Dienstag, 06.09.2011
„All journeys have secret destinations of which the traveler is unaware.“ – Martin Buber.
Madames Plan für Helmut-Berger-Spotting in Salzburg: „Ich mag dünn sein, aber ich beherrsche die Kunst des Im-Wege-Stehens!“
Um 16:56 rollt der Zug in Salzburg ein, die Nachmittagssonne scheint warm, wir nehmen den Bus 5 und fahren die 10 Stationen bis zur Wäschergasse, Pension Katrin, Nonntaler Hauptstraße 49b, von Frau Terler freundlichst empfangen, südlich des Festungsberges, den wir fortan über Herrengasse, Kajetanerplatz und Schanzlgasse zu umrunden pflegen. Otto Basil bezeugt, daß Trakl gern durch „das Gewinkel des Nonnbergtales“ wanderte. Wo sich der Asphalt des Bürgersteigs am Kantstein krümmt wie eine alte Käsescheibe, sympathisch. Zimmer 8, am nächsten Morgen beim ersten Frühstück instinktiv im Wintergarten gelandet und den Tisch psychophysisch okkupiert für den Rest der Zeit.
Erster Blick auf die Festung Hohensalzburg von Süden aus.
„Harry, das ist eine verdammt gute Festungsanlage!“ (Agent Cooper).

Wir wandern zurück zur Altstadt, wo Salzburg ehrwürdig und staubpastellig wirkt – und sehr viel leerer als gedacht. Wir begeben uns direkt zur Franziskanerkirche.
Der um 700 in Irland geborene heilige Virgil (Feirgil von Aghaboe), der ab 743 in Europa auf Mission geht, Bischof von Salzburg wird und Abt des Klosters St. Peter, ein bedeutender Gelehrter, den sie „Geometer“ nannten, läßt hier die erste, auf einer frühchristlichen Gebetsstätte errichtete Kirche restaurieren. Sie fällt 1167 den von Friedrich I. Barbarossa initiierten Brandschatzungen zum Opfer. Anfang des 13. Jhdts. wird sie neu aufgebaut, 1223 neu geweiht, beim Brand der Stadt 1267 weitestgehend zerstört.
Anfang des 15. Jahrhunderts wird zunächst unter Star-Baumeister Hans von Burghausen, später unter Stephan Krumenauer (Stephan von Krumau) ein Neubau vollendet, 1592 übergibt Fürsterzbischof Wolf Dietrich von Raitenau die Kirche den Franziskanern. Später gilt der romanisch-gotische Stil der Kirche als „unschön“, Ende des 18. Jahrhunderts plant der letzte regierende Erzbischof Colloredo gar, die Kirche komplett abreißen lassen, um an ihrer Stelle ein Mausoleum für Erzbischöfe zu errichten, was dann netterweise doch an Colloredos Sparsamkeit scheitert. Sehr wirkungsvoll der Eindruck, in dieser Kirche einen Weg aus „dunkler Welt“ ins Licht zu beschreiten, vom spätromanischen Langhaus zum lichtdurchfluteten Hallenchor mit seinen hohen, schlanken Säulen, zu Hans von Burghausens Zeit eine hochmoderne, kühne Konstruktion. Das Langhaus aus der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts ist eines der ältesten Baudenkmäler der Stadt.
Zwei Spinnen baumeln von einer Grabplatte in der Franziskanerkirche.

Bei diesem geschmückten Schädel, der zuweilen aus roten Juwelen ins Innere der Franziskanerkirche blickt, scheint es sich um einen St. Eutyches zu handeln. Oder um einen, von dem gewollt wird, daß er es ist.

In die Westwand des Südschiffes eingemauert ist der aus rotem Untersberger Marmor gefertigte Grabstein des heiligen Virgil. Er stammt vom Hochgrab des Virgil im alten romanischen Dom, der beim Brand von 1598 so schwer beschädigt wurde, daß Erzbischof Wolf Dietrich von Raitenau ihn abreißen ließ. Zur Weihe des neuen, unter dem Baumeister Santino Solari errichteten Barockdoms 1628 wurden die Gebeine des Virgil dorthin überführt, der Grabstein verblieb in der Franziskanerkirche. „Im Jahre des Herrn 1315 am 26. September hat Erzbischof Wichard von Salzburg hier den Leib des hl. Virgil beigesetzt.“

Der Tod, gelenkig wie immer.

Sehr alter Löwe (um 1220) beim Aufgang zur Kanzel.

All things are quite silent. Der Dom kurz vor einer Kürbiscremesuppe.

Mittwoch, 07.09.2011
Helmut Berger bleibt noch verhältnismäßig unsichtbar. Wir beschließen, daß dies sein Haus ist. Was genaugenommen eher unwahrscheinlich ist, aber wir gehen täglich daran vorbei und irgendwohin muß man sein „Helmut, wink‘ mal“ schließlich richten.

Freddie ist ein Exemplar der Chiroptera IKEAensis, ein wenig übergewichtig und äußerst friedfertig. Bisher bestand sein Leben vor allem aus zwei Beschäftigungen: „Am alten Kerzenleuchter hängen“ und „Sich mal runterfallen lassen“. Ein ruhiges, auf Dauer jedoch etwas langweiliges Dasein. So beschloß Freddie eines Tages, sich an einen Trolley zu hängen und Europa zu entdecken.

Auch Freddie befindet, daß eine Fahrt mit der Festungsbahn für Luschen ist, aber der Aufstieg zur 120 m hohen Festung Hohensalzburg ist eine echte Herausforderung für Mensch und Fledermaus.

Blick auf den Keutschachbogen. Benannt nach Leonhard von Keutschach, zwischen 1495 und 1519 Erzbischof von Salzburg, ein mächtiger, kriegerischer und sehr eigensinniger Regent, der in seinem Wappen eine Rübe führte. Jawohl, eine Rübe. Unter Leonhard wurde die 1077 während des Investiturstreits errichtete Festung zu ihrer jetzigen Gestalt ausgebaut, abgesehen von einigen Sperrwerken und Bastionen, die Erzbischof Paris Lodron im 17. Jahrhundert noch bauen ließ.

Es mag an der Höhenluft liegen, aber am Eingang zur Roßpforte denkt man: wenn hier nicht gleich der Nosferatu erscheint und hereinbittet, dann weiß ich auch nicht.


Oh, there he is.

Denn dies ist der Weg durch die Höllenpforte.

Vom Atem der Geschichte angeweht, fühlt sich Freddie um ein paar Jahrhunderte zurückversetzt und imitiert eine Fledermaus aus dem Jahre 1502.

Burghof.
Immer denkst du das weiße Antlitz des Menschen
Ferne dem Getümmel der Zeit;
Über ein Träumendes neigt sich gerne grünes Gezweig

Detail des Denkmals für Erzbischof Leonhard von Keutschach an der Südwand der St. Georgskapelle, 1515, ein Löwe hält das Rübenwappen. Wie die Inschrift aufklärt, segnet Leonhard hier das Land Salzburg. Das Land, wohlzumerken, dessen Bewohner ihm eher an der Rübe vorbei gingen. Es gibt 53 Rüben auf der Festung. Warum der grummelige Leonhard eine Rübe im Wappen führte? Eine Legende behauptet, daß Leonhard in jungen Jahren einem eher unaufgeräumten Lebenswandel anheimfiel. Ein Onkel Leonhards, ein braver Landmann, hielt ihm die lästerlichen Ausschweifungen vor. Leonhard reagierte keck, worauf der Onkel ihm eine Rübe an den Kopf geworfen haben soll.
Leonhard, der eine Vorliebe für süßen Wein behielt, ließ auch den „Salzburger Stier“ bauen (den man beim Audioguide-Rundgang bewundern kann), ein mechanisches Orgelwerk, das von der Festung aus einen markerschütternden Dreiklang erzeugte, der die 5000 Salzburger Bürger früh aus den Betten warf. Als ob jeden Morgen der Minotaurus brüllt.

In der St. Georgskapelle


Eingang zur Pfisterei: Ertzbischoff Leonhart hat auch Kheller, Kuchen und Pfister lassen machen.

Eine breite Treppe aus roten Marmorstufen führt zu den drei Obergeschossen des Hohen Stocks, dem Hauptgebäude der Festung, lange Zeit Residenz des Fürsterzbischofs, mit den fürstlichen Prunkräumen und dem Festungsmuseum in den ehemaligen Wohnräumen des Erzbischofs. Faszinierend: im 1. Obergeschoss kann man durch eine freigelassene Öffnung im Fußboden verblüfft auf den Gipfel des Festungsbergs starren. Im Festungsmuseum sind einige Folterinstrumente ausgestellt, Schandmasken und eine Kette für Falschspieler.

1998 entdeckte man in der Wand eines Raums im 2. Obergeschoss eine aus sechs Bögen bestehende romanische Fensteranlage. Die Wand war einst die Außenseite eines alten Palastgebäudes. Die Bemalung der Arkadenfenster ist 800 Jahre alt.

In der Goldenen Stube

Mit Audioguide durch den Wehrgang und auf den Reckturm.



Strange to behold is the stone of this wall
Till a hundred generations of men pass away

Der Festungsgasse-Brunnen

Der Abstieg von der Festung erfordert einige Balanceakte, ein wirbelnder Fallwind wird hinter uns plötzlich zu einem Miniaturtornado, ein schwarzes Eichhörnchen kreuzt unseren Weg. Im Durchgang zum Stiftshof von St. Peter gibt es einen Klosterladen, die Mönche verkaufen erstklassiges Bio-Eis, das wir beim Marmorbrunnen im Hof der Erzabtei genießen.

Picknick bei der Pferdeschwemme am Mönchsberg, dann entern wir St. Blasius. Wir sitzen auf einer Kirchenbank, ich lese mit gedämpfter Stimme vor: „Die gotische Hallenkirche wurde um 1330 als Nachfolgebau einer schon im Jahre 1185 urkundlich erwähnten Kapelle des Admonter Hofes errichtet…“ etc. Außer uns befinden sich noch zwei ältere Damen in der Kirche, die auf einer Kirchenbank weiter vorn abwechselnd den Rosenkranz beten. Da ich weiter vorlese, werden sie immer lauter und emphatischer, bis sie den – mea culpa – wahrscheinlich erbittertsten und rabiatesten Rosenkranz erklingen lassen, den St. Blasius je gehört hat. Eine Art Call and Response and Call zwischen ihnen und mir.
Das Gewölbe von St. Blasius

Im Park von Schloß Hellbrunn ließ Trakl sich manchmal über Nacht einschließen, aber „Trakl liebte auch den Park von Mirabell mit dem Zwerglgarten und dem Labyrinth von dunkelüberlaubten Wegen und Gängen, in denen man sich verlieren konnte – Ein Faun mit toten Augen schaut / Nach Schatten, die ins Dunkel gleiten. In dieser Lyrik ist noch alles gedankenmusikalisch, thematisch stimmungsgetränkt, diaphan. Der Verfall tritt dem Dichter an allen Ecken und Enden entgegen, die schöne Stadt zerbröckelt in seiner Phantasie zu amorphen, vergilbten Bildern. Aus den braun erhellten Kirchen / Schaun des Todes reine Bilder…“ (Otto Basil).
Trakl-Gedichttafel im Mirabell-Garten an der östlichen Gartenmauer. Trakls Schwester Hermine wohnte nach 1909 für einige Jahre im Schloß Mirabell.

Eine mißmutige Kreatur im Mirabell

Eine scheue Kreatur im Mirabell

Eine neugierige Kreatur im Mirabell

Freddie im Mirabell

Im Zwergerlgarten. Ursprünglich 28 Zwerge hatte Fürsterzbischof Franz Anton von Harrach, der sich auch Hofzwerge hielt, 1715 nach Kupferstichen von Callot anfertigen lassen. Ludwig I. von Bayern fand sie so entsetzlich, daß er nicht nur zum Riechfläschchen griff, sondern auch zu Maßnahmen. Die Zwerge wurden entfernt, bis heute wurde etwa die Hälfte der Figuren wieder aufgefunden und zurück an ihren Platz gebracht.


Wilhelm, sind das Phantome, wenn es uns wohl ist?

Fürsterzbischof Wolf Dietrich von Raitenau hatte Mirabell 1606 für seine Geliebte, die schöne Kaufmannstochter Salome Alt errichten lassen, damals noch als Schloß Altenau, Wolf Dietrichs Nachfolger Markus Sittikus von Hohenems benannte es in „Mirabell“ um. Der Garten wurde um 1690 nach Entwürfen von Johann Bernhard Fischer von Erlach umgestaltet, um 1730 noch einmal wesentlich verändert. Wolf Dietrich hatte sich in Rom vergeblich um Dispens bemüht, um Salome zu ehelichen, aber in Salzburg spricht man noch heute von Wolf Dietrichs Frau.

Den Sonnenuntergang verbringen wir im Heckentheater aus dem 18. Jahrhundert, gestaffelte Laubhecken wie Theaterkulissen, als wir den Mirabellgarten verlassen, lockt diese Schöne an eine Hintertür des Marionettentheaters, das im alten Hotel Mirabell untergebracht ist, in dem 1928 James Joyce wohnte. Die Königin der Nacht.

„Auch ich war einmal so elegant wie Sie, in Schwarz und Weiß“, sagt ein ausnehmend höflicher älterer Herr, der um ein wenig Kleingeld bittet und sich mit „Habe die Ehre“ und „Alles Gute, Mädl, darf ich Mädl sagen?“ bedankt, wir sitzen auf dem abendlich leeren, dunklen, stillen Domplatz, Mozart kommt in einer Kalesche um die Ecke, Offenbarung und Untergang.