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Poèmes

Die Zitadelle


100 Menschen in der Zitadelle, als der Spuk begann
Wie ein Mysterienspiel, ein Traum in Acht und Bann

90 Menschen in der Zitadelle, „Wir sind alle nur Statisten“
Sagt ein Abbild der Maria, keiner weiß um den Protagonisten

80 Menschen in der Zitadelle, wie doch die Zeit schlafwandelt
Und die erste Schöne findet ihr Portrait verschandelt

70 Menschen in der Zitadelle, zu viele Zeitgenossen in der Menge
Schwanken wie gebrochene Versprechen durch die Gänge

60 Menschen in der Zitadelle, Schaufensterpuppen nähren Parasiten
Ein Zimmer wird verdunkelt für sonderbare Riten

50 Menschen in der Zitadelle, Worte aufs Geratewohl, Schüsse in den Mond
Masken fallen unerwartet, Augen plötzlich unbewohnt

40 Menschen in der Zitadelle, gezinkte Karten und ein Trick
Am Tisch von Tod und Teufel, aus dem Halbdunkel ein Blick

30 Menschen in der Zitadelle, Wahrheiten sind frei zum Umtausch
Die Göttin mit dem Phlegma schaukelt hin und her im Rumrausch

20 Menschen in der Zitadelle, für die Gesetze dieser Stätte blind
Die Angst, sie weht in mir wie eisig kalter Wind

15 Menschen in der Zitadelle, Augenlider schwarzgemalt geschlossen
Stirbt die Unschuld, Giftkuß unter ihre Haut geschossen

14 Menschen in der Zitadelle, Wirklichkeitsdarsteller suchen Sinn
Und jeder mit „Ich weiß es!“ auf den Lippen fährt dahin

13 Menschen in der Zitadelle, unter den sinistren Zinnen kein Warum
Die Gelassenen und die Ausgelassenen stehen still, für immer stumm

12 Menschen in der Zitadelle, ein dunkler Keller, wo es dumpf rumort
Während die Spirale der Gefühle unaufhaltsam abwärts bohrt

11 Menschen in der Zitadelle, dem Geisterseher wird der Kopf verdreht
Er schreit um Hilfe in der Sprache, die nur er versteht

10 Menschen in der Zitadelle, der Mann mit den distanzgewohnten Augen
Zu schwach, um Liebe aus Verheißungen zu saugen

9 Menschen in der Zitadelle, all die süßen Stimmen täuschen hier
Ihr Blick folgt mir seit Babylon, und schweigend folgt sie mir

8 Menschen in der Zitadelle, vergessener Nomade, Schuld im Herzen
Niemand wacht mit dir im Ring aus hundert Kerzen

7 Menschen in der Zitadelle, der Hieroglyphenleser sucht den Säulengang
Dunkle Kolonnaden, dreizehntausend Nächte lang

6 Menschen in der Zitadelle, der Schwadroneur, der nur sich selbst erregt
Eine trockene Knochenhand auf seine Brust gelegt

5 Menschen in der Zitadelle, der Mond ist blutig heute nacht
Stundenloses Zimmer, ihre Beine zittern, was hat uns hierher gebracht

4 Menschen in der Zitadelle, der letzte Zweifler steht auf einer Brücke
Sein gläsernes Gewissen zerspringt in tausend Stücke

3 Menschen in der Zitadelle, am Rand der Zukunft jagen Schattenwächter
Heimwehkranker Blick, zuletzt verglüht der Spiegelfechter

2 Menschen in der Zitadelle, Geisterritt auf brennendem Begehr
Im Morgengrauen steht die Zitadelle nicht mehr leer

"Die Zitadelle", Gedicht von Christian Erdmann.

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