Konferenz abhalten, die aus dem Ruder läuft. Ein Theaterstück, mittendrin. Es ist überhaupt viel drin. Ich möchte an dieser Stelle Lotte Lenya zitieren: „Da wird was geboten für sein Geld!“
Literatur-Feder: Wir wünschen dem „komplexen Gespinst aus Gedanken und Gefühlen“ (Zitat: Vito von Eichborn) und seinem Autor weiterhin viel Erfolg!
Christian Erdmann: Ich bedanke mich ganz herzlich und wünsche Ihrem Magazin dasselbe!
Das Interview führte Marlies Eifert zusammen mit Markus Fifka.
In der Galleria del Costume kam der Geist über Leda. Sie bewunderte die alten Stoffe, den Schnitt früherer Moden, sie studierte die Qualität der Verarbeitung und ignorierte, Zeichen der Ekstase, zwei oder drei Berühren verboten. Ihr Entzücken war ein sachverständiges, und ein schwarzes Charleston-Kleid wurde nicht von einem lasziven Vamp mit Perlenkette und Zigarettenspitze vorgeführt, sondern von der weißen Puppe Nr. 40. Aljoscha aber beschäftigten solche Fragen: welche Contessa hatte einst diese unfaßbar zierlichen Handschuhe von ihren unfaßbar grazilen Händen gestreift? Auf welches Bein hatten diese Spitzenstrümpfe ein Ornament im spätgotischen Flamboyantstil gezeichnet? Erweiterte die eingeengte Taille das Bewußtsein?
„Ein schwarzer Seidenstrumpf ist wie eine Glasur“, erklärte Aljoscha ungefragt. „Eine Glasur aus Dunkelheit. Geschmolzene Dunkelheit. Die Dunkelheit geschmolzener Träume. Auf dem Bein wie Blattgold auf einer Ikone. Sakraler Glanz eigentlich. Die Haut unter dem Glanz wird unberührbar. Durch den Schutz betont, durch die Betonung geschützt. Stiefel aus göttlichem Lack. Schwarze Rüstung als bloße Idee.“
„Ein Seidenstrumpf ist ein Kleidungsstück, Aljoscha.“
„Festgezurrt wie das Jagdkleid der Artemis! Schwarzes Licht, das sich über einen Schenkel ergießt! Unterweltsgöttinnenhülle!“
Christian Erdmann, Aljoscha der Idiot
Der Zug rast in den Sandsturm
Im Schatten einer Klapperschlange
Spielt sich nicht viel ab
Schwarzes Kleid auf heller Haut
Woher kommt das Mädchen?
Woher kommt das Mädchen?
Der Horizont verbiegt sich in der Hitze
Skelette klopfen an die Hintertür
Pferdeschrecken frißt den Klang
Von Bottleneck auf E
Wohin geht das Mädchen?
Wohin geht das Mädchen?
Reptilien kriechen durch den Korridor
Wolken brennen an den Rändern
Jemand sein im Niemandsland
Gefährte dieser Steppenhexen
Das Mädchen kommt zu mir
Das Mädchen kommt zu mir
Chiffon zitterte vom Herzschlag
In einem nie gedrehten Louise Brooks-Film
Der Mond hat einen Doppelgänger
Kein Organ ist kälter als Gehirn
Wohin führt das Mädchen?
Wohin führt das Mädchen?
Was ist es, das sie tun in Zimmer 16
Todesvogel landet hier auf ihrem Arm
Und flattert wieder fort
Das ist es, was sie tun in Zimmer 16
Das Mädchen macht
Das Mädchen macht
ihn ab, den Himmellack
Sehr weit unten warten wohl die Kraken
Auf die Proportionen eines Abgerutschten
Wo sind sie hin, die blinden weißen Fische
Die an meiner letzten Planke lutschten?
Sternvertäut, wie auf dem Deckel meines Sargs
Und nicht geneigt, in diesen Schlund zu sinken
Auf dessen Grund noch nie ein Auge sah
Wo die matten Arme der Ertrunkenen winken
Der bleiche Mond, erbarmt er sich?
Er malt mir eine Silberstraße auf die Wogen
War nicht schon einer, der auf Wasser ging?
War nicht einer, schlimmer noch als ich betrogen?
Als wär’s der süße Leib Kalypsos
Umschling‘ ich dieses Holz auf sieben Meeren
Und wenn kein Strand mehr mich als Treibgut will
Werd‘ ich noch lang den Nymphenleib beschweren
Ach! Zu kalt das Herz für alle Träume
Zu hart das Holz für einen Nymphenschoß
Zu mitleidlos der Plan der Fluten
Zu nah das Grab für einen Leichtmatros‘.
Rezension #6
Marlies Eifert über „Aljoscha der Idiot“ von Christian Erdmann
erschienen in: Literatur-Feder Magazin, Ausgabe 5, Juni 2007
Neueste Studien enthüllen, wie Frauen auf Liebeskonkurrenz reagieren: mit Rache und Vergeltung. Für Leda, die Freundin des Protagonisten Aljoscha Tuschkin, gilt dies keineswegs. Sie erklärt ihrem Geliebten ihre unverminderte Liebe, auch als der von einer Begegnung im Vorlesungsraum erzählt, die ihn stark beeindruckt habe. Diese Begegnung, das ist für den Leser und auch für Leda zu spüren, wird sein Leben von Grund auf verändern.
Ebenso wie Fürst Myschkin (1) wird „Aljoscha der Idiot“ einerseits als Lichtgestalt, andererseits als Unheilsträger bezeichnet, und es ist bis zu den letzten Seiten des Romans nicht sicher, ob er nicht ebenso die andere, ob er nicht auch „SIE“, wie sie im Roman genannt wird, ins Unglück stürzen wird…
Aljoscha Tuschkin ist Student. Und als solcher sammelt er Wissen ein. Über Kant z.B. oder Wittgenstein, Kierkegaard. (2) In der Metro liest er Hegel. Vorlesungen über Rembrandt, Poussin, Dürer werden erwähnt, Theologie-Vorlesungen. Der Student verschafft sich Kenntnisse über Legenden, über antike Mythen, Belletristik. – Die russische Literatur spielt eine Rolle, aber auch Sartre, Simone de Beauvoir. Nicht zu vergessen die Musik: Sacre du Printemps, aber auch Nick Cave. Eine vollständige Aufzählung ist hier nicht angestrebt.
Nun muss man sich nicht vorstellen, dass dieses Wissen schulmäßig an den Leser weitergegeben wird – etwa so, wie das ein Professor tut, der das Rednerpult verlässt, im Vorlesungsraum spazieren geht und „ex cathedra“ über Dinge berichtet, die eigentlich mit dem Thema, der Handlung, wenig zu tun haben.
Vielmehr: Das Wissen dient dem, worum es in der „Handlung“ geht, als Deutung, als Interpretation, als Metapher.
Aljoscha – wie gesagt – hört eine Vorlesung über Poussin. Dies ist keineswegs zufällig. Bei Poussin spielt die Mythologie eine besondere Rolle. Echo und Narziss bilden im Roman eine Metapher für die Beziehung zwischen Aljoscha und der Frau, der er in der Vorlesung immer wieder begegnet. Für sie gibt es viele Namen: Maria Magdalena, Katharina oder wie sie am häufigsten genannt wird: Katzenmenschenfrau.
Auch die Metamorphosen des Apuleius werden in der Vorlesung genannt. Aljoscha identifiziert sich mit dem „eseligen“ Lucius (3), dem die Göttin Isis erscheint.
Die Mythologie dient ganz offensichtlich zur Umschreibung der Faszination, die von der Frau ausgeht.
Alles in allem hat man den Eindruck, das Wissen wird in einen Becher gegeben, durcheinander gewürfelt und neu figuriert. Vieles hat eine Bedeutung innerhalb der Handlung, die sich für den Leser erst erschließen lassen muss. So erinnert der Titel des Romans an Dostojewskis Roman „Der Idiot“ oder der Name Aljoscha an eine Figur aus „Die Brüder Karamasow“.
Was ist Wirklichkeit, was die „eigentliche“ Wirklichkeit?
Da ist ein Student, der seit 10 Jahren „liiert“ ist mit Leda, einer Textilrestauratorin. Es ist mehr als eine Liaison: Aljoscha und Leda glauben an das Unbedingte der Liebe. Es gibt nur eine Welt, in der beide zu Hause sind. Dann trifft Aljoscha auf Katharina. Es geschieht wenig, denn erst nach 152 Seiten kommt es zum Blickkontakt, nach 262 Seiten lässt sich so etwas wie ein Gespräch erkennen. Obwohl „eigentlich“ nichts geschieht, entfernt sich Aljoscha von Leda, lässt in Gedanken und Gefühlen immer mehr von Katharina zu. Leda bezieht eine Wohnung, die Aljoscha restauriert, Aljoscha findet eine Wohnung ganz in der Nähe von Katharina.
So könnte man die Tatsachen umschreiben.
Aber wie sagt der Autor: „Erkenntnis ist kein Abbild von Tatsachen“. „Dieselbe Menge von Sinnesdaten kann auf verschiedenste Weise wahrgenommen werden.“
So würde die Beziehung, die sich zwischen Aljoscha und Katharina innerhalb von neun Monaten aufbaut, von außen kaum wahrgenommen werden können.
Nichts anderes geschieht, als dass Aljoscha und Katharina in verschiedenen Vorlesungen eine bestimmte Sitzordnung einnehmen. Für sich genommen bedeutet diese Tatsache wenig. Jedoch für Aljoscha und auch für Katharina – wie sich später herausstellen sollte – viel. So viel, dass darüber eine Beziehung mit Anspruch auf „Ewigkeit“ aufgegeben wurde. Der Ritus dieser Sitzordnung stellt einen Code dar, der außerhalb der Kommunikationsform „Sprache“ zu finden ist.
Das Sitzordnungsmotiv und das Katzen-Ritus-Motiv, beides durchzieht den ganzen Roman. Angefangen von „Cat People“ von Bowie bis zu Bastet, der ägyptischen Katzengöttin.
Katzen leben und lieben Riten, gleich ob es sich dabei um einen Panther handelt, um die Sphinx oder um die schwarz gekleidete Katharina mit spitzen Eckzähnen.
Man muss den Roman zweimal lesen – zum mindesten, um zu erkennen, wie viel Anfang im Verlauf der Handlung und im Ende enthalten ist. Motive aus dem Film „Katzenmenschen“, in dem Aljoscha IHR oder einer Vorstufe von IHR – wenn man so will – zum ersten Mal begegnet, durchziehen den Roman: Raubtier, Einsamkeit, hohe Absätze, das schwere und süße Parfum.
„Wehe dem, der Symbole sieht“ sagt der Erzähler. Aber: Nur Leser, die Symbole „sehen“ können, werden sich in die Handlung hineindenken können. Nur wenn sie Freude an Andeutungen, Umdeutungen, Beziehungsgeflechten, Metaphern, kurz an einer Polyphonie von Wirklichkeitsebenen haben und sich außerdem durch lange Sätze, die sich gelegentlich über mehrere Seiten hin erstrecken, nicht irritieren lassen, werden einen Zugang zur Welt Aljoschas haben.
Puschkin, Tuschkin, Myschkin – natürlich handelt es sich nicht um einen zufälligen Gleichklang! Zwischen Dostojewskis „Der Idiot“ und Christian Erdmanns „Aljoscha der Idiot“ bestehen, wie gesagt, Zusammenhänge.
Während Dostojewski eine Rede halten konnte im Gedenken an Puschkin, kann die Rezensentin lediglich hoffen, dass viele Leser ein Wahrnehmungsorgan, ein Auge haben werden für den Roman über Aljoscha den Idioten, oder wie man gewiss auch sagen kann: für diesen neuen Stern am Himmel der Literatur der Gegenwart.
_____
(1) aus Dostojewski: Der Idiot
(2) Speziell die Kierkegaard-Lektüre war für den Verfasser offensichtlich bedeutsam. Zwar wird das „Tagebuch eines Verführers“ nicht genannt, aber Kierkegaard-Kenner dürften in Handlungsteilen das ein – oder andere in verwandelter Form wiedererkennen.
(3) Eine Gestalt aus Apuleius: Metamorphosen
(c) 2007 by Marlies Eifert
100 Menschen in der Zitadelle, als der Spuk begann
Wie ein Mysterienspiel, ein Traum in Acht und Bann
90 Menschen in der Zitadelle, „Wir sind alle nur Statisten“
Sagt ein Abbild der Maria, keiner weiß um den Protagonisten
80 Menschen in der Zitadelle, wie doch die Zeit schlafwandelt
Und die erste Schöne findet ihr Portrait verschandelt
70 Menschen in der Zitadelle, zu viele Zeitgenossen in der Menge
Schwanken wie gebrochene Versprechen durch die Gänge
60 Menschen in der Zitadelle, Schaufensterpuppen nähren Parasiten
Ein Zimmer wird verdunkelt für sonderbare Riten
50 Menschen in der Zitadelle, Worte aufs Geratewohl, Schüsse in den Mond
Masken fallen unerwartet, Augen plötzlich unbewohnt
40 Menschen in der Zitadelle, gezinkte Karten und ein Trick
Am Tisch von Tod und Teufel, aus dem Halbdunkel ein Blick
30 Menschen in der Zitadelle, Wahrheiten sind frei zum Umtausch
Die Göttin mit dem Phlegma schaukelt hin und her im Rumrausch
20 Menschen in der Zitadelle, für die Gesetze dieser Stätte blind
Die Angst, sie weht in mir wie eisig kalter Wind
15 Menschen in der Zitadelle, Augenlider schwarzgemalt geschlossen
Stirbt die Unschuld, Giftkuß unter ihre Haut geschossen
14 Menschen in der Zitadelle, Wirklichkeitsdarsteller suchen Sinn
Und jeder mit „Ich weiß es!“ auf den Lippen fährt dahin
13 Menschen in der Zitadelle, unter den sinistren Zinnen kein Warum
Die Gelassenen und die Ausgelassenen stehen still, für immer stumm
12 Menschen in der Zitadelle, ein dunkler Keller, wo es dumpf rumort
Während die Spirale der Gefühle unaufhaltsam abwärts bohrt
11 Menschen in der Zitadelle, dem Geisterseher wird der Kopf verdreht
Er schreit um Hilfe in der Sprache, die nur er versteht
10 Menschen in der Zitadelle, der Mann mit den distanzgewohnten Augen
Zu schwach, um Liebe aus Verheißungen zu saugen
9 Menschen in der Zitadelle, all die süßen Stimmen täuschen hier
Ihr Blick folgt mir seit Babylon, und schweigend folgt sie mir
8 Menschen in der Zitadelle, vergessener Nomade, Schuld im Herzen
Niemand wacht mit dir im Ring aus hundert Kerzen
7 Menschen in der Zitadelle, der Hieroglyphenleser sucht den Säulengang
Dunkle Kolonnaden, dreizehntausend Nächte lang
6 Menschen in der Zitadelle, der Schwadroneur, der nur sich selbst erregt
Eine trockene Knochenhand auf seine Brust gelegt
5 Menschen in der Zitadelle, der Mond ist blutig heute nacht
Stundenloses Zimmer, ihre Beine zittern, was hat uns hierher gebracht
4 Menschen in der Zitadelle, der letzte Zweifler steht auf einer Brücke
Sein gläsernes Gewissen zerspringt in tausend Stücke
3 Menschen in der Zitadelle, am Rand der Zukunft jagen Schattenwächter
Heimwehkranker Blick, zuletzt verglüht der Spiegelfechter
2 Menschen in der Zitadelle, Geisterritt auf brennendem Begehr
Im Morgengrauen steht die Zitadelle nicht mehr leer
Durch Flavy-le-Martel
donnert der Fünfuhrzug
Vom Bäcker kommt
Jacqueline vielleicht
Jacqueline ist 11 und kann den Regen sehen, bevor er fällt
Du weißt jetzt, daß dir niemand glaubt, wenn du die Wahrheit sagst
Dein Vater unterm Citroën, seine Werkstatt, seine Welt
Deine Mutter blättert in Journalen aus Paris, wenn du sie fragst
Und der Nagellack läuft aus
Geh schön spielen, Kind
Mama, weißt du was?
Tu, was man dir sagt, Jacqueline
Jacqueline ist 11 und Gott hat sich die Augen ausgerissen
Madame Laclos die Lehrerin nennt es eine Phase, die vergeht
Am Kirschbaum hängt ein Seil, die Krähen wissen
Es ist Onkel Paul, der sanft im Wind der Picardie sich dreht
Jacqueline steht auf dem Feld
Sie hat aufgehört zu spielen
Bunte Reihen von Quadraten
tropfen aus den Linien
Septembervögel sind der Menschen müde, alles ist ein anderes jetzt
Die Geister kommen aus dem Abgrund bei der Mauer
Ein Eichhörnchen verblutet, eine Puppe ist zerfetzt
Scharlachrote Schatten liegen auf der Lauer
Jacqueline ist 11 und glaubt
sie ist den Streit nicht wert
Der Bruder, der nie kommen wollte
hält stumm den schwarzen Luftballon
Jacqueline mit Blumen aus dem Garten einer Anstalt
steht auf dem Feld, vergißt den Weg zurück
Paul ist tot seit dreißig Jahren, grau und kalt
erwidert er des Mädchens blauen Blick
Jacqueline verblaßt
im Wind der Picardie
Ich sah ihr weißes Kleid
vom Zug aus um fünf Uhr.
Cover der Neuausgabe von „Aljoscha der Idiot“ in der Edition BoD
Herausgeber: Vito von Eichborn
Februar 2007
Rezension #5
04. Oktober 2006
Königliches Metaphernfeuerwerk
Von Autor
Der plot ist nichts, was ein Autor daraus macht, ist alles. Wenn dieser Allgemeinplatz eines Belegs mehr bedürfte, Christian Erdmann lieferte ihn.
Aljoscha, hypersensibler Student an einer Universität, ist mit Leda mehr oder weniger verbandelt, als ihm im UniMax ein rätselhaftes weibliches Wesen auffällt, das zum Objekt seiner, nein, nicht Begierde, sondern seiner Sehnsucht wird.
Pjotr, sein der Bildenden Kunst verpflichteter Freund, arbeitet an Skulpturen von sieben Köpfen, die am Ende des Romans im Brennofen gehärtet werden. So weit, so vertraut. Eine Liebesgeschichte im Studentenmilieu, doch was der Autor daraus macht, nötigt Respekt ab.
Von der ersten Seite an leistet der Roman dem Leser Widerstand, verwirrt ihn mit seiner zuerst tradiert und maniriert erscheinenden Sprache, bis er in deren Sog gerät, dem er sich kaum noch zu entziehen vermag.
Bilder bestechender Schönheit. Einfühlsame Blicke in das Seelenleben eines hypersensiblen jungen Mannes, der denkt und agiert als hätte ihn ein böser Geist aus dem Paris der Belle Epoque herausgerissen und im russisch eingefärbten Hamburg abgesetzt, wo es sogar einen Damtorskbahnhof gibt.
Als wäre das noch nicht genug für einen hochintelligenten, teils naturalistischen, teils surrealistischen und phantastisch-realistischen pikaresken Roman, erzählt Erdmann mit einer Fülle von Metonymien und Metalepsen, bricht vertraute Metaphern auf und steigert sie oft ins Absurde, nimmt die Aussage des ersten Halbsatzes im zweiten zurück. Das gelingt zwar durchaus nicht immer (hier wünscht man sich einen sensiblen Lektor), doch einem solchen Kunstwerk verziehe der Leser noch mehr kleine Ungeschicklichkeiten. Die Fülle von Hinweisen, Verweisen und Zitaten entschädigt mehr als genug. Von Majakowskij bis Puschkin, von Adorno bis Wittgenstein sowie Lyrics von David Bowie bis Julian Cope nutzt Erdmann für seinen Palimpsest, was ihm gerade in den Zusammenhang paßt, und erzielt damit weitere Irritationen, die sich wohl nur Lesern mit erheblicher kultureller Vorerfahrung erschließen werden.
Dieser Autor verweigert sich dem Zeitgeschmack konsequent. Gerade das läßt diesen Roman höchst singulär erscheinen. Für mich seit Monaten der interessanteste Roman: so hätte Salvador Dali vielleicht geschrieben, wenn er nicht lieber gemalt hätte.
SPIEGEL ONLINE Forum
„Liebe – nicht nur ein Wort“
08.09.2006
Stefan Möhler:
C.E. steht für Christian Erdmann, den ich gerade lese und der voll ist mit sinnreichen Zitaten. O.K., den Faust I wird er nicht schlagen, aber er ist nah dran. Allerdings muß ich warnend anmerken, dass ich ein ausgesprochenes Faible für Dada, Ex- und Impressionismus habe.
Kritischer Leser:
Klar, das „Label“ „CE“ kann zwar auch für Produkte stehen, die der EU-Norm entsprechen (was auch immer das sei), aber eben auch für den Autoren von „Aljoscha der Idiot“. Tolles Buch! Entspricht’s der EU-Norm? Ich fürchte nicht. Dafür ist’s einfach zu gut.
09.09.2006
Stefan Möhler:
Ich für meinen Teil lese das Buch mit Hochgenuß. Endlich einmal ein Werk, das das eigene Denken nicht ausschaltet, sondern geradezu antreibt!
Rezension #4
23. August 2006
Unbedingt lesenswert
Von Katshke
Ich hab erst angefangen und ungefähr ein Viertel des Buches gelesen, aber dessen Sprache ist so unglaublich, als hätte einer wiederentdeckt, dass alles, wirklich alles gesagt werden kann, jede kleine Einzelheit, Gedankensplitter.
Ganz kostbare Worte, Ideen, die wir uns in der Regel verbieten, wenn sie uns nicht zwischen Schlaf und Erwachen überfallen, Stimmungen, die nur leise anklingen, alles.
Und das auch noch behutsam, so dass ich den Sog erst gar nicht spürte, der mich nun in diese Geschichte hineinzieht, dass es fast schmerzt.
Selbst wenn das Buch schlechter wird auf den anderen Seiten, was ich aber nicht glaube, lohnt es sich für mich wegen der ersten Seiten.
Unglaublich, dass es so etwas noch gibt. Fast jeder Satz ist schon für sich genommen ein Kunstwerk.
SPIEGEL ONLINE Forum
Literatur – Was lohnt es noch, zu lesen?
27.08.2006
Leserin:
Nehmen wir mal an, wir diskutierten hier wirklich, was Kunst ist. Mein Mann hat gerade eben den Schreiber von „Aljoscha der Idiot“ zum Durchgeknallten erklärt und das wenige an Text, was er bei Amazon davon las, für die Ausgeburt eines kranken Hirns. Ich dagegen halte dieses Buch für Dichtkunst.
Monika Cate:
Ich auch! Kunst deshalb, für mich, weil er mit seinen Worten mir neue Räume erschloss, ich mich darin dann aber sofort heimisch fühlte, weil ich unvermutet auf Bekanntes, jedoch vorher Unsichtbares, traf.
SPIEGEL ONLINE Forum
Literatur – Was lohnt es noch, zu lesen?
11.08.2006
Zermelo:
Was zu lesen lohnt? Auf jeden Fall das hier.
Christian Erdmann: Aljoscha der Idiot
arte de la comedia:
Erstaunlich.
Erstaunlich aus mehreren Gründen:
a) wird hier üblicherweise „mainstream“ empfohlen, und das ist C. Erdmann LEIDER (was die Verkaufszahlen angeht) oder GOTTSEIDANK (nicht, dass der irgendwann son Easy-BlaBla abliefert) noch nicht.
b) Ich les‘ ja üblicherweise keine Jungautoren: ich hab‘ da immer die Befürchtung, das könnte Oberstufenlyrik sein. Wer DAS erwartet, wird leider enttäuscht.
c) Ich kann’s – eigentlich – gar nicht leiden, wenn ich durch das Lesen eines Buches (und sei es auch nur für einen kurzen Zeitraum) meinen „Blick auf die Welt“ ändere. Das hat sowas Drogen-artiges.
Aber egal.. das war jedenfalls ein schöner Rausch.
Doch.. doch.. ich bleib‘ dabei: hat mir gefallen.
SPIEGEL ONLINE Forum
Literatur – Was lohnt es noch, zu lesen?
25.07.2006
Kritischer Leser:
Daher zurück zum Thema mit einem Literaturtip*p*: Christian Erdmann, „Aljoscha der Idiot“. Bin zwar noch nicht weit gekommen in dem Buch, aber das Wenige, was ich gelesen habe, gefällt mir sehr.
Und in schönster und bester alter Rechtschreibung gesetzt. :)
SPIEGEL ONLINE FORUM
Das literarische Orchester – spielen Sie mit!
11.08.2006
Zermelo:
Ich habe hier mal ein bißchen gestöbert und hab dabei Aljoschas Buch entdeckt. Vielleicht keine ganz einfache Lektüre, aber ich denke, die werde ich mir mal vornehmen. Scheint etwas für Herz, Seele und Verstand zu sein. Was will man denn mehr?
Christian Erdmann: Aljoscha der Idiot
Stefan Möhler:
Hab grad mal bei amazon nachgeschlagen. Ist ja sogar erschwinglich und die Kundenbewertung dort ist beeindruckend.
24.08.2006
Markus Pettering:
Zu Recht.
Ich bin etwas über die Hälfte hinaus mit der Lektüre (173 von 301 Seiten).
Der Roman ist sprachlich sehr originell, so, wie wir den Autor vom Forum her kennen.
An äußerer Handlung ist wenig bis nichts vorhanden; auktorial erzählt, aber da alles in der Seele des Protagonisten Aljoscha stattfindet, ließe sich auch von personaler Erzählweise sprechen.
Personencharakterisierung entsteht, wenn überhaupt, dann nur aus der Wahrnehmung Aljoschas.
Auch die äußere Welt bleibt vage. Aljoscha ist irgendwie Student der Philosophie und Kunstgeschichte in (?) St Petersburg und malt selber. Woher sein Geld kommt (er unternimmt weite Reisen; er hat Telefon, Walkman und so, wie ein deutscher Student), erfährt man nicht. Ein paar Andeutungen weisen auf die Jetztzeit hin, und es wird viel Metro gefahren.
Das alles bleibt im Nebel gegenüber der Nachzeichnung seiner menschlichen Beziehungen bzw der Entwicklung einer traumhaften, verhängnisvollen (?) Liebe zu der sog „Katzenfrau“ (während er zugleich mit seiner ersten Liebe, der gebildeten und praktischen Leda, liiert ist, von der er sich aber allmählich, äußerlich kaum wahrnehmbar, entfremdet). Die Katzenfrau — SIE tritt immer dienstags in seiner kunstgeschichtlichen Vorlesung in Erscheinung und scheint einem schwarzweißen Schreckens-Film von 1942 entstiegen, einem am Anfang des Romans wiedergegebenen einsamen nächtlichen Fernseherlebnis Aljoschas — wird von ferne durch Aljoscha angebetet (ähnlich Beatrice durch Dante, dem u.a. eine Reise nach Florenz gilt); bis auf S. 168 hat er SIE nie einmal anzusprechen gewagt, obwohl er sich schon ein Jahr lang nach ihrem Anblick dienstags verzehrt. Das alles treibt ihn an den Rand des Wahnsinns, was u.a. durch ein kakophones Wechselgespräch zwischen den Figuren des Tarotspiels nachgezeichnet wird, das sich anscheinend in seinem Kopf abspielt.
Der Text ist aber nicht ohne Spannung. Der Leser fragt sich, ob es endlich einmal zu einem Kontakt zwischen dem Protagonisten und IHR kommen wird (niemand erfährt bis auf S. 173 auch nur IHREN Namen, SIE wird stets nur mit einem Personalpronomen in Majuskeln apostrophiert).
Es gibt viel Bezugnahme auf dichterische, philosophische und psychologische Texte (manchmal könnte das Namedropping etwas reduziert werden; aber manches davon ist auch wieder sehr witzig), ferner werden immer wieder in fetten Majuskeln heutige Lyrics eingeworfen (die hört Aljoscha in seinem Walkman).
Jedenfalls keine konventionelle Erzählweise. — Eine interessante neue Stimme.
Rezension #3
29. Juni 2006
Ein Gemälde aus Worten oder Eine Reise in die Mitte der Wirklichkeit
Von Monika Cate
„Aljoscha der Idiot“ von Christian Erdmann möchte ich nach einmaligem Lesen nicht im Regal verschwinden lassen. Ich freue mich schon auf das zweite Mal. Die beschriebenen Ebenen und Verzweigungen des Seins und Werdens konnte ich beim ersten Lesen gedanklich und gefühlsmässig gut verfolgen und auf mein Tagesbewusstsein erweiternd einwirken lassen, doch möchte ich den vielen Verzweigungen mehr in der Tiefe gerecht werden, nein, sie beim zweiten Mal mehr auskosten.
Das Lesen schien mir eine Reise in die Mitte der Wirklichkeit zu sein, auch wenn es dem Leser vielleicht nicht bewusst ist. Das Licht, das der Autor auf seine ganz eigenen Formen scheint, entspricht in der „mechanischen“ Anwendung einem immer stattfindenden Prozess und drückt sich für jeden in anderen, individuellen Formen aus. Wie er das macht, ist wunderbar. Beim Lesen entstand meine eigene Parallelwelt und führte mich in meine eigene Vergangenheit, und von da in eine veränderte Gegenwart, ein Prozess, der von ihm auch so beschrieben ist.
Einmaliges Lesen reicht auch deshalb nicht, weil soviel angesprochen wird, das doch schnell wieder verblassen kann, auch weil die Entwicklung des zentralen Themas einfach zu sehr fasziniert. Ich liess den Lesezug schneller fahren und konnte so die Landschaft nicht genügend betrachten. Am Anfang markierte ich noch einzelne Aussichten, die mich besonders anregten. Auch das möchte ich beim erneuten Lesen vertiefen. Eigentlich stecken mindestens 3 Bücher in diesem einen, so dicht ist die Sprache.
Sehr schön und hilfreich für den Aufbau der verschiedenen Ebenen sind der Einsatz von englischen Songtexten, von fett Gedrucktem, kursiv Gesetztem, gross Geschriebenem. Referenzen zu Malern, Dichtern und Philosophen überzeugen mich nicht so sehr, setzen sie doch voraus, dass der Leser mit diesen vertraut ist, um der Erwähnung die ihr zustehende Bedeutung zu geben und damit diese besondere Qualität im Erzählfluss zu verankern. Doch möchte ich betonen, dass bei vorhandener Vertrautheit die Referenzen ihren Zweck erfüllen und jeweils noch eine weitere Bedeutungsebene in die Leinwand weben.
Besonders hervorheben möchte ich das Ende. Fast atemlos kam ich dort an und wurde zum Verweilen gezwungen zwischen zwei Schritten, und wie hab ich das Verweilen genossen! Es war ein magischer Augenblick. Das sich entwickelnde neue Selbstverständnis des Protagonisten sichtbar werden zu lassen in dieser Form, der Moment des Innehaltens vor dem unwiderruflichen Schritt, sich selbst in diesem Augenblick eher passiv dem Unvermeidlichen, wie auch immer es sich entfalten mag, hinzugeben, das hat Christian Erdmann wunderbar beschrieben. Alles Vorhergegangene weist auf diesen Moment hin und darüber hinaus und von dort auch wieder auf den Anfang.
Werden wir am Ende immer mehr mit unserem wahren Selbst verheiratet sein?
Das steht als Frage vor mir, am Ende einer Lesereise, die mir sehr viel bedeutet.
Ein Gemälde aus Worten oder Eine Reise in die Mitte der Wirklichkeit @amazon
Rezension #2
25. November 2005
Respekt!
Von Ein Kunde
Also erst mal vorne weg: großes Kompliment an Herrn Erdmann!
Wer die Deutsche Sprache liebt, wird auch dieses Buch lieben, wer das Außergewöhnliche liebt, erst recht. Und eins ist gewiß, ein Idiot ist der Autor bestimmt nicht.
Die Faszination dieses Buches liegt eindeutig in der Sprache, der Autor versteht es nach allen Regeln der Kunst, diese zu gebrauchen und immer wieder aufs neue auf das Herrlichste einzusetzen, Langeweile kommt garantiert nicht auf.
Die Handlung, durchaus alltäglich? tragisch? oder vielleicht sogar romantisch? Nein, wohl eher nicht, aber außergewöhnlich und faszinierend. Sicherlich kein Buch für Liebhaber der seichten Kost a la Pilcher, für Kenner der großen Namen und Klassiker jedoch ein Muß.
Großartiges Buch, großartiger Wissensstand des Autors, doch leider bislang sein einziges Werk.
(Rezension auf amazon wurde später gelöscht)
Rezension #1
13. Februar 2005
Love never dies
Von mary smith
Christian Erdmanns wunderschöner Roman erzählt die Geschichte des Philosophiestudenten Aljoscha Tuschkin, der das bittersüße Ende seiner Jugendliebe und den geheimnisvollen Anfang einer außergewöhnlichen, großen Liebe erlebt.
Der Autor schreibt in einem atemberaubenden, wunderbar altmodischen Sprachstil und führt den Leser mit unglaublicher Gewandtheit, erstaunlich weit gefaßtem Wissen und äußerst feinem Humor durch die tiefe, empfindungsreiche, philosophisch geprägte und doch postmoderne Gedanken- und Gefühlswelt des Protagonisten.
Man kann und will sich den erzählerisch erzeugten Stimmungen, den beschriebenen Umgebungen und Personen und vor allem der Seele dieses „Idioten“ kaum entziehen.
Ich werde wohl nie mehr den Hörsaal einer Universität betreten ohne mich an „Aljoscha“ zu erinnern und ich werde nie wieder Kunstgeschichte-Studentinnen sehen können ohne in unkontrolliertes, wenngleich liebevolles Lachen auszubrechen.
Eine Hommage an die Liebe, die Philosophie, die Musik und die Kunst – daher unbedingt lesenswert für alle, die noch nicht aufgehört haben oder wieder anfangen wollen zu denken und zu fühlen.
Vito von Eichborn schrieb am 3. Mai 2007 um 22:23 Uhr:
Bis vor kurzem habe ich geglaubt: verkannte Dichter gibt’s nicht mehr in unseren inhaltshungrigen Zeiten.
Bis ich bei BoD auf ein tolles Buch stieß. (Dies soll jetzt nicht als Werbung mißverstanden werden – und vorsichtig: es ist nicht leicht zu lesen.) Erdmann „Aljoscha der Idiot“ – das ist ganz große Literatur von einem so klugen wie bescheidenen Autor.
Und jeder normale Verlagslektor lehnt das ab mit dem fürchterlichen Argument: „Das ist richtig gut – und richtig unverkäuflich.“
(Vito von Eichborn, Verleger, @ literaturcafe.de – Die wichtigsten Tipps eines Verlagslektors / Comments)
Buch des Monats BoD News 02/2007
Aljoscha ist Philosophiestudent und eigentlich mit der sanften Leda liiert. Doch eines Tages begegnet er im Hörsaal einer Frau, deren Gang allein ihn hypnotisiert, „weil er schon am Klang der Absätze gehört hatte, dass diese Schritte ihm galten“. Die stumme Liebe zu der unbekannten Schönen wird für Aljoscha zur wahren Obsession. Während äußerlich scheinbar nichts geschieht, verändert sich alles, es entspinnt sich ein komplexes Geflecht aus Realität und Fiktion und bestimmt Aljoschas Sein. Auch Leda bleibt das natürlich nicht verborgen, und doch gibt Aljoscha sich alle Mühe, sie zu lieben …
Christian Erdmann hat selbst Philosophie studiert und führt mit außergewöhnlicher Sprachkraft und atemberaubender Gewandtheit durch die tief empfundene Gedanken- und Gefühlswelt des Protagonisten. „Aljoscha der Idiot“ ist eine Geschichte über das eigentlich Unsagbare. Eine Geschichte voller Anspielungen und Rätsel, ein Mosaik des Fühlens und Träumens, jenseits von Vernunft und Verstand. Eine Geschichte, über die Vito von Eichborn sagt, sie sei „literarisch das Beste, was ich in den letzten Jahren gelesen habe“.
„Literatur, zumal wenn sie anspruchsvoll ist, war ja immer in einer Nische. Und dass so etwas Literarisches wie ‚Aljoscha der Idiot‘ bei BoD lieferbar ist – das kommt im Februar in meiner Edition -, das zeigt, wo die Zukunft hingeht…“
Interview mit Vito von Eichborn, BoD AKTUELL 26
„Aljoscha ist Student der Philosophie. Während er mit der liebevollen Leda liiert ist, werden stumme Verabredungen mit einer unbekannten Schönen zur Obsession. Die Wirklichkeit scheint voller verborgener Muster. Aljoscha versucht, die Zeichen zu entschlüsseln…“
Ankündigung der Neu-Edition
Booklet für den Buchhandel, Januar 2007
Text Vito von Eichborn (Herausgeber der Edition BoD)
Präsentation von „Aljoscha der Idiot“ auf der Leipziger Buchmesse, März 2005
Kurzvorstellung des Romans im Messe-Sonderteil von BoD AKTUELL 19
Frühling 2005
Davon, wie alles sich verändert, obwohl scheinbar nichts geschieht.
Die Welt ist alles, was der Fall ist, sagte Wittgenstein. Die Welt ist nichts, was der Normalfall ist, davon handelt dieser Roman. Er beschreibt jenen quasi-pathologischen Zustand, den die Wissenschaft unter dem Fachbegriff „Begegnung mit einer Frau“ kennt.
Wer ist diese Frau? Was hat sie mit einem Horrorfilm aus dem Jahre 1942 zu tun? Was weiß sie über den Studenten Aljoscha? Und warum geschieht nichts, außer daß Aljoscha ihr wieder und wieder begegnet, als wären es geheime Verabredungen?
Warum scheint SIE alles über den Sinn dieser Begegnungen zu wissen und er nicht? Manipuliert SIE den Ablauf der linearen Zeit? Wie fühlt es sich an in der Realität hinter der Realität, wo die Welt gar nicht entzaubert ist? Ist die Wirklichkeit in Wirklichkeit voller verborgener Muster? Von welcher Art ist dieser Blick, der die Vernunft in 1000 Stücke schlägt?
Warum ist SIE anders, unvorstellbar anders?
Was haben der alte Matthäus, Gott, Immanuel Kant, Hilfssheriff Iggy Pop, der Herzausreißer Nick Cave, ein Saufaus namens Aristophanes, die unentzifferbare Wahrheit des Schauerlichen, Isis, Iris, Orpheus, ein dunkles Geschlecht, Maria Magdalena, Caravaggios Messer, Dantes Begegnung mit Beatrice, die Dritte Sinfonie von Gustav Mahler, die Gedichte von Majakowski, ein säbelrasselnder Hauptmann, ein Satz von Rilke, der Wäscheberg von André Breton, die Metamorphosen des Ovid und die des Apuleius, Professor Pfropfnapf und seine aufregende Assistentin Marie-France, Rembrandt, Dürer und Poussin, die Zahl 7, der Fels, von dem es hieß, er würde niemals bröckeln, eine Blüte vom Grab der Kameliendame, ein Vers des Dichters Percy Shelley, die Marionette Petruschka, der Scheitel des Rowland S. Howard, sieben Köpfe aus Ton, Schillers Schreibtisch-Schublade, ein Opfermädchen aus „Le Sacre du Printemps“, Vaslav Nijinsky, menetekelnde Gelehrte und merkwürdige Kommilitonen in dieser Geschichte zu suchen?
Ist Liebe die höchste Form der Magie? Warum sieht Leda im Traum, daß Aljoscha sie verläßt? Gibt es Katzenmenschen? Warum ist Aljoscha ein Idiot? Und was sagt eigentlich Aljoschas Freund Pjotr zu alldem?
Fragen, auf die der Roman eine Antwort gibt. Manchmal auch mehrere Antworten.
„Ein Roman über einen Mann zwischen zwei Frauen, über die Liebe in all ihren Facetten, in Traum und Wirklichkeit… ein sensibel und gefühlvoll erzählter, ungewöhnlicher Roman… Die Handlung wird aus der Perspektive eines personalen Erzählers vermittelt, der dem Leser Einblicke in die subjektiven Eindrücke, Erlebnisse, Gefühle und Träume des Protagonisten gewährt. Traum- und Gedankenwelt Aljoschas und die Realität wechseln sich ab, stehen nebeneinander und verschwimmen zum Teil. Daraus bezieht der Roman seinen besonderen Reiz. Der Autor bedient sich einer dichten, komplexen Sprache, mit der er seine Charaktere mit viel Gespür für psychologische Vorgänge sensibel und glaubhaft entwirft.“
(Verlagslektor I)
„Mich hat Ihr Text sehr beeindruckt; er ist sehr wortmächtig. Etwas manieriert erschienen mir die in den Text implantierten Früchte Ihres Philosophie-Studiums, die englischen Fragmente, die exotische Namenswahl und vielerlei Einzelausdrücke und Wendungen. Und auch die Einbettung der traumartigen Passagen hat mich nicht ganz überzeugt. Aber das ist nur meine persönliche Meinung, und fassen Sie diese Kritik vor allem als artikuliertes Interesse an Ihrer Schriftstellerei auf.“
(Verlagslektor II)
„Es ist positiv zu bewerten, dass Sie mit Ihrem Roman literarisch hohe Ansprüche verfolgen. Doch unserer Erfahrung nach lassen sich derart ambitionierte belletristische Debüts kaum noch auf dem Markt durchsetzen. Für uns ist dieser Versuch mit einem zu hohen Risiko verbunden.“
(Verlagslektor III)
„Die Frau von Stein findet meine Methode besser als die deinige.“
(Jakob Michael Reinhold Lenz an Johann Wolfgang von Goethe; Briefe von und an J. M. R. Lenz, Bd. II, Leipzig 1918, 31)
„Indessen, trotz alledem, und obwohl man dieses und jenes und auch noch ein Drittes zugeben kann, und vielleicht sogar… Ja, wo gibt es denn keine Unsinnigkeiten? Was man gegen diese Geschichte auch einwenden mag – irgend etwas ist an ihr dran. Redet, was ihr wollt: solche Dinge kommen vor. Zwar selten. Aber sie kommen vor.“
(Nikolaj Gogol, Meistererzählungen, Zürich 1988, 446)
„… es handelt sich um Ereignisse, die ihrer Art nach bloß festgestellt werden können, aber sie haben jedesmal ganz das Aussehen eines Signals, ohne daß man genau sagen könnte, was für ein Signal es ist, sie lösen in voller Einsamkeit das Bewußtsein unwahrscheinlicher Mitwirkung aus…“
(André Breton, Nadja, Pfullingen 1960, 15)
„Das Rätsel ist folgendes: wie kann man ein Geheimnis haben, ohne es zu wissen? Die rätselhafte Lösung ist folgende: nur der andere weiß es, nur Gott weiß es, nur das Schicksal weiß es, das Geheimnis ist das, was euch ohne euer Wissen umgibt.“
(Jean Baudrillard, Die fatalen Strategien, München 1991, 165)
„Der Roman handelt vom Leben – stellt Leben dar. Oft enthält er Begebenheiten einer Maskerade – eine maskierte Begebenheit unter maskierten Personen. Man hebe die Masken – es sind bekannte Begebenheiten – bekannte Personen.“
(Novalis, Briefe und Werke III, Berlin 1943, 130)
„Und von den verschiedenen Lesarten, die eine Geschichte zuweilen hat, ziehe ich für meinen Gebrauch die ungewöhnlichste und merkwürdigste vor.“
(Michel de Montaigne, Essais, Zürich 1996, 153)
„Das Schicksal liebt es, Muster und Figuren zu erfinden. Seine Schwierigkeit beruht im Komplizierten.“
(Rainer Maria Rilke, Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, Leipzig 1938, 241)
„Von mir aus will ich noch bemerken, daß fast jede Wirklichkeit, wenn sie auch ihre unwiderleglichen Gesetze hat, unwahrscheinlich und unglaublich erscheint. Und je wirklicher sie ist, desto unwahrscheinlicher sieht sie mitunter aus.“
(Fjodor Dostojewskij, Der Idiot, München 1979, 495)
„So gesehen gibt es überall Verbindungen und Verführung: nichts ist isoliert, nichts geschieht zufällig – der Zusammenhang ist absolut. Das Problem bestünde eher darin, diesen totalen Zusammenhang der Ereignisse an bestimmten Punkten zu bremsen oder anzuhalten: den Taumel der Verführung und der Verkettung der Formen untereinander anhalten, das heißt diese magische Ordnung (andere werden sagen, diese magische Unordnung), die wir in Form von kettenartigen Sequenzen und (glücklichen oder unglücklichen) Koinzidenzen, in der Form des Schicksals und der unvermeidbaren Vereinigung, bei der sich die Ereignisse wie durch ein Wunder zusammenfügen, plötzlich wieder auftauchen sehen (…)“
(Jean Baudrillard, Die fatalen Strategien, München 1991, 184 ff.)
„Alle Leidenschaft ist eine Bezauberung. Ein reizendes Mädchen eine reellere Zauberin, als man glaubt.“
(Novalis, Briefe und Werke III, Berlin 1943, 179)
„Die Leidenschaft setzt alles zu sich selbst in Bezug.“
(Charles Baudelaire, Mein entblößtes Herz, Frankfurt am Main 1986, 16)
„Jetzt gehört es nicht nur zu meinen Gewohnheiten, sondern auch zu meinem Geschmacke – einem boshaften Geschmacke vielleicht? -, nichts mehr zu schreiben, womit nicht jede Art Mensch, die ‚Eile hat‘, zur Verzweiflung gebracht wird.“
(Friedrich Nietzsche, Morgenröte, Stuttgart 1991, 9)
„Als sein erstes Buch – Betrachtung – bei Wolff erschienen war, sagte er mir: ‚Elf Bücher wurden bei André abgesetzt. Zehn habe ich selbst gekauft. Ich möchte nur wissen, wer das elfte hat.‘ Dabei lächelte er vergnügt.“
(Max Brod, Über Franz Kafka, Frankfurt am Main 1974, 368)
„Mein Gott“, seufzte Des Esseintes, „wie wenig Bücher es doch gibt, die man zum zweitenmal lesen kann!“
(Joris Karl Huysmans, Gegen den Strich, Zürich 1981, 330)
„Wer zwei Paar Hosen hat, mache eins zu Geld und schaffe sich dieses Buch an.“
(Georg Christoph Lichtenberg, Pfennigs-Wahrheiten, München 1992, 39)
„Es gibt immateriellen Schrott und es gibt aurum sine materia. Wer nicht weiß, was das ist, der sollte dieses Buch erwerben und es lesen.“
(Bernhard H. F. Taureck, Professor der Philosophie, Universität Braunschweig)
„Ich würde gerne meinen gesamten Vorrat an Vitaminkeksen hergeben, um rauszukriegen, was drinsteht!“
(Léo Malet, Das fünfte Verfahren, Reinbek bei Hamburg 1997, 135)
Cover der Erstausgabe von „Aljoscha der Idiot“,
erschienen im Januar 2005
Holzschnitt von Frans Masereel (aus „Mein Stundenbuch“)
Reproduktionsgenehmigung der VG Bild-Kunst nach Zustimmung durch den Masereel-Nachlaß am 17.11.2003