

SPIEGEL ONLINE Forum
29.01.2010
Christian Erdmann:
… Tanizakis Konzept japanischer Ästhetik, die beinhaltet, daß Schönheit nicht in den Objekten selbst zu suchen sei, sondern zwischen ihnen, im Helldunkel, im Schattenspiel; im nicht restlos Ausgeleuchteten, im Indirekten und Angedeuteten; …
KLMO:
Habe gerade auch das Büchlein von Tanizaki „Lob des Schattens“ gelesen. Dass hier die japanische Kultur eine größere Sensibilität gegenüber den westlichen Kulturen aufzuweisen hat, ist für mich eine neue Erkenntnis.
Christian Erdmann:
Hast Du das Gespräch von Gero von Boehm mit Ryuichi Sakamoto gesehen? Sehr interessant: von Boehm spricht Sakamoto auf den Film „Merry Christmas Mr Lawrence“ an. Britische Soldaten in einem japanischen Kriegsgefangenenlager auf Java, 1942. Major Celliers, gespielt von David Bowie, gerät in eine hochkomplexe, erotisch aufgeladene Beziehung zum Kommandeur des Lagers, Yonoi, gespielt von Ryuichi Sakamoto, der ein strenges bis sadistisches Regiment walten läßt, aber auch deutlich als feinsinniger Mensch erkennbar ist, der gegen seine eigenen Neigungen kämpft. Lawrence ist der britische Colonel unter den Gefangenen, der in der hochangespannten Lage versucht, eine Brücke zwischen den Kulturen herzustellen, der Japanisch sprechende Vermittler, aber die Lage eskaliert, weil Yonoi, zerrissen zwischen seiner Faszination für Celliers (Tabu der Homosexualität in ultranationalistischem Kontext) und dem Druck, seiner Rolle entsprechen zu müssen, zunehmend die Selbstbeherrschung verliert, provoziert von Celliers, der ihn durchschaut. Als Yonoi einen dramatischen Aufmarsch aller Gefangenen inklusive der Schwerverwundeten befiehlt und ein letztes Mal Informationen einfordert, ist er kurz davor, dem Gefangenensprecher den Kopf abzuschlagen. In diesem Moment tritt Celliers hervor, geht auf Yonoi zu, und küßt ihn. Yonoi fällt in Ohnmacht, Celliers wird büßen.
Von Boehm bemerkt, daß der Regisseur Bernardo Bertolucci dies „die schönste Kußszene der Filmgeschichte“ nannte: „Weil es zwei Männer waren?“ Sakamoto: „Probably…“ – Ein sehr höfliche, japanische Art zu sagen: Blödsinn. Im nächsten Satz sagt Sakamoto dann, einer wie Bertolucci nehme „Dinge wahr, die andere nicht sehen“. Sakamotos Antwort hier, würde ich sagen, ist auch ein Beispiel für das Indirekte. :)
Empfehlung dazu: die drei Geschichten „Trennender Schatten“, „Die Saat und der Säer“ sowie „Das Schwert und die Puppe“ von Laurens van der Post, Original erschienen 1963, unter dem Sammeltitel „Das Schwert und die Puppe“ 1994 bei Diogenes erschienen. Van der Post stand in den 1930ern dem Bloomsbury Set nahe und war während des Zweiten Weltkriegs in Kriegsgefangenschaft selbst eine Art Mr Lawrence. Feinfühliger Versuch, die „japanische Seele“ zu ergründen, insgesamt ein Zeugnis für das Aufrechterhalten von Würde, Hoffnung und Verständnis under pressure, zumal in Zeiten der Eskalation kulturellen Mißverstehens.
KLMO:
Natürlich habe ich das Interview gesehen. Wie Sakamoto sein Freiheitsideal radikal umsetzte, hat mich am meisten fasziniert.
Schon als Kind bekennt er rigoros, dass er keinen Beruf anstrebe. Beruf heißt für ihn Bindung, Abhängigkeit – und das lehne er ab.
Dass der schon in der Kindheit mit solch einem Freiheitswillen durchdrungen war, ist allein schon ein Ausnahmephänomen. Er folgt und vertraut nur seiner eigenen Kreativität und wird dabei noch erfolgreich. Dabei auch interessant, dass er sich ungern in der Musik festlegen will und andererseits die chinesische Kultur und Musik eingehend studiert, um einer Filmmusik, die er komponiert, gerecht zu werden. Dabei bestach beim Interview immer wieder seine Gelassenheit ohne jeden Pathos.
Christian Erdmann:
„Es sind die kleinen Ziele, viele kleine Ziele.“ – Ein überaus sympathischer Mensch von stiller, beeindruckender Offenheit, fürwahr. Trotz Haßliebe zur chinesischen Kultur – „Und die chinesische Fünftonmusik mag ich sowieso nicht“ – die Essenz dieser Musik verstehen zu wollen: gerade wenn eine solche Haltung, übertragbar auf beliebige Zusammenhänge, so selbstverständlich wirkt wie bei ihm, wird einem deutlich, wie häufig man sie bitter vermißt. – Schön auch seine Antwort auf die Frage, was er in New York „hört“: den Sound von 1 Million Klimaanlagen.

Ryuichi Sakamoto
17.01.1952 – 28.03.2023
R.I.P.
2 Antworten auf „Ryuichi Sakamoto“
~ ~ ~
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Das ist von unfaßbarer Schönheit, danke ❤️
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