Wir spielen um deine Träume, du und ich
Den dritten Kopf nannte Pjotr Der Tod. Der Knochenmann fiedelt nicht, wie etwa Böcklin meinte. Er spielt Mundharmonika. Wie in „The Carny“ von Nick Cave. Die Mundharmonika gleicht verblüffend dem erstarrten Grinsen von Gevatter Schnitter. Jeder spielt das Lied vom Tod. Der Tod lebt mit, von Anfang an. Die Anstrengungen, ihm aus dem Weg zu gehen, sind so nutzlos wie beträchtlich. Jenseits? Auferstehung? Der Tod lacht viereckig. Jeder Sensenmann amüsiert sich mit seinem lebenden Pendant, immer im Hintergrund, ganz diskret. Wir sind seine menschliche Seite. Tod ist die Rückseite der Rückseite. Nicht zu erreichen, aber konstitutiv. Wer sich mit seinem dunklen Begleiter in Verbindung setzt, versinkt plötzlich im Ticken der Wanduhr, im Klang gegebener Zeit. Unter gewissen Voraussetzungen setzt Freund Hein die Zwiesprache fort. Rauschen aller Art. Verfremdete Stimmen bei gestörten Übertragungen aus dem Radio. Glöckchen. Summen eingeschlossener Insekten. Plötzliche Lücken in Geräusch und Klang. So schärft er das Empfinden für die tiefe Gegenwart des Augenblicks, für die Pflicht, mit jeder Minute entweder Frieden zu machen oder mit jeder Minute Krieg zu führen. Das Leben duldet keinen Aufschub. Vor allen ins Später verlegten Hoffnungen blitzt die Sense auf, allzeit mähend, wo Nichtsahnen trügt. Der Schwarze! Er macht die größte Angst. Er gibt den größten Mut. Er sagt: wir spielen um deine Träume, du und ich. Er sagt: geh es machen oder geh verloren. Haben wir ihn einmal standfest gegrüßt, ist das zweite Mal nur noch pro forma. Und dazwischen liegt der Effekt seiner Großzügigkeit, das Leben.
Genau nach Plan
Mit einem Schokoladencroissant aus Schokolade, Croissant und Pappe, das ihm als Frühstück diente, hastete Aljoscha am folgenden Dienstagmorgen, Sterben und Tod hinter sich, dem Hauptgebäude entgegen. Er hoffte, daß alles nach Plan lief. Er konnte sich nur nicht mehr daran erinnern, wie der Plan war. Sie hatten ihn letzte Nacht geschmiedet, diesen Plan, mit dem Pjotr in die Poussin-Vorlesung eingeschleust werden sollte. Sie hatten einfach zu lang an diesem Plan gefeilt.
Aljoscha erreichte den Korridor und sah Pjotr an einem der Fenster stehen. Die Katzenmenschenfrau war nicht zu sehen. Trotzdem ging Aljoscha weiter, als würde er Pjotr nicht kennen.
„Verzeihen Sie!“ rief Pjotr.
Aljoscha wandte sich um. „Ja?“
„Hätten Sie wohl freundlicherweise Feuer für mich?“
Genau nach Plan. Nur hatte Pjotr offensichtlich die Zigarette vergessen.
„Gewiß“, sagte Aljoscha, trat auf Pjotr zu und suchte in seinen Taschen nach Streichhölzern, einer Zigarette, einem Chinaböller, irgendwas. Sie konnten jetzt mit gedämpften Stimmen reden. Alles lief nach Plan. Welchem auch immer.
„Schön, wie gehen wir nun vor?“ begann Aljoscha.
„Ich weiß auch nicht… deine Catherine ist schon da“, sagte Pjotr.
„Wer? Was? Bist du sicher? Wieso denn? Ich meine, woher weißt du, wer sie ist?“
Aljoscha sprach so laut, daß selbst ein schwerhöriger Gegenspion sie jetzt entlarvt hätte. Natürlich hatte er Pjotr IHR Äußeres beschrieben, aber nicht mit steckbrieflicher Genauigkeit. Wenn es sich nicht so verhielt, daß SIE um den geheimen Plan wußte und dieses Wissen Pjotr im Vorübergehen durch einen kurzen telepathischen Stromstoß oder einen chemophysikalischen Impuls übermittelt hatte, wie verhielt es sich dann?
Und warum Catherine?
„Wo ist sie jetzt?“
„Na, drinnen.“
„Wo drinnen?“
„Hör mal, der Plan war – “
„Vergiß es.“
Aljoscha schlich zur Tür und spähte vorsichtig in den Saal. Unwandelbar wie das Göttliche saß SIE, wo SIE immer saß, einen Teil seiner Vergangenheit einnehmend.
„Sie sitzt gleich hier oben, auf der rechten Seite“, stellte Aljoscha fest. „Zweite Reihe, dritter Platz von links. Ich habe da einmal gesessen, und sie vervielfältigt das irgendwie.“
Pjotr nickte. „Du mußt ganz nach unten, richtig?“
„Ich weiß nicht, ob es richtig ist, aber ich muß.“
„Ich könnte ja versuchen, in ihrer Nähe zu bleiben“, sagte Pjotr. Dieser Einzigartige! Dieser Achilles! Wie sagt Majakowski in Tagesbefehl Nr. 2 an die Kunstarmee: „Macht Schluß! Vergeßt! Pfeift drauf!“ – Zu spät. Sie atmeten beide tief durch. „Die Götter mit dir, Bruder.“ Aljoscha zog in den Hörsaal ein.
Auf dem Treppenlauf tat er so, als prüfe er nur flüchtig, ob SIE da sei. Zu ebener Erde jedoch, als er einen Umweg durch die Frontreihe machte, sah Aljoscha IHR fest in die Augen, und SIE erwiderte seinen Blick ebenso bestimmt. IHRE Augen blitzten wie vor einem magischen Zweikampf. Und wirklich, als hätte SIE beschlossen, trotz durchschauter Verschwörung den Verschwörern eine Chance zu geben, war der Platz rechts neben IHR noch frei, wie durch einen Bann geschützt. SIE war so schön und kühl, daß kein Mensch es wagen durfte, in IHRE Sphäre einzudringen. Wer es doch tat, war entweder ein völlig unzurechnungsfähiger Gimpel oder von vornherein IHR Diener und Vertrauter. Oder ein Satanskerl von einem Kundschafter: als Aljoscha sich zum dritten Male nach der Saaluhr umdrehte, sah er, wie Pjotr im Begriffe stand, sich mit seinem Pappkoffer zu besagtem Platz durchzukämpfen. Donnerwetter, mögen wir alle errettet und in Sicherheit sein! Um Punkt 10 Uhr 15 saß Pjotr Semjonow neben der mysteriösen Katzenfrau.
Jemand löschte – aber nein, niemand löschte das Licht! Verdammte Falle! Jerdzny, der ausgekochte Unterhändler! Hinterlistig lächelnd verzichtete er auf die Vorführung von Bildmaterial und hielt statt dessen einen gnadenlos abstrakten Vortrag, der auf so spektakuläre Weise banal war, daß man es nur als raffinierten Schabernack auffassen konnte. Eine geständnisfordernde Stunde lang waren alle Scheinwerfer auf das Komplott gerichtet. Wenn alle Zeiten Farben hatten, war diese Stunde von glühendem Rot. Lava-Rot, Magma-Rot, Rot der schmelzenden Beschämung.
Katzen sind System
„Was muß ich tun?“
„Immer schön früh aufstehen… keine Nachtwachen mehr halten.“
„Ich sehe nachts einfach klarer.“
„Unsinn. Und wenn du etwas von mir willst, ich schlafe nachts, du kennst mich.“
„Das hört dann auch auf!“
„Und diese laute Trümmermusik! Diese Einstürzenden Musikhallen, oder wie die heißen.“
„Neubauten.“
„Da kann ein kleines Kind nicht gedeihen! Es muß auch mal Mozart hören!“
„Das Beste, was man im Leben finden kann, ist große Kunst. Das kann ein Kind gar nicht früh genug lernen.“
„Das Beste ist große Kunst? Na hör mal!“
Unten im Schnee fielen zwei Männer übereinander. Einer rief mit schwerer Zunge herauf: „Ist da oben die Boris-N-Nikutin-Party?“
„Nein, hier oben ist die Yuri-Bloch-Party!“ rief Aljoscha zurück.
„Aaaah!“ rief der Mann. „Aaaah!“ Als hätte er gerade einen neuen Planeten entdeckt, von da unten aus. „Aaaah, ahrg!“
„Was soll das überhaupt sein, Trümmermusik? Du hast da nicht den richtigen – “
Leda küßte ihn. „Ich bin glücklich mit dir“, sagte sie.
Seine Hand berührte ihre kalte Wange; sie neigte ihren Kopf ein wenig, wie um sich ganz in diese Hand zu geben. „Weißt du noch, wie ich mal bei Sonja war und diesen Satz geträumt hatte: Katzen sind System –?“
Aljoscha zog seine Hand zurück. „Wie kommst du denn jetzt darauf?“
„Ich weiß nicht. Es fiel mir gerade ein.“
Aljoscha betrachtete die Paare, die da unten durch den Schnee stampften. „Mir ist noch nicht aufgefallen, daß Katzen besonders systematisch wären“, sagte er.
„Doch, eigentlich schon“, meinte Leda. „Katzen haben so komische Rituale.“
„Was soll denn daran komisch sein?“ Aljoscha war selbst irritiert vom unnötig unwirschen Tonfall seiner Antwort. Leda zuckte nur die Schultern.
„Vielleicht müssen wir gar nicht zusammen wohnen“, sagte sie.
Anders, unvorstellbar anders
Plötzlich stand SIE in Aljoschas Zimmer, den Blick voller Besitznahme, in den Mundwinkeln saturnisches Wissen um Notwendigkeit.
IT’S BEEN SO LONG
SIE bestieg das Bett am Fußende und bewegte sich an seinem Leib empor, bis sich IHR Schoß an seinen Lenden rieb. Seine Hand berührte IHRE bleiche Wange; SIE neigte IHREN Kopf, wie um sich ganz in diese Hand zu geben. Unendlich langsam teilten sich IHRE Lippen – seinen Finger zwischen IHREN Zähnen warf SIE den Kopf hin und her, als sollten Tiersehnen reißen. Unter schneeweißer Haut floß das Blut, das er begehrte. Das Blut seiner schneeweißen Braut. Das Blut auf schneeweißer Haut. Er küßte SIE, als müßte SIE untergehen darin. Er umschlang den Leib der Katzenfrau. SIE wisperte Fetzen aus vergessenen Texten, IHRE Augen wichen zurück in uralte Zeit, flammten dann wieder auf mit Orientierung – SIE wand sich und schrie, wie gefoltert mit liebender Seele im fließenden Austausch von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, er drang in SIE, willens zu sterben an IHR, hielt still mit IHR
YOU WOULDN’T BELIEVE WHAT I’VE BEEN THROUGH
im gestillten Heimweh, fühlte, wie IHR femininer Strom ihn härtete und spannte, wie SIE ihn fester hielt, Striemen auf seinen Rücken zeichnete – dann setzten elektrostatische Veränderungen ein, IHRE Haut schien sich aufzuladen – SIE stieß undeutliche Laute hervor, durchströmt, aufgelöst in Glut und Aufruhr, wie von einer unbezwinglichen Macht geschüttelt, SIE keuchte bald „Nicht! … Nein! … Nicht!“, bald das Gegenteil, während in die Schwingungen IHRER Stimme Modulationen kamen, die nicht menschlich klangen – über IHRE Epidermis liefen jetzt hochfrequente Entladungen, Schocks versetzend, etwas schien sich zu wandeln in jeder einzelnen Körperzelle, und ein fremdartiges Lebensfeuer war dabei, IHRE Innenwärme exorbitant zu erhöhen – Atem so heiß, als wäre Feuerqual im Innern – das Augenlid, die temperaturempfindlichste Stelle, schien zu schmelzen, und aus den Tiefen der Augen wollte etwas zum Vorschein kommen – aus der Spannung IHRES ganzen Zustands wurde Gefügeveränderung, IHR Stöhnen war jetzt polyphon, Aljoscha tauchte durch Kaskaden psychischer Energie – es lag keine Bedeutung mehr in Begrenzungen wie dem knöchernen Gitter des Brustkorbs – Umwandlung als Anpassung an besondere Bedingungen – Verfeinerung der Materie – hypertrophe Erzeugung mechanischer Energie durch übermäßigen Gestaltwandel der kontraktiven Eiweißmoleküle in den Muskelzellen – Metamorphose. IHR Körper wurde unkörperlich im Augenblick höchster Verschmelzung, wurde Seele, bloßes Kraftfeld, machte aus Aljoscha einen Energietrabanten, und dann – war Fauchen, wo vorher Atem war. Einen Moment lang: erstaunte Stille. Dann eine Bewegung. Anders, unvorstellbar anders.
Wesen, die sich geheimhalten
Es gibt Kräuter, die im Mondlicht strahlen. Es gibt Wesen, die sich geheimhalten. Mädchen, die in der Wüste ertrinken können. Mädchen, die immer damit rechnen, daß man sie von hohen Türmen werfen wird, so wie es im Mittelalter die Meute manchmal mit Katzen tat. Mädchen, die es im Betriebsklima der Welt nicht aushalten und sich zurückziehen an die Peripherien. Wissend, daß man ihresgleichen entweder als zu heimlichtuerisch oder als zu exhibitionistisch verurteilt. Fürchtend, daß man ihnen Böses will, weil sie irritierenden Gesetzen folgen. Oder sich selbst Gesetz sind. Weil sie mit kaltem Blick und unbeirrbarer Präzision dort etwas beobachten, wo andere ums Verrecken nicht das Mindeste erkennen. Weil sich ihre einzelgängerische Eleganz so wenig um Bewunderer kümmert, daß man glaubt, sie halten sich für unsichtbar. Weil sie zu erröten wissen, während sie Verruchtheiten hüten, vor denen jede Schamlose erblassen müßte. Frauen, deren Blick die Nacht durchdringt und die Umrisse des Unsichtbaren kennt. Ich weiß jetzt, was diese Frauen tun.
Bei Tag erschrecken sie mit dem harten, despotischen Geräusch ihrer hohen Absätze, um zu verbergen, daß sie nachts mit unhörbaren Schritten geheime Muster auf den Boden zeichnen, Zauberkreise, Strahlenfelder; daß sie eine andere Gestalt annehmen, lautlos und geschmeidig durch die Gassen huschen und einem unergründlichen Instinkt folgen: dorthin, wo sie ein vertrautes Fluidum ahnen. Ich weiß jetzt, was der Spürsinn einer solchen Katze tut.
Der Spürsinn einer solchen Katze nimmt Quartier bei einem, dem sie sich verwandt weiß. Sie hat seine verborgensten Neigungen erkannt und macht sich selbst zu ihrem Anreiz. Ihre Nähe verändert seine fünf, sechs, sieben Sinne. Er durchquert vergessene Regionen, versunkene Domänen; immer deutlicher sieht er die Welt, in der sie nach ihm sucht. Bis er weiß: wenn er ihr endlich begegnet, ist er ihr schon einmal begegnet.
Das ist, was die Mädchen tun, die sich verstecken vor den Katzenhassern.
– Clovis Trouille, Dolmancé et ses fantômes de luxure (Detail)
– Nicolas Poussin, Atalante und Hippomenes, Skizze
– Foto CE
– Artwork CE
– Nine Inch Nails, Ghosts V: Letting Go While Holding On