
Vergleichbares würden Deutsche sich beim ESC nicht trauen. Und ich erwarte auch von Deutschen nicht, daß sie wahrnehmen, was in diesen drei Minuten geschieht. Deutsche twittern/X-en sich beim ESC lieber mit unlustigen Kommentaren ins geistige Koma, die dann bei der Übertragung auf ONE eingeblendet werden, und man darf die Minuten zählen, bis eine der Stimmungskanonen X-t: „Den ESC nur wegen der Kommentare kucken“. Oder sie freuen sich über einen Fernseh-Kommentator des ÖR, der den slowenischen Beitrag der Sängerin Raiven namens „Veronika“ (Basis des Textes ist die Geschichte der im 15. Jahrhundert als Hexe ermordeten Veronika Deseniška) tatsächlich abmoderiert mit „Das war Raiven mit Veronika, der Lenz ist da“. Wahrscheinlich zuviel verlangt, in Deutschland einen Kommentator zu finden, der nicht völlig grenzdebil daherredet.
Man muß den ESC schon deshalb lieben, weil er jedes Jahr mit äußerster Präzision über den Stand deutscher Selbstverblödungsarbeit informiert. Jedes Jahr natürlich auch das gleiche mißmutige Geschwätz in Deutschland, der ESC sei nur noch eine musikalisch vollkommen uninteressante „Freakshow“, und es sei ein Skandal, dafür Gebühren zahlen zu müssen. Das ganze Jahr über „Fernsehgarten“, Schlager-Spaß, aber der ESC ist die „Freakshow“. Wem dieser eine Moment der musikalischen Devianz im deutschen TV-Jahr schon zu aufwühlend ist, der kann danach ja wieder 365 Tage im Jahr Roland Kaiser beim Einschlafen auf der Bühne zusehen.
Deutsche können Pop und Glamour nicht (mehr), daran ist nicht nur der zum Schlager neigende Konservatismus schuld. Daran ist auch jener Konservatismus schuld, der glaubt, weil er „anspruchsvolle“ Musik schätzt, auf „Pop“ verächtlich herabschauen zu müssen. Als stünde nicht spätestens seit David Bowie im Grundgesetz, daß sich Pop und Anspruch, Glamour und Tiefe ganz hinreißend verbinden lassen (die vielleicht letzten, die es hierzulande konnten: Propaganda – A Secret Wish). Zur Not arbeitet einer wie David Lynch heraus, wie sich unter glänzender Oberfläche Abgrundtiefes verbergen kann („Blue Velvet“) Aber nichts unangenehmer als das Beharren darauf, eine Pop-Veranstaltung wie den ESC nur in irgendwie ironischer Brechung (so im Tsunami dröger Tweets) wahrnehmen zu können. Diese vollkommen unangemessene Ironie verstellt die Wahrnehmung des Dargebotenen genau so wie der gleichsam wutbürgerische Trotz, mit dem andere ihr Unverständnis ummünzen in den Stolz, sich „sowas“ ohnehin nie anzutun.
Schuld an der Misere ist natürlich auch der seit Jahren geradezu eskalierende Drang der Deutschen zu Verharmlosung, Verniedlichung und Infantilisierung. Proteste gegen die „Lidl lohnt sich“-Stimme oder gegen die Tatsache, daß in deutschen Synchronfassungen selbst der besten Filme alle jungen Frauen klingen wie pampige 11jährige, bleiben aus. Da der Deutsche so sehr damit beschäftigt ist, die falschen Dinge ernst zu nehmen, versteht es sich von selbst, daß er Pop nicht ernstnehmen kann. So wie der Deutsche fast nirgends einen authentischen Tonfall hat, so schafft er es seit geraumer Zeit auch nicht mehr, sich am Phänomen Pop ohne irgendeine ach-so-besondere Brechung zu beteiligen, die dann beim ESC in der Regel nach hinten losgeht, weil der Rest der Welt damit nichts anfangen kann.
Es gibt sicher tausend Wege, sich selbst davor zu bewahren, die Kunst und die Schönheit dieser Performance zu verstehen.
Die Inszenierung ist sensationell, die Musik ausgefeilt bis zur Gustav Holst/Mars-Hommage am Ende. Diese 3 Minuten sind ein absolutes Meisterstück im Zusammenspiel von singer, Song, Sound, Choreographie, Kameras, Lichtregie, Props, Make-Up und Kostümdesign, LED Screen, allem. Schon das „Doomsday Blue“-Video ist ein Kunstwerk,
aber Bambie Thug & Team haben es vermocht, bei einem Live-Auftritt und vor 160 Millionen am TV, mit entfesselter Emotion und doch absoluter Präzision, die denkbar ambitionierteste Performance zu liefern und den Song durch die Decke gehen zu lassen. Mise-en-scène zum Sterben schön, durchdacht bis ins letzte Detail, übrigens im 4:3-Format während einer 16:9-Live-Übertragung. Natürlich beschwört Bambie mit Ballett-Posen auch „Feuervogel“-Zauber: jeder darf versuchen, en pointe zu sein und dabei zu singen, die Diskussion über Hingabe, Konzentration und Virtuosität wäre damit eröffnet. Großartiges Storytelling in 3 Minuten: speziell für Dich, „alles was ich höre ist KREEEIIISCH“-Schreiber, nur der Text der ersten 30 Sekunden:
Avada Kadavra, I speak to destroy
The feelings I have I cannot avoid
Through twisted tongues
A hex deployed on you
That all the pretties in your bed
Escape your hands and make you sad
And all the things you wish you had, you lose
I, I, I know you’re living a lie
I, I, I see the scars in your eyes
I, I, I know you’re living a lie
„LOVE WILL ALWAYS TRIUMPH HATE!“
Avada Kadavra, the thoughts in my head
The places I touch when lying in bed
The visions of you the words that you said
Undo
For your romance
I’d beg, steal and borrow
It’s draining me hollow
You
You could slow dance me
Out of my sorrow
But your favourite colour
Compared to the others is doom
Der erst 22jährige spanische Regisseur Sergio Jaen produzierte das „Doomsday Blue“-Video (Regie führte Kassandra Powell) und war dann auch für die Stage Production beim ESC verantwortlich. Hier seine Website: Sergio Jaen, Director
Wir lernen auf YT, was Bambie am Ende des Halbfinal-Auftritts sagt:
At the end of the performance Bambie Thug says – ‚A thousand thanks to you‘ in the Irish language – Gaeilge. ‚Go raibh míle maith agat.‘
If anyone is wondering what she said at the end.. ‚Go raibh mile maith agat‘ It’s Irish for ‚thank you very much‘, but it’s meaning is ‚May there be a thousand goodnesses by you‘.
Am Ende belegte Bambie Thug Platz 6, Platz 6 bei der Jury-Wertung und Platz 6 bei den Zuschauern.
666.
Die deutsche Jury gab Irland 0 Punkte, die Zuschauer beim Televoting immerhin 1 Punkt.
Auf esc-kompakt.de erhielt kein ESC-Beitrag so oft die Wertung „ist ganz furchtbar“ wie „Doomsday Blue“ – 35%.
Im Juni tritt Bambie Thug auf dem Download Festival auf – einen Tag nach den Queens of the Stone Age.
[Edit] 12 Points 2025: Tautumeitas, Lettland.