
Shades

Ostern 2023
Listening to „Warszawa“ in Warszawa, 20/08/2019
„Zuletzt verschlug es Aljoscha in einen Schallplattenladen. Ein alter schwarzer Bluessänger sang alten schwarzen Blues. Der Mann an der alten schwarzen Kasse sah aus wie Majakowski. An einem Ständer hingen T-Shirts. Aljoscha sah sie gelangweilt durch, bis er eines mit dem Erkennungszeichen des Kollektivs Einstürzende Neubauten fand. Auf dem schwarzen Stoff zeichnete sich ein archaisches Symbol ab, das an eine Höhlenmalerei der Frühzeit erinnerte. Nur war hier kein Tier dargestellt von Menschenhand, sondern eine menschliche Gestalt, die so wirkte wie die Vorstellung, die ein Tier vom Menschen haben könnte. Ein Rückgrat, davon ausgehend Arme und Beine, statt Händen oder Füßen nur die Andeutung einer atavistischen Drehung der Extremitäten; der Kopf ein Kreis, überdimensional vergrößert, und in den Kopf-Kreis war ein Mittelpunkt gemalt. Wie der Herzmittelpunkt in der Umrißzeichnung eines Elefanten in der Pindal-Höhle, 12000 Jahre alt. Was bedeutete dieser Mittelpunkt hier? Gesicht? Blick? Brennpunkt? Verdacht auf Innewohnendes? Vermuteter Sitz einer Matrix, die für unfaßbare Vorgänge im Innern der Gestalt verantwortlich ist?
Reduktion auf das Wesentliche, äußerste Stilisierung, äußerste Verdichtung. Diese Figur, dieses ins Quintessentielle implodierte Menschlein, strahlte gespenstische Intensität aus. Unheimlich stand es da wie die unentzifferbare Wahrheit des Schauerlichen, unheilschwanger in seiner primitiven Indifferenz, und lud sich auf mit Exzentrizität – mit extremer Abweichung vom gegenwärtig eingenommenen Punkt.“
Christian Erdmann: Aljoscha der Idiot
Als sie 8 Jahre alt war, spielte sie in einer Aufführung zu Weihnachten einen Engel. Sie hatte eine einzige Zeile zu sprechen. Sie zupfte Petrus aufgeregt am Ärmel und rief: „Und nicht wahr, du sagst Bescheid, ob auch alle Erdenleute sagen, daß wir Sternchen tragen?“
Her name was Maria. She died one Christmas Eve. One silent night and holy night.
Some photo booth in Paris. I’m in my twenties.
Blond, blurred, bibliophil
Die ausgestorbene Kunst des nachcolorierten Photos.
In der Galleria del Costume kam der Geist über Leda. Sie bewunderte die alten Stoffe, den Schnitt früherer Moden, sie studierte die Qualität der Verarbeitung und ignorierte, Zeichen der Ekstase, zwei oder drei Berühren verboten. Ihr Entzücken war ein sachverständiges, und ein schwarzes Charleston-Kleid wurde nicht von einem lasziven Vamp mit Perlenkette und Zigarettenspitze vorgeführt, sondern von der weißen Puppe Nr. 40. Aljoscha aber beschäftigten solche Fragen: welche Contessa hatte einst diese unfaßbar zierlichen Handschuhe von ihren unfaßbar grazilen Händen gestreift? Auf welches Bein hatten diese Spitzenstrümpfe ein Ornament im spätgotischen Flamboyantstil gezeichnet? Erweiterte die eingeengte Taille das Bewußtsein?
„Ein schwarzer Seidenstrumpf ist wie eine Glasur“, erklärte Aljoscha ungefragt. „Eine Glasur aus Dunkelheit. Geschmolzene Dunkelheit. Die Dunkelheit geschmolzener Träume. Auf dem Bein wie Blattgold auf einer Ikone. Sakraler Glanz eigentlich. Die Haut unter dem Glanz wird unberührbar. Durch den Schutz betont, durch die Betonung geschützt. Stiefel aus göttlichem Lack. Schwarze Rüstung als bloße Idee.“
„Ein Seidenstrumpf ist ein Kleidungsstück, Aljoscha.“
„Festgezurrt wie das Jagdkleid der Artemis! Schwarzes Licht, das sich über einen Schenkel ergießt! Unterweltsgöttinnenhülle!“
Christian Erdmann, Aljoscha der Idiot