Als er eines Nachmittags Max Brod besucht und beim Weg durch das Wohnzimmer dessen auf dem Sofa schlafenden Vater weckt, flüstert Kafka, auf Zehenspitzen weitergehend: „Bitte, betrachten Sie mich als einen Traum.“ – [Peter-André Alt]
Sonntag, 02.09.2012
Vom Hotel Europa in Brno in den Zug nach Prag. Uns gegenüber sitzt ein goldkettenbehangener Kahlkopf, der uns eine Viertelstunde lang finster anstarrt, like a loose cannon skinhead, sinistres Gedankengut im Schädel. Nach besagter Viertelstunde hat er irgendwas beschlossen, kramt in seinem Rucksack, öffnet umständlich eine Tüte Bonbons und hält sie uns formvollendet hin. Der Beginn einer wunderbaren Zugfreundschaft, er entpuppt sich als Bauarbeiter aus Bratislava auf dem Weg nach Nürnberg, der einfach darauf besteht, uns eine Überdosis Lakritzbonbons zu verabreichen, später sprühen wir uns gegenseitig mit Parfum ein, wir ihn mit Serge Lutens, er uns mit Harem von Ting Tong. Eingecremter Arbeiter. Wir waren sicher, er würde desweiteren darauf bestehen, uns in Prag in irgendeinen darkroom zu führen, doch er verabschiedet sich dann doch, herzlichst.
Metro nach Anděl, Schlüssel für die Austria Suites, an der Balkontür unseres Zimmers ein Schildchen, das darum bittet, keine Zigarettenstummel hinauszuwerfen: „Plastdach unter Ihnen kann abbrennen“, ein Apfelkuchen von Monsieur Paul vor der Kostol svatého Václava, dann nach Olšany. Wichtiger Besuch zu machen auf dem Neuen Jüdischen Friedhof.

Wahrscheinlich der Schriftsteller, den ich am meisten liebe und verehre und der, der mich am meisten erschüttert.
Die Gedenktafel für Max Brod, direkt gegenüber Kafkas letzter Ruhestätte.

Der Friedhof von Olšany (Olšanske hrbitovy) ist der größte Prager Friedhof. Die Nekropole gibt es seit 1680, als in Prag eine Pestepidemie wütete und die Stadtfriedhöfe für die zahlreichen Opfer zu klein geworden waren. Der Friedhof hat 12 Sektionen; die ältesten Abteilungen erwarten den Schauerromantiker mit, wenn man genau hinsieht, Unaussprechlichem.
Einmal war auch Kafka auf diesem Friedhof mit einem Fahndungsauftrag unterwegs. Milena Jesenská hatte einen Bruder, der früh verstorben war, und Kafka suchte auf Milenas Bitte nach dem Grab ihres kleinen Bruders.










Für den Film „From Hell“ von 2001 – Johnny Depp als Inspector Frederick Abberline im London von 1888 dem Geheimnis von Jack The Ripper auf der Spur – zogen die Hughes Brothers nach Prag und Kutna Hora. Einige Szenen des Films wurden auf dem Friedhof Olšany gedreht. Mary Kelly und ihre Freundinnen, Straßenprostituierte im Whitechapel District, müssen zusehen, wie das zweite bestialisch hingemetzelte Opfer aus ihrer Schar beerdigt wird, Polly Nichols. Abberline und Sergeant Godley (Robbie Coltrane) sind anwesend, es kommt zum ersten Gespräch zwischen Abberline und Mary Kelly (Heather Graham).
Die zweiminütige Sequenz, die auf Olšany gedreht wurde, beginnt mit einem shot auf diesen Engel. 2010 hatten wir uns zum ersten Mal auf die Suche nach ihm begeben, er hat an Glanz gewonnen und bewacht noch immer den Ort der Dreharbeiten.



Sektion II, eine der beiden ältesten Abteilungen des Friedhofes.








Das Unaussprechliche an Olšany? Vermeidet man, indem man nicht in Abgründe wie diese blickt. Sometimes they stare back.





Anhang: Kommentarsektion Antirationalistischer Block

















