Haio Forler:
Der Kontrakt des Zeichners müßte ich noch mal sehen, der entdeckte Mord auf den Zeichnungen war mir noch nicht ganz klar.
Christian Erdmann:
Nicht grämen, Greenaway selbst sagte mal, die Hälfte von dem, was im „Kontrakt des Zeichners“ passiert, geschieht im Hintergrund, und im Fernsehen sieht man überhaupt nichts. :)
Gwynplaine:
Ich benötige Nachhilfe in Sachen Greenaway. Aus irgendeinem Grunde hab‘ ich den Mann bisher nicht so beachtet.
Christian Erdmann:
„Nachhilfe“? Ich erwarte vielmehr Deinen Report, den ich mir dann wieder an die Wand hängen kann. :)
Greenaway ist ausgebildeter Maler, mit ausgeprägtem Hang zu Strukturen und Zahlen, ihrem Sinn und ihrer Sinnlosigkeit. Die Filme sind Vexierspiele, komplex, anspielungsreich, einer von Greenaways Lieblingsfilmen ist „Letztes Jahr in Marienbad“ von Resnais. „Spiel“ ist ein entscheidendes Wort bei oder für Greenaway, denke ich; auch die Autonomiebestrebungen der zahlreichen Subtexte spielen miteinander derart ausgelassen, daß „Subtext“ eigentlich schon das falsche Wort ist.
„Prospero’s Books“ sehe ich in erster Linie als großartige Hommage an den Schauspieler John Gielgud, meine beiden Favoriten sind „The Draughtsman’s Contract“ und „Drowning By Numbers“. Frauen, die sich um das vordergründig „Frauenaffine“ nicht scheren und die gewisse Kühle, die durch die extreme ästhetische Stilisierung auf jeder Ebene entsteht, lustvoll genießen können, haben Greenaway offenbar positives feedback galore zukommen lassen, er scherzte mal über den „Feminismus“ der Filme. Schwierig, nicht zu spoilern, aber man könnte sagen, eine Plot-Parallele beider Filme ist: männliche Erwartung einer sexuellen Gegenleistung trifft auf weiblich feinziselierte Manöver.
Mr. Neville, der Zeichner, hat gewisse Ähnlichkeiten mit David Hemmings in „Blow-Up“ – arrogant, eingebildet, zugleich zynisch und naiv. Es tauchen Veränderungen in seinem künstlerischen Blickfeld auf, es entstehen durch seine Arbeit „Beweise“ (Anführungsstriche für Hemmings). Neville ist „Realist“, „Naturalist“, er hält fest, was er sieht. Wie in „Blow-Up“ bricht das Mysteriöse ins vermeintlich objektive Schwarzweiß des Bildes ein, aber die Konsequenzen sind für Thomas (so heißt der Photograph in „Blow-Up“, dessen Name aber im Film nie ausgesprochen wird) und Mr. Neville, nun ja – durchaus unterschiedlich.
Der englische Hochbarock war ja eine Zeit extremer Stilisierung und Künstlichkeit, die sich durch starre Geometrie bewegte, die Perücken, von ray05 und mir schon ausgiebig gewürdigt, sind allerdings nochmal overblown wie bei Lady Lyndon in „Barry Lyndon“, ebenso die hinreißend preziösen, grotesk komplizierten Sätze, die ein ästhetisches Dickicht über den Whodunit legen – sofern es ein Whodunit ist, ist es aber eigentlich nicht.
Bei „Drowning By Numbers“ ist das „Spiel“ dann omnipräsent. Das seilspringende Mädchen benennt 100 Sterne, teils echte Sternnamen, teils Namen von Künstlern oder auch von Figuren aus Greenaways Filmen. Die Zahlen 1 – 100 tauchen linear im Film auf, entweder im Bild selbst oder im Dialog. Smuts, der Sohn des Leichenbestatters Madgett, sammelt roadkill, markiert die Fundstellen und gibt ihnen Nummern. Er zählt unaufhörlich Dinge, die sich nicht zählen lassen, und spielt unermüdlich Spiele mit Spielregeln von kryptischer Stringenz. Aber auch hier: Linearität als Puzzle.
All das begleitet von Nymans Musik, die mich immer leicht an Delphine Seyrig in Truffauts „Geraubte Küsse“ erinnert, als sie völlig selbstverständlich und mit entwaffnendem Strahlen am Tisch sitzt und zu Jean-Pierre Léaud über ihren Mann sagt: „Wie Hitler!“ Das Muntere, Strahlende der Musik hat zuweilen etwas sehr Ironisches.
BerSie:
Wow! Applaus…
AndersSehend:
Zitat von Aljoscha der Idiot
Bei „Drowning By Numbers“ ist das „Spiel“ dann omnipräsent. Das seilspringende Mädchen benennt 100 Sterne, […]
Großartig, ganz großartig, vielen Dank dafür, Ihre Beschreibung hat den Film auf meiner geistigen Augenleinwand nach Jahren wieder ablaufen lassen.
Christian Erdmann:
Danke für den Hinweis auf „Die Bettlektüre“ heute abend! Falls mir Hypnos und Morpheus kein Schnippchen schlagen (quasi schlaflos seit Nine Inch Nails in Berlin), I’ll try. Hab den nur 1 x gesehen, als er neu war, in einer Phase, wo ich fand, daß Greenaways Einsatz technischer Mittel da ein bißchen Amok lief, komischerweise erinnere ich fast nur noch den blitzsauberen Einsatz von Musik, Guesch Patti, „Blonde“, U2, „Daddy’s Gonna Pay For Your Crashed Car“.
Und ich weiß noch, daß Greenaway fasziniert davon war, daß Sei Shonagons Kopfkissenbuch im Jahr 996 einsetzt, und er seinen Film 1996 zu drehen begann, das Buch im Jahre 1000 fertiggestellt wurde und er seine letzte Szene am 31.12.1999 drehte.
Haio Forler:
Zitat von Aljoscha der Idiot
Das Muntere, Strahlende der Musik hat zuweilen etwas sehr Ironisches.
Ja, ironisch, rückblickend, und gar ein wenig zynisch.
Die Musik scheint immer sagen zu wollen: so sind die Naturgesetze, unabänderlich.
Christian Erdmann:
Unausweichlichkeit, Unentrinnbarkeit, Gefangensein in sadomasochistischem Aufschub. Alles Zyklische hat Abweichungen, keine Abweichung ändert was am Zyklischen. :)
Nyman meinte mal, er atomisiere Musik, achte auf kleine Phrasen und Fragmente, diese magischen kleinen Wendungen, deren Schönheit für ihn schon Zeugnis für absolutes Genie ist. Bei „Drowning By Numbers“ liegt Mozarts Sinfonia Concertante KV 364 zugrunde, insbesondere Takte 58-61, bei „Draughtsman’s Contract“ war Purcell Inspiration oder Ausgangspunkt.
Gwynplaine:
@Aljoscha
@BerSie
Vielen Dank auch für eure Tips bezüglich Greenaway. Echt! Ohne Euch wäre das Leben manchmal so öde und leer :)
Pnin:
Mag jemand eine Runde Hangman’s Cricket mitspielen?
BerSie:
Na gut! Ich werde Sie rehabilitieren, wenn Sie mir in wenigen Worten die Regeln dieses mir nicht bekannten Spiels erklären!
Christian Erdmann:
Du mußt einen Run mit der Katze schaffen, damit du deine bewilligten neun Leben behältst. Wichtig ist, eine Identität zu haben, die den Schiedsrichter überzeugt. Der Totengräber darf alle erreichten Punkte von Ausgeschiedenen zu seinen eigenen addieren. Wenn du der Henker bist, mußt du dich mit dem Richter zusammentun. Henkercricket macht erst nach vielen Stunden Spaß, wenn jeder Spieler eine ungefähre Vorstellung von den vielen Regeln hat und weiß, welchen Charakter er spielen will. Moment, es gibt nicht nur einen Schiedsrichter, es gibt zwei.
Pnin:
Außerdem darf die Jungfrau nur mitspielen, wenn sie der Partner der Zwillinge ist.
Christian Erdmann:
Stimmt. Aber wie war das, muß man einer Stelle zwingend „Bugger Bognor!“ rufen?
Pnin:
Das gehört zur blutigen Cricketgeschichte. :)
[SPIEGEL ONLINE Forum „Lieblingsfilme – was ist ‚großes Kino‘?“, 2008/2009]
Encore: Track 14 aus Michael Nymans Soundtrack für Peter Greenaways „Prospero’s Books“, „The Masque“. Marie Angel (Iris), Deborah Conway (Juno), Ute Lemper (Ceres). Phantastische 12 Minuten, aber gerade Ute Lempers Part in diesem Stück fand ich immer überaus zauberhaft.
Iris, Ceres, Juno:
Come, temperate nymphs, and help to celebrate
A contract of true love; be not too late.