Januar 2016

Im Herbst 2009 erging ein questionnaire mit 13 Fragen an den Autor von „Aljoscha der Idiot“. Die zweite Frage war: „Haben Sie schon herausgefunden, was ‚das alles‘ soll?“
Meine Antwort war: „Doch, schon. Unsere Mission ist, das alles mit Bedeutungen aufzuladen. Und ins Hinterland zu gelangen, wie David Bowie sagte. Ich glaube, er meinte so eine Art Hinterland der Realität.“
The hinterland, the hinterland
We’re gonna sail to the hinterland
And it’s far far far far far far far far away
It’s far far far far faa faa da-da da-da da
1 2
3-4
0000
Eine andere Frage: Musik für das Leben auf der einsamen Insel nach einer Flugzeug-Notlandung. Der erste Song, den ich wählte, war „Aladdin Sane“ von David Bowie:
„Was Mike Garson in diesem Stück macht, ist das Beunruhigendste, Faszinierendste, Beeindruckendste und Heftigste, das man je von einem Piano im Rock-Kontext gehört hat, Punkt. Eine der großartigsten Improvisationen, die es überhaupt je gegeben hat, genau das, was im Englischen ‚haunting‘ heißt – es verfolgt dich für immer mit seiner bizarren Schönheit. Bowie beschwört diese schwüle Vorkriegs-Dekadenz, diese seltsame Wehmut, das Jahr 1913 erscheint in Klammern im Titel des Songs, auch das Jahr 1938, aber 1913 war auch das Jahr von ‚Le Sacre du Printemps‘, wie schon gesagt. Es ist, als ob der ‚lad insane‘ Strawinskys Paroxysmus im Kopf hat.
Bowie beschwört in dem Song zunächst diese traumgleiche, ominöse, extravagante Atmosphäre, etwas, das dem Untergang entgegengeht, während noch der Champagner perlt, und einen Charakter am Abgrund, crying for escape. Und dann bricht dieses komplett wahnsinnige Solo los. Anarchisch, dissonant, absolut brillant, absolut virtuos, zersplittert, zerklüftet, wie der Geist dieses Charakters selbst. Als ob alle Neuronen, alle Synapsen in die Schizophrenie britzeln. Unglaublich, einzigartig. Wirklich, ich weiß nicht, ob es etwas vergleichbar Waghalsiges gibt. Dieses Pianosolo ist todesmutig.
Man kann Bowie nicht genug rühmen für seine Furchtlosigkeit. Er gibt zwei Akkorde vor für den Mittelteil und sagt zu Garson, von dem er einiges über Avantgardemusik gehört hat: mach mal. Und der macht das in einem einzigen Take. Vor einer Weile sagte Garson, er bekommt noch immer jeden Tag Briefe und Emails wegen dieses Solos von 1973. Ich muß dem auch noch schreiben.“
Es gäbe viele Bowie-Stücke für viele Notlandungen, vor allem aber ist Bowies Erscheinen in diesem Frage-und-Antwort-Spiel symptomatisch eben dafür: Er war da, seit ich ein Bewußtsein habe, und er wird da sein, bis ich das Bewußtsein verliere. Bowies „Cat People“ in Aljoschas Ohr war nur der bedeutendste Schachzug der Mächte-die-da-sind.
„Als Aljoscha durch die Korridore eilte, begegneten ihm zwei Zeppelinpiloten und ein schwarzer Hund, ein Flaneur suchte die blaue Terrasse, und in einer Bildergalerie führte ein Mann mit einem Messer durch ein Jahrzehnt der Kunst.“ – „Black Dog“ von Led Zeppelin, „Montage Terrace (In Blue)“ von Scott Walker und „Art Decade“ von David Bowie, of course.
In meiner 5. und 6. Klasse gab es einen Jungen, der eigentlich ein Mädchen war und sicher auch wurde. Er war gut befreundet mit -> Iris, also mußte es geschehen: Star dream girl hörte „Ziggy Stardust“, so begegnete ich Bowie zum ersten Mal. Bald darauf „The Jean Genie“, mit 14 erwarb ich meine erste Bowie-LP, „Aladdin Sane“.
„You consider ‚Jean Genie‘ now and chuckle at yourself, the naive way you used to think it was heavy rockin‘ shit. And then you play it and it is.“ – Chris Roberts, 1990
Seit 2013 tourt die Ausstellung „David Bowie is“ durch Museen weltweit. Die Frage, wer David Bowie ist, blieb ein Mysterium auch für den kompetentesten Bowieforscher, und das war natürlich immer Bowie selbst. Sammler von Persönlichkeiten und Ideen, sicher. Eine Ein-Mann-Multitude. Wie kein anderer kannte er den Weg vom Unbewußten zur dramatischen Inszenierung. Was mir sofort zu Bowie einfiele: ein Außenseiter, der Verbindung herzustellen versucht und dabei doch immer alien bleibt. Während er gleichzeitig mit seiner Kunst, mit seinem Charisma einen ganzen Planeten überwältigt. Romantiker und Modernist, der sich ständig an nicht sichere Orte versetzt, aristokratisch und funky, dabei zugleich tiefschürfend und ruhelos auf spiritueller Fahrt.
„Angst. Isolation. Verlassenheit. Diese Themen ziehen sich durch meine gesamte Arbeit, ich habe sie eigentlich auf jedem Album in irgendeiner Weise aufgegriffen. Ich bin noch immer auf dieser spirituellen Suche.“ (2002)
Man war immer irgendwie überrascht, wenn Bowie Dinge tat, die Normalsterbliche tun, wie: mit Harald Schmidt zu sprechen oder einfach Teil einer Band zu sein. Tin Machine mußte am unwiderruflich Über- und Außerirdischen scheitern, das um Bowie war. Wie jovial und leutselig er sich auch geben mochte, wie einnehmend er auch war, wenn er als Mockney um die Ecke kam: er war immer in weiter Ferne so nah.
„There are some artists who are as big as life itself. They are part of your life and somehow escape the obligation of mortality. We cannot imagine our world without them. I can’t think of any other musician who achieved such a level of intimate distance with their audience.“ – Henry Rollins
„Pin-Ups“ war noch heartbreak beat für Iris, insbesondere „Sorrow“, obwohl Iris weder blonde Haare noch blaue Augen hatte, die Exkursion in die Welt von „Diamond Dogs“ fand nur noch in meinem eigenen Zimmer statt, und das war auch der beste Ort dafür. Das slicke „Young Americans“ war kühl-erotische Liaison, kein Killer-Riff wie Carlos Alomars Killer-Riff in Bowies white funk bitch „Fame“, mit den Zuggeräuschen von „Station To Station“ donnerte Bowie zurück in besagtes Zimmer und blieb als expandierendes Universum.
Als in der Nacht des 8. Januar 2013 das „Where Are We Now?“-Video plötzlich auf Bowies Website erschien, weinte ich. Als ich am Montagmorgen, 11. Januar, die vier Worte las: David Bowie ist tot – konnte ich nicht weinen. Es blieb den ganzen Tag unwirklich. Was oder wen er auch meint, „Where the fuck did Monday go?“ singt Bowie auf seinem letzten Werk und stirbt an einem Sonntag. Erst am Abend war ich bereit, es zu akzeptieren. Ich sah das „Survive“-Video und las dies:
So I went for a dizzying car ride through the Hollywood Hills and listened to ‚Diamond Dogs‘.
All of my nostalgia instantly turned to awe. I was hearing him sing about fiction as a mask to show his naked soul. This changed my life forever. Every song of his was a way for me to communicate to others. It was a sedative. An arousal. A love letter I could never have written.
It has become and remains a soundtrack to a movie he painted with his voice and guitar.
He sang, ‚Hope, it’s a cheap thing.‘ I don’t need hope to know that he has found his way to the place that equals his untouchable, chameleon-genius beauty. The black star in space that only HE belongs.
This crushing moment of fear and loss can only be treated the way his music has affected everyone who was fortunate enough to hear and love it. Let’s NEVER let go of what he gave us.
Marilyn Manson.
Da endlich konnte ich weinen.