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Aljoscha der Idiot Antirationalistischer Blog

RIP Vito von Eichborn

Zuerst schrieb mir die Marketing-Abteilung von BoD. Vito von Eichborn, einer der innovativsten Buchmacher Deutschlands, betätige sich als Herausgeber einer Edition für BoD und wäre erfreut, meinen Roman in diese Edition aufnehmen zu können. Zu diesem Zeitpunkt war „Aljoscha der Idiot“ fast zwei Jahre auf dem „Markt“ – jenem Markt, von dem mir der Lektor eines renommierten Verlags gesagt hatte, ein Roman wie dieser sei dort „nicht durchsetzbar“. Ich hatte mich dann für das System Books on Demand entschieden, „Aljoscha“ also auf eigene Faust veröffentlicht, ich hatte die Erlaubnis der Erben des berühmten Frans Masereel, einen seiner Holzschnitte für das Cover verwenden zu dürfen, ich hatte all das mit Freuden bezahlt, und dummerweise hing ich nun sehr an der Art, wie dieses Werk in die Welt gekommen war. Und darauf schrieb mir dann Vito von Eichborn selbst.

Lieber Autor, schrieb er, oje, das habe er befürchtet: jemand, der so schreiben kann, hat absolut seinen eigenen Kopf. „Ihr Buch ist für mich der so seltene klassische Fall: grandios gut und absolut schwer verkäuflich. Dies ist für mich der erste Fall, in dem die literarischen Verlage offensichtlich versagt haben.“ Die Edition, schrieb er, habe ein festes Gestaltungsprinzip, aber er wolle dafür sorgen, daß wir den Masereel-Holzschnitt mitnehmen. Mit der ihm eigenen Machen-wir-uns-nichts-vor-Haltung sagte er mir: machen wir uns nichts vor, BoD kommt in den Feuilletons nicht vor, keine Versprechungen, aber: „Ihr Buch ist eine ganz seltene Perle“, und vielleicht könne seine Stimme mehr Menschen zum Lesen bringen.

Er schrieb ein Vorwort für die Neuausgabe, und wenn einer wie er sagt, dieser Roman sei „literarisch das Beste, was ich in den letzten Jahren gelesen habe“, hat das sehr große Bedeutung für einen, der tausend Nächte tief daran gearbeitet hat, ohne zu wissen, ob dieser Balg je Hosen trägt. Es war bezaubernd zu hören, wie er dann auf der Leipziger Buchmesse in einem Radio-Interview von „Aljoscha“ schwärmte – wenn man die Begeisterung eines mit allen Wassern Gewaschenen so nennen darf.

Seine Emails waren immer wie kleine Stromstöße, und in einer der letzten, die ich von ihm erhielt damals, stand: „Wenn jemand schreiben muß, dann Sie!“

Gute Reise, lieber Vito von Eichborn. Danke für die Neugier, für den Enthusiasmus, für den Mut. Danke für alles.

RIP Vito von Eichborn. Text von Christian Erdmann.
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Aljoscha der Idiot The Everlasting Gaze

INNEN – SCHALLPLATTENLADEN – TAG

Christian Erdmann, Autor des Romans "Aljoscha der Idiot".,

„Zuletzt verschlug es Aljoscha in einen Schallplattenladen. Ein alter schwarzer Bluessänger sang alten schwarzen Blues. Der Mann an der alten schwarzen Kasse sah aus wie Majakowski. An einem Ständer hingen T-Shirts. Aljoscha sah sie gelangweilt durch, bis er eines mit dem Erkennungszeichen des Kollektivs Einstürzende Neubauten fand. Auf dem schwarzen Stoff zeichnete sich ein archaisches Symbol ab, das an eine Höhlenmalerei der Frühzeit erinnerte. Nur war hier kein Tier dargestellt von Menschenhand, sondern eine menschliche Gestalt, die so wirkte wie die Vorstellung, die ein Tier vom Menschen haben könnte. Ein Rückgrat, davon ausgehend Arme und Beine, statt Händen oder Füßen nur die Andeutung einer atavistischen Drehung der Extremitäten; der Kopf ein Kreis, überdimensional vergrößert, und in den Kopf-Kreis war ein Mittelpunkt gemalt. Wie der Herzmittelpunkt in der Umrißzeichnung eines Elefanten in der Pindal-Höhle, 12000 Jahre alt. Was bedeutete dieser Mittelpunkt hier? Gesicht? Blick? Brennpunkt? Verdacht auf Innewohnendes? Vermuteter Sitz einer Matrix, die für unfaßbare Vorgänge im Innern der Gestalt verantwortlich ist?

Reduktion auf das Wesentliche, äußerste Stilisierung, äußerste Verdichtung. Diese Figur, dieses ins Quintessentielle implodierte Menschlein, strahlte gespenstische Intensität aus. Unheimlich stand es da wie die unentzifferbare Wahrheit des Schauerlichen, unheilschwanger in seiner primitiven Indifferenz, und lud sich auf mit Exzentrizität – mit extremer Abweichung vom gegenwärtig eingenommenen Punkt.“


Christian Erdmann: Aljoscha der Idiot

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Aljoscha der Idiot

Vito von Eichborn: Vorwort für „Aljoscha der Idiot“

(Vorwort für die Neu-Edition von „Aljoscha der Idiot“, Februar 2007)



Meine Buchhändlerin sagte mir, „ja“, sagte sie…

„Ja, die Liebesgeschichte eines Studenten könnte reizvoll sein. Liebe ist nach der Lebenshilfephase wieder gefragt, und das Uni-Milieu geht ja irgendwie immer. Der beste Beweis war damals der Bestseller von Schwanitz…“

„Um Gottes Willen“, fiel ich ihr ins Wort, „den ‚Campus‘ habe ich ja selbst verlegt! Das war neckische Unterhaltung mit Altherrenhumor, auf Erfolg hin geschriebener Identifikationswitz mit Nullachtfünfzehn-Plot. War klasse für den Verlagsumsatz. Dies hier ist absolute Literatur auf hohem Niveau, weil…“

Nun unterbrach mich meine Buchhändlerin. Das macht sie ja immer gerne. „Oje, das ist also richtig rundherum anspruchsvoll? Hat es denn unterliegend wenigstens eine spannende Handlung, ein bißchen Sex and Crime, was Filmisches, ein Roadmovie oder so?“

„Herrje, nein! Tja, wie sag ich’s? Also Klartext: Dies ist ein Buch, das es – wie übrigens alle wirklich guten Bücher – den Lesern nicht leicht macht. Es ist, um aus dem Internet zu zitieren: ‚Ein Roman voller Rätsel und Anspielungen, um Sehnsucht und die Unmöglichkeit der Liebe. Ein Mosaik des Fühlens und des Träumens, jenseits von Geschichte und Verstand. Ein komplexes Gespinst aus Gedanken und Geschehen – denn nichts ist einfach zwischen den Menschen und ihren Wünschen.'“

„Ja, und wie soll ich das komplexe Gespinst verkaufen? Postmoderner Hirnschwurbel oder wie? Eine dekonstruierte Liebesgeschichte, in der offensichtlich nicht mal richtig gevögelt wird?“ Sie redete sich in Rage. „Komplizierte Literatur geht halt nicht. Das kann man bedauern, aber es gilt die logische Formel: Je intelligenter ein Buch – desto weniger Leser. Die Leute sind nicht mehr bereit – wenn sie es denn je waren -, Texte zu entziffern. Denen ist Faulkner zu anstrengend.  Arno Schmidt hatte ja mal eine intellektuelle Gemeinde – der ist auch völlig out. Wenn ich nicht voller Überzeugung ’spannend‘ sagen kann, werde ich keinen Roman mehr los.“

„Aber Herrgott nochmal, das ist doch spannend! Nur eben nicht schwanitzmäßig platt! Es ist weit entfernt von Arno Schmidts chiffrierten Verkomplizierungen – und dennoch, auch dies ist rauf und runter voller Anspielungen, ich zitiere: ‚Eine Hommage an die Liebe, die Philosophie, die Musik und die Kunst – daher unbedingt lesenswert für alle, die noch nicht aufgehört haben oder wieder anfangen wollen zu denken und zu fühlen.‘ Nein, dies ist nicht Arbeit wie bei Schmidt – es ist Lustlektüre, das zieht und zwingt und…“

„Und was erzählt uns dieses Wunderwerk?“

„Die Handlung ist alltäglich. Die gegenwärtige Liebe des Philosophiestudenten Aljoscha geht allmählich zu Ende. Und er verliebt sich neu in eine unbekannte Schöne, so ergreifend und verstörend, daß es – auch dem Leser – weh tut. Bei Amazon jubelt eine Leserin: ‚Unglaublich, daß es so etwas noch gibt. Fast jeder Satz ist für sich genommen schon ein Kunstwerk‘, und eine andere greift tief in die Kiste – und sie beschreibt es sehr richtig: ‚Der Autor schreibt in einem atemberaubenden, wunderbar altmodischen Sprachstil und führt den Leser mit unglaublicher Gewandtheit, erstaunlich weit gefaßtem Wissen und äußerst feinem Humor durch die tiefe, empfindungsreiche, philosophisch geprägte und doch postmoderne Gedanken- und Gefühlswelt des Protagonisten.‘

Also, ich versteige mich zu der Behauptung: Dies ist literarisch das Beste, was ich in den letzten Jahren gelesen habe. All die neue Realitätsliteratur, wo Autoren Wirklichkeiten abschreiben und Literatur behaupten, ist banal und langweilig im Vergleich zu ‚Aljoscha‘. Erdmann erzählt das Unsagbare.“

Meine Buchhändlerin hatte ihre Grübelfalten angelegt: „Mensch, so eine Jubelei kenne ich ja gar nicht mehr, das ist mir nun fast unheimlich. Übrigens ist das auch gefährlich – wenn jemand in den Feuilletons so loslegt, reizt das zum Widerspruch, mich auch, dann werden alle anderen automatisch skeptisch.“

Sie hatte mir das Buch aus der Hand genommen und zu blättern und sporadisch zu lesen begonnen, wie Vielleser es gerne tun.

„Aber verdammt nochmal, wenn etwas erste Sahne ist – und sei es anspruchsvolle Literatur -, dann muß es doch möglich sein, das einfach zu sagen…“

Sie unterbrach: „Aber das sind ja wirklich außergewöhnliche Worte und Sätze, stimmt, das sieht man schnell, oje, am Wochenende werde ich wohl wieder zu nix anderem kommen – aber ich spüre ganz unmittelbar: Dies will, nein, muß ich in Ruhe ganz lesen. Und dann vermutlich nochmal…“

Richtig, dies ist eins der seltenen Bücher zum Mehrfachlesen, weil man immer wieder Neues entdeckt.

Wer auch immer dies auf sich nimmt – ich schwöre, der bekommt einen glücklichen Ausdruck im Gesicht…

Vito von Eichborn

Vito von Eichborn, Vorwort für "Aljoscha der Idiot" von Christian Erdmann.
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Ballett

Le Sacre du Printemps

Joanna Wozniak in der Rekonstruktion von "Le Sacre du Printemps" durch das Joffrey Ballet. Joanna Wozniak in the Joffrey Ballet reconstruction of "Le Sacre du Printemps."

Am Abend des 29. Mai 1913 kommt es im Pariser Théâtre des Champs-Elysées zu einem der größten Skandale der Bühnengeschichte: die Ballets Russes unter der künstlerischen Leitung von Sergej Diaghilew führen das Ballett „Le Sacre du Printemps“ auf. Komponist der Musik ist Igor Strawinsky, für Bühnenbild und Kostüme ist der Maler Nicholas Roerich verantwortlich, die Choreographie ist das Werk des vielleicht besten, gewiß aber faszinierendsten Tänzers, den das 20. Jahrhundert sah, Vaslav Nijinsky.

Das Ballett erlebt nur wenige Aufführungen. Während der Tänzer Nijinsky als „Gott des Tanzes“ verehrt wird, gilt er dem nach der Uraufführung grollenden Strawinsky als „unmusikalischer Dilettant“, dessen Choreographie ein grandioser Mißerfolg gewesen sei. Nijinskys Arbeit gerät in Vergessenheit und scheint unwiderruflich verloren. Nijinsky selbst lebt seit den Zwanziger Jahren bis zu seinem Tod im Jahre 1950 in geistiger Umnachtung.

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bahnt sich ein Wandel an; so plant der britische Regisseur Tony Richardson Ende der Sechziger einen Spielfilm über Nijinsky mit Rudolf Nurejew in der Hauptrolle, das Projekt scheitert jedoch. Aber die Berichte über die Uraufführung des Sacre finden neues Interesse, und die Ahnung, welch einzigartige und überwältigende Schöpfung Nijinskys Choreographie gewesen sein muß, führt zu ersten Versuchen, das Werk zu rekonstruieren. 1987 sind diese Bemühungen schließlich von Erfolg gekrönt: 74 Jahre nach der Uraufführung bringt das Joffrey Ballet die von der US-Tanzwissenschaftlerin Millicent Hodson in Zusammenarbeit mit dem englischen Kunsthistoriker Kenneth Archer erstellte Rekonstruktion zur Aufführung, zunächst in Los Angeles und New York, dann in Europa:

„… es übertrifft alle Erwartungen, denn was man schon durch das Studium der Rezensionen zu wissen glaubte, bestätigt sich jetzt: Nijinskys Choreographie ist ein Meilenstein in der Tanzgeschichte; sie kann als die erste moderne Choreographie bezeichnet werden.“

Mehr noch als die unerhörte Musik Strawinskys war die Choreographie Nijinskys im Jahre 1913 siriusweit entfernt von dem, was als „schön“ galt. Strawinskys Musik indes fand Anhänger, die schließlich genau dies in ihr fanden: Schönheit. Nijinskys Choreographie jedoch traf das härteste Prinzip der Machtausübung: das Ignorieren. Das Ungeheuerliche wurde der Öffentlichkeit entzogen, die Choreographie vorsätzlich zu Tode vergessen. Der lange Weg, den „Le Sacre du Printemps“ nahm, um von verstörender Kunst in das Reich des Schönen zu gelangen, beginnt, als einer der Abtrünnigen heroisch seine Bürde trägt:

„Heute, den 4. XI. 1912, Sonntag, unter unerträglichen Zahnschmerzen, habe ich die Musik des Sacre beendet. I. Strawinsky, Clarens, Chatelard Hotel.“

Vaslav Nijinsky.

„Eines Morgens kam ich früher hinauf als sonst“, schreibt Tamara Karsawina über ihre Zeit an der Ballettschule des Marinsky, „die Jungen waren gerade mit dem Training fertig. Ich warf einen Blick in die Runde und traute meinen Augen nicht; ein Junge stieg beim Sprung über die Köpfe der anderen und schien in der Luft zu verharren. ‚Wer ist das?‘ fragte ich Michail Obuchow, seinen Lehrer. ‚Das ist Nijinsky. Der kleine Teufel landet nie mit der Musik‘.“

Seit Obuchow beschlossen hatte, seinen Wunderschüler der Öffentlichkeit zu präsentieren, hatten Nijinskys „Macht, die federnde Leichtigkeit, die stählerne Kraft, die Anmut seiner Bewegungen, die unglaubliche Gabe aufzusteigen, in der Luft zu bleiben und – gegen alle Gesetze der Schwerkraft – doppelt so langsam wie beim Aufschwung wieder abzusteigen; die Ausführung der schwierigsten Pirouetten und tours en l’air mit erstaunlicher Nonchalance und offenbar ohne die geringste Anstrengung bewiesen, daß dies außerordentliche Wesen die Seele des Tanzes war.“ (Romola Nijinsky)

„Seine unglaubliche Fähigkeit, fast zu fliegen, schlug das Publikum in Bann, und sein entre-chat dix war ein weiteres Wunder.“ Der entre-chat ist ein Senkrechtsprung, bei dem die Füße einige Male in der Luft gekreuzt werden; Nijinsky führte diese Bewegung im Sprung also zehnmal aus. Die Regel waren sechs, in seltenen Fällen acht entre-chats.

Nijinskys Physiognomie schien sich mit jeder Rolle, die er tanzte, zu verändern; wo der eigentliche Nijinsky existierte, blieb ein Rätsel.

„Sobald er auf der Bühne erschien, fuhr in das von seiner Reinheit und Perfektion hypnotisierte Publikum ein elektrisches Beben. Alle Augen folgten ihm von einer Bühnenseite zur anderen, die Zuschauer waren gleichsam hilflos, in Trance.“ (Romola Nijinsky)

Anläßlich des ersten Pariser Gastspiels der Ballets Russes schrieb Henry Gauthier-Villars:

„Ich würde sie alle feiern, wenn ich mich nicht gezwungen sähe, vor allem den Tänzer Nijinsky zu preisen, das Wunder aller Wunder, den Meister der Entrechats… Als er schwebte und lautlos in den Kulissen landete, entrang sich den Damen ein ungläubiges Ah! Es war wahrhaft der Sprung der Seufzer.“

Nijinsky selbst trug wenig dazu bei, das Rätsel, das um ihn war, zu lösen; als man ihn fragte, ob es nicht sehr schwierig sei, beim Sprung in der Luft zu schweben, sagte er freundlich: „Nein, nein. Nicht schwierig. Man muß nur hochspringen und oben ein bißchen warten.“

Vaslav Nijinsky, by Leon Bakst.

Die Ballett-Tradition erhob nicht die natürliche Schönheit des sich bewegenden Körpers, sondern die Kunstschönheit des zum Zeichen stilisierten Körpers zum Ideal. Das Ziel der Tanzkunst im klassischen Ballett heißt: weg von der Erde, weg von der Bindung des Körpers an die Schwerkraft; gleichsam das Antigrave, wie es Kleist in seinem Aufsatz über das Marionettentheater beschreibt:

„Zudem, sprach er, haben diese Puppen den Vorteil, daß sie antigrav sind. Von der Trägheit der Materie, dieser dem Tanze entgegenstrebendsten aller Eigenschaften, wissen sie nichts: weil die Kraft, die sie in die Lüfte erhebt, größer ist, als jene, die sie an der Erde fesselt. […] Die Puppen brauchen den Boden nur, wie die Elfen, um ihn zu streifen, und den Schwung der Glieder, durch die augenblickliche Hemmung neu zu beleben […]“

Auch die Tänzerin im klassischen Ballett erreicht den Schein des Schwebens – seit Marie Taglionis legendärer Innovation -, indem sie sich auf die Fußspitze erhebt und den Boden nur noch so berührt, als würde sie ihn gleich verlassen; als wäre das der Schwerkraft Entgegenwirkende in ihr. Nijinsky hat wie kein anderer männlicher Tänzer dieses Ideal der Schwerelosigkeit und Entmaterialisierung des Körpers umzusetzen vermocht.

1912 trat Nijinsky, ermuntert von Diaghilew, zum ersten Male als Choreograph in Erscheinung; aus dem darstellenden wurde der schöpferische Künstler. Mit der Choreographie zu Debussys „L’après-midi d’un Faune“, Nachmittag eines Fauns, schuf Nijinsky bereits eine vollkommen neue Technik, die von den Tänzern eine ungeheure Willensanstrengung verlangte: nach 120 Proben wurde das 12minütige Werk am 29. Mai 1912 in Paris uraufgeführt.

Es gab im Faun keine Sprünge mehr, keine Elevation, keine Schwerelosigkeit, nur noch halbbewußt wirkende, animalische Gesten und Posen, sonderbar abrupte Bewegungen, und vor allem: die Tänzer kehrten dem Publikum durchgehend ihr Profil zu, was den Eindruck von Zweidimensionalität hervorrief, an ein bewegtes Relief erinnerte. Historiker sind sich nicht einig über Nijinskys aufsehenerregende erotische Bewegung, die er als Faun zuletzt auf dem Schleier einer Nymphe vollführt und die als Obszönität in die Geschichte einging. Das Publikum war während des Balletts mucksmäuschenstill; am Ende wurde laut gebuht, gerufen, gepfiffen und geklatscht. Diaghilew war sichtlich außer Fassung, Nijinsky davon überzeugt, daß seine erste Choreographie durchgefallen war. Diaghilew ließ das Werk an Ort und Stelle wiederholen. Auguste Rodin würdigte das Ballett wie die Entdeckung einer neuen Welt; Calmette hingegen, der Direktor des „Figaro“, mobilisierte voller moralischer Entrüstung halb Paris, um Nijinsky zu verdammen.

Nijinsky hatte den ersten radikalen Schritt getan, indem er Grazie, Anmut und die gesamte klassische Tradition des Antigraven verbannte. Léon Bakst hatte Nijinsky im Louvre vor die griechische Vasenmalerei geführt, was offensichtlich Eindruck hinterlassen hatte. Die Tänzer schienen sich in parallelen Furchen zu bewegen und wurden zudem so beleuchtet, daß sie möglichst „flach“ wirkten, zweidimensional. Nijinsky wandte auch, zum ersten Mal in der Tanzgeschichte überhaupt, Bewegungslosigkeit an, als erster ihren Effekt für die Handlung eines Ballets erkennend. Ballettomanen der klassischen Ausrichtung sprachen von „Verrenkungen“ und bestritten, daß es sich überhaupt um Tanz gehandelt habe.

„Weg mit den Anekdoten“, so Nijinsky 14 Tage vor der Uraufführung des Sacre, „weg mit (…) den mehr oder weniger guten Wendungen in der Handlung. Betonen wir ausschließlich die Plastizität der Bewegung um ihrer selbst willen. Suchen wir ihre reiche und unendlich nuancierte Arabesque im Raum; beachten wir ihre Akzente, ob sie nun leidenschaftlich oder graziös sind, und wir bringen damit all den Adel und die Reinheit einer Kunst, die aus all den Konventionen unserer theatralischen Ästhetik herausragt.“

Oder, wie Nijinsky auf die Frage, wie der „Sacre“ werde, sagte: „Oh, er wird Ihnen auch nicht gefallen“ (er vollführte eine abrupte Seitwärtsbewegung aus dem „Faun“), „mehr von der Art.“

Joanna Wozniak, Joffrey Ballet, Le Sacre du Printemps.

Während Strawinsky in St. Petersburg die letzten Seiten des „Feuervogel“ zu Papier brachte, überkam ihn plötzlich „die Vision einer großen heidnischen Feier: alte weise Männer sitzen im Kreis und schauen dem Todestanz eines jungen Mädchens zu, das geopfert werden soll, um den Gott des Frühlings günstig zu stimmen.“

In späteren Gesprächen mit Robert Craft erklärt Strawinsky:

„Ich hatte eine Szene eines heidnischen Rituals geträumt, in dem eine auserwählte Opferjungfrau sich zu Tode tanzt. Doch diese Vision war nicht von konkreten musikalischen Ideen begleitet.“

Sie muß jedoch von zwingender Gewalt gewesen sein. Strawinsky besprach sich unverzüglich mit Nicholas Roerich, einem profunden Kenner slawischer Frühgeschichte, „denn wer sonst kennt das Geheimnis der engen Verbundenheit unserer Vorväter mit der Erde? Wir schufen das Libretto in wenigen Tagen.“

Auf Crafts Frage, „Was liebten Sie am meisten in Rußland?“, antwortet Strawinsky: „Den heftigen russischen Frühling, er schien in einer Stunde zu beginnen, und die ganze Erde schien mit ihm aufzubrechen.“

An Roerich schreibt Strawinsky im März 1912: „Es scheint mir, daß ich in das Geheimnis des Frühlingsrhythmus eingedrungen bin und daß die Musiker es fühlen werden.“

Die Musiker fühlten es nicht. Pierre Monteux, der Dirigent, konnte sie nur mit einiger Mühe davon überzeugen, daß Strawinskys Partitur ernst gemeint sei. Strawinsky selbst hatte Schwierigkeiten, die abschließende „Danse sacrale“ des Sacre zu notieren. Nijinskys gewaltige Aufgabe bestand darin, ein choreographisches Äquivalent für die atemberaubende Komposition zu finden. Seine Erfindungen hatten nichts mit klassischer Virtuosität zu tun, waren aber so schwierig, daß nur die professionellsten Tänzer sie meistern würden. Nijinsky hatte zusammen mit Marie Rambert begonnen, die Partitur zu erarbeiten. Mlle. Rambert konnte kaum erkennen, wann eine Phase aufhörte und eine andere begann, so neuartig, so gebrochen, so sonderbar verzahnt waren Strawinskys Rhythmen. Aber sie bewunderte die bewußt linkischen und unklassischen Posen, in denen Nijinsky seine Tänzer gruppieren wollte. Nijinsky hatte erhebliche Schwierigkeiten, der Truppe seine Absichten zu vermitteln, und die Tänzer nahmen seine Experimente nicht ernst, fühlten sich als Künstler mißachtet. Den Augenblick, in dem Nijinsky der unglücklichen Maria Piltz, die die Auserkorene tanzen sollte, die abschließende „Danse sacrale“ selbst vortanzte, um die Verständnisschwierigkeiten zu lindern, schilderte Marie Rambert später als einen der bewegendsten Momente ihres Lebens.

Einen Schlüssel zu dieser Partitur zu finden, „war eine Aufgabe, die den erfahrensten Choreographen, den gewieftesten Musiker zur Verzweiflung bringen konnte. Nijinsky war weder das eine noch das andere. Er hatte nur seine Vision und sein Genie.“

Nicolas Roerich, Kostüm- und Bühnenentwurf für "Le Sacre du Printemps".

Befehle des Himmels! Befehle des Himmels! 

Pferdeschädel, die auf Pflöcken stecken. Eine heidnische Opferstätte, der Himmel blutrot. Das Ende einer Frühlingsnacht im Herzen Rußlands. Der Sterndeuter hält die Arme ausgestreckt. Einige wollen fliehen aus dem Kreis, aber man kann nicht fliehen vor dem Schauerlichen. Die Stille kommt aus dem Schlund des Unsichtbaren.

Vielleicht die Nacht eines 28. April, vor über tausend Jahren. Die Mönche aus dem Westen fänden hier nur Götzenbilder, aber noch hat keiner einen Fuß gesetzt auf diese düstere Erde. Wintertodesstarre liegt noch auf dem Land, die Hunde knurren, Rauch steigt auf. Brennende Augen in Erwartung der Zeichen, die latente Panik der Bewegungen wird langsam zu panischer Lust. Ein unheimlicher Vogelschrei. Zitternde Mädchen in einem mystischen Reigen. Dann plötzlich bricht der Himmel auf. Das Ritual beginnt.

Nichts mehr zwischen den Menschen und ihrem Verhängnis. Ein Mädchen spürt, daß sie die Auserwählte ist, der Welt entrückt, ihren Schwestern entrückt, plötzlich sehr allein – und voller Ehrfurcht vor der unausweichlichen Bestimmung. Sie friert. Sie wird den Mittag nicht erleben. Sie wird das Opfer für den Frühling sein. Während die Ritualmusik zerfetzte Rhythmen und gellende Dissonanzen übereinander türmt, fällt das Mädchen in Trance. Etwas in ihr kämpft noch an gegen den Willen, der sich steigert und sie umringt. Ihre Augen sind weit aufgerissen, der Rhythmus schleudert sie empor, immer wieder, noch fängt sie sich, scheint zu warten auf den nächsten Stoß, der sie verrenkt. Bewegungen, die so wirken, als wäre ihr die Seele schon genommen, verzerren ihre Glieder, das sind nicht mehr ihre eigenen Bewegungen, ihr Taumel kommt ins Ausweglose, ihre Beine knicken ein, sie fällt. Noch einmal steht sie auf und schleppt sich weiter. Dann stürzt sie endgültig zur Erde. Und die Priester kommen und heben ihren Leib empor, damit das Göttliche in das Opfermädchen ejakuliert.

Die Musik, brachial, beängstigend, stieß mit einer Kraft zu, die ein Mammut zusammensinken lassen mußte. Mit jeder Minute verstärkte sie den Erdpuls auf das Trommelfell aus Menschenhaut. Bisweilen herrschte in ihr zwielichtige Schönheit, aber die wenigen Melodien kreisten wie argwöhnische Raubvögel. Über einer schon unzählige Male von allem Leben verlassenen Welt lag die ständige Präsenz eines unvorstellbar Anderen. Das war Le Sacre du Printemps von Igor Strawinsky.

Nijinsky hatte dazu ein Ballett gemacht, das keines war; die Mädchen und die Männer, die auf den Bühnenbrettern tanzten, schienen der Gewalt tatsächlich ausgeliefert. Die Uraufführung in Paris, im Jahre 1913, wurde zum Inferno. Das erlauchte Auditorium verlor komplett die Fassung. Die Leute pfiffen, schrien, gaben Tierlaute von sich, beleidigten die Tänzer, beleidigten sich gegenseitig, es gab Handgemenge, Ohrfeigen, Boxhiebe, Stiche mit Hutnadeln, Austausch von Karten und Verabredungen zum Duell, Ohnmachts- und Taubheitsanfälle. Alles während der Aufführung.

Aljoscha konnte es nicht vergessen, das Mädchen mit den aufgerissenen Augen und den langen schwarzen Zöpfen; während ihr Blick starr geradeaus ging im Horror vor dem Ungeheuerlichen, sprang sie immer wieder auf derselben Stelle empor, als würde die lüstern pulsierende Erde erbarmungslose Schocks versetzen, archaischer Terror ging ihr an den Leib, und das Unheimliche war, sie verzog bei alldem keine Miene. Ihr Gesicht war wie das einer Puppe mit schreckstarren Augen.

Und Aljoscha hatte sie verstanden.

Musik, aus der es kein Entkommen gab, Musik, die unausweichlich ihre Opfer fand, die schmerzenden Dissonanzen, sie würden keine Auflösung mehr finden. Aber er würde keine Miene verziehen. Gewillt, sich dieser Macht zu geben, die sinnvoll zu beschreiben nur durch Anagramme eines Analphabeten möglich war, stand Aljoscha in der Nacht der Pferdeschädel und erwartete den Anbruch eines Morgens, der anders wäre, unvorstellbar anders.

Eine Nacht mit Nijinsky: erst die Marionette, die gegen die Mechanik aufbegehrt und ihr eigenes Spiel beginnt. Und dann die Gewißheit, daß ein Opfer bevorsteht, eine Existenz, bei der sich alle Rhythmen selbst in Fetzen reißen und das Publikum vor Abscheu alle Wände hochgeht. Aljoscha, der das Gefühl hatte, daß sich auf seinem Körper ein archaisches Symbol abzeichnete, besorgte sich am nächsten Tag Strawinskys Le Sacre du Printemps,und er hörte die Musik an jedem dunklen Januarmorgen, noch bevor er aufbrach, und in jeder Nacht, um seine Träume zu dirigieren.


(Christian Erdmann, „Aljoscha der Idiot“)

Das Ballett "Le Sacre du Printemps", Akt II.

Wie Igor Strawinsky sich erinnert,

„war die Generalprobe völlig ruhig verlaufen. Bei ihr waren, wie gewöhnlich, zahlreiche Künstler, Maler, Musiker, Schriftsteller und die kultiviertesten Mitglieder der Gesellschaft zugegen. Ich war daher meilenweit davon entfernt, den Wutausbruch vorauszusehen, den die Aufführung auslöste.“

Strawinskys Überraschung, auch wenn sie Spuren von Koketterie enthält, muß blauäugig anmuten, wenn man bedenkt, daß die Generalprobe vor einem Personenkreis stattfand, der durchaus der Avantgarde zuzurechnen war: eine recht erlauchte Zusammensetzung, die dem Affront gegen das Schöne, wenn sie ihn schon nicht selbst anzettelt, zumindest offener gegenübersteht als ein Pariser Premierenpublikum. Jean Cocteau gibt eine realistischere Einschätzung:

„Für ein erfahrenes Auge sind dort alle Grundstoffe für einen Skandal vorhanden: das mondäne Publikum, dekolletiert, mit Perlen, Brillanten und Straußenfedern aufgetakelt; und neben den Fräcken und Abendroben die auffallenden Joppen, Schleier, Lumpen jener Art Ästheten, die dem Neuen aus Haß gegen die Logen blindlings Beifall spenden … Aber ich will darauf verzichten, die tausend Nuancen des Snobismus, Übersnobismus und Gegensnobismus aufzuzählen … Bei der Uraufführung des Sacre spielte der Saal die Rolle, die er spielen mußte …“

Auch Cocteaus Einschätzung kann jedoch nicht ausreichen, um den Skandal um „Le Sacre du Printemps“ zu erklären, denn die Konstellation des Publikums, die er beschreibt, hat es bei unzähligen Premieren gegeben. Das Ausmaß der Erregung läßt sich nur durch das Schockierende der Darbietung selbst erklären.

Scherliess bemerkt, daß

„zur Generalprobe am Vortage die gesamte Presse eingeladen war und daß somit im Publikum von vornherein eine ausgelassene, aufgeheizte Stimmung herrschte – man sang, pfiff, applaudierte und rief ironische Bravos in Erwartung des Ungeheuerlichen, noch bevor die Aufführung begonnen hatte.“

Die Mehrzahl der Augenzeugenberichte stimmt jedoch darin überein, daß der Tumult erst mit dem Einsetzen der Musik seinen Lauf nahm. Daß die Stimmung im Publikum zu Befürchtungen Anlaß geben mußte, ahnte indes auch Romola de Pulszky, die noch im Jahr 1913 mit Nijinsky vor den Traualtar trat; sie kommt der Wahrheit wohl am nächsten:

„Ich rechnete damit, daß das Publikum vielleicht unruhig werden könnte, aber niemand in der Truppe war auf das gefaßt, was dann geschah.“

Die Compagnie war nach unzähligen Proben und der gut verlaufenen Generalprobe zuversichtlich und wiegte sich womöglich in falscher Sicherheit.

„Die ersten Klänge der Ouvertüre wurden unter Gemurmel angehört, aber sehr bald benahm sich das Publikum nicht wie das würdige von Paris, sondern wie eine Horde unartiger, schlecht erzogener Kinder.“ (Romola Nijinsky)

„Der Saal revoltierte von Anfang an. Man lachte, pfiff, höhnte, ahmte Tierstimmen nach… “ (Jean Cocteau)

Valentine Gross hatte 100 Studien des Russischen Balletts, darunter 50 von Nijinsky, im Rangfoyer des Theaters ausgestellt. Sie berichtete später:

„Nichts von all dem, was je über die Schlacht des Sacre du Printemps geschrieben wurde, vermittelt einen schwachen Eindruck von dem tatsächlichen Geschehen. Das Theater schien von einem Erdbeben heimgesucht zu werden. Es schien zu erzittern. Leute schrien Beleidigungen, buhten und pfiffen, übertönten die Musik. Es setzte Schläge und sogar Boxhiebe. Worte reichen nicht, um eine solche Szene zu beschreiben.“

Schon während der Einleitung hatte Strawinsky angewidert den Zuschauerraum verlassen und war hinter die Bühne gegangen. Ein weiterer Augenzeuge, Carl van Vechten, schreibt:

„Ein Teil des Publikums erregte sich über das, was es als einen blasphemischen Versuch betrachtete, Musik als Kunst zu zerstören, und begann, vom Zorn hingerissen, kurz nach Aufgehen des Vorhangs zu miauen und mit lauter Stimme Vorschläge zu machen, wie die Vorstellung weitergehen solle. Das Orchester war nur dann zu hören, wenn eine leichte Beruhigung eintrat. Der junge Mann, der hinter mir in der Loge saß, stand während des Balletts auf, um besser sehen zu können. Die starke Erregung, die ihn gefangenhielt, äußerte sich darin, daß er mit seinen Fäusten rhythmisch auf meinen Kopf einhämmerte. Ich war selbst so außer mir, daß ich die Faustschläge eine Zeitlang gar nicht bemerkte.“

„In der Tat, die Aufregung, die Rufe entwickelten sich zum Paroxysmus. Die Leute pfiffen, beleidigten die Darsteller und den Komponisten, schrien, lachten.“ (Romola Nijinsky)

„Vielleicht wäre man dessen auf die Dauer müde geworden, wenn nicht die Menge der Ästheten und einige Musiker in ihrem übertriebenen Eifer das Logenpublikum beleidigt, ja tätlich angegriffen hätten. Der Tumult artete in ein Handgemenge aus.“ (Jean Cocteau)

Dem Kritiker Florent Schmitt wurde nachgesagt, durch seinen Ruf

„Die Huren aus dem sechzehnten Bezirk sollen schweigen!“,

mit dem er auf die ersten Unruhen reagierte, die Eskalation vorangetrieben zu haben. Der sechzehnte Bezirk war eines der vornehmsten Viertel von Paris. Der Dirigent der Uraufführung, Pierre Monteux,

„warf Diaghilew, der in Astrucs Loge saß und ihm Zeichen gab, weiterzuspielen, verzweifelte Blicke zu. In diesem unbeschreiblichen Durcheinander befahl Astruc, die Beleuchtung wieder anzuschalten, und die Auseinandersetzungen blieben nun nicht mehr auf Geräusch beschränkt, sondern arteten in Handgreiflichkeiten aus. Eine schön gekleidete Dame in einer Orchesterloge erhob sich und ohrfeigte einen jungen Mann, der in einer Nachbarloge zischte. Ihr Begleiter erhob sich und Karten wurden ausgetauscht. Ein Duell folgte am nächsten Tag. Eine andere Dame der Gesellschaft spie einem Demonstranten ins Gesicht.“ (Romola Nijinsky)

„Für kurze Zeit wurde die Ruhe wiederhergestellt, als auf einen plötzlichen Befehl die Lichter im Haus angingen. Ich stellte amüsiert fest, wie es in gewissen Logen, deren Insassen im Dunkeln lautstark gegeifert hatten, sehr schnell ruhig wurde, als die Lampen eingeschaltet worden waren …“ (Valentine Gross)

Diaghilew, der bleich in seiner Loge stand, rief: „Bitte! Lassen Sie die Vorstellung zu Ende gehen!“, und Astruc beugte sich aus seiner Loge und flehte: „Hören Sie erst zu! Pfeifen können Sie später!“

„Darauf trat eine gewisse Beruhigung ein, aber nur zeitweilig. Kaum war das erste Tableau beendet, fing der Kampf wieder an. Betäubt vom Radau, rannte ich so rasch ich konnte hinter die Bühne. Dort war es genau so schlimm wie im Zuschauerraum. Die Tänzer zitterten, waren den Tränen nahe; sie kehrten nicht in ihre Garderoben zurück.“ (Romola Nijinsky)

„Zwischen beiden Teilen des Werks wurde die Polizei geholt, um die lautesten Demonstranten zu identifizieren und aus dem Saal zu weisen. Aber es war vergebens.“ (Richard Buckle)

„Das zweite Tableau begann, doch es war noch immer unmöglich, die Musik zu hören. Ich konnte nicht ins Parkett zurück, und da die Aufregung der in den Kulissen zuschauenden Künstler zu groß war, konnte ich die Bühnentür nicht erreichen. Ich wurde auf der linken Kulissenseite immer weiter vorangeschoben. Grigorjew und Kremenew gelang es nicht, diese Bühnenseite zu räumen.“ (Romola Nijinsky)

„Kaum war der Vorhang vor den zitternden Mädchen des zweiten Teils, die ihre geneigten Köpfe mit der rechten Hand stützten, in die Höhe gegangen, als jemand rief: „Einen Arzt!“ Dann ertönte eine andere Stimme: „Einen Zahnarzt!“ Und eine andere: „Zwei Zahnärzte!“ Comtesse René de Pourtalès erhob sich mit verrutschter Tiara in ihrer Loge und rief, ihren Fächer schwenkend: ‚Ich bin sechzig Jahre alt, aber dies ist das erste Mal, daß jemand gewagt hat, mich für dumm zu verkaufen!'“ (Richard Buckle)

Nijinskys Mutter fiel in Ohnmacht. Im Orchestergraben dirigierte Monteux unerschütterlich weiter. Diaghilew lief auf den zweiten Rang, und die Tänzer hörten von fern, wie er ihnen zurief, weiterzutanzen.

„Mir gegenüber war ein gleicher Menschenandrang in den rückwärtigen Kulissen, und Wassily mußte sich seinen Weg zu Nijinsky hindurchkämpfen. Nijinsky trug sein Trainingskostüm. Sein Gesicht war so weiß wie sein Crêpe de Chine-Hemd. Er hämmerte den Rhythmus mit beiden Fäusten und rief den Künstlern zu: ‚Ras, dwa, tri.“ Selbst auf der Bühne war die Musik nicht zu hören und Nijinskys Dirigieren aus der Kulisse war das einzige, was die Tänzer leitete. Sein Gesicht bebte vor Erregung. Ich hatte Mitleid mit ihm, der wußte, daß sein Ballett ein großes Werk war.“

„Wir konnten die Musik nicht hören. Wir konnten nicht zählen. Nijinsky zählte wie rasend in den Kulissen. Ich zählte auf der Bühne.“ (Marie Rambert)

„Ich verließ meinen Platz, als der heftige Lärm begann – leichte Unruhe herrschte gleich von Anfang an -, und ging hinter die Bühne zu Nijinsky auf der rechten Seite. Nijinsky stand auf einem Stuhl, gerade aus der Sichtweite des Publikums, und rief den Tänzern Zahlen zu. Ich wunderte mich, was zum Kuckuck diese Zahlen mit der Musik zu tun hatten, denn es gab keine ‚Dreizehntel‘ und ‚Siebzehntel‘ in dem metrischen Schema der Partitur.“ (Igor Strawinsky)

„Ich weiß nicht, wie es möglich war, daß dieses Ballett, das die Zuschauer von 1913 so schwierig fanden, in einem solchen Aufruhr zu Ende getanzt wurde. Ich stand zwischen den beiden mittleren Logen, fühlte mich im Auge des Hurrikans ganz wohl und klatschte mit meinen Freunden. Ich bewunderte den titanischen Kampf, der stattgefunden haben mußte, um diese unhörbaren Musiker und diese betäubten Tänzer nach den Gesetzen ihres nicht sichtbaren Choreographen zusammenzuhalten. Das Ballett war atemberaubend schön.“ (Valentine Gross)

„Die einzige Entspannung trat beim Tanz der Erwählten Jungfrau ein. Er war von so unbeschreiblicher Gewalt, von solcher Schönheit, daß sein Ausdruck der Opferbereitschaft selbst das chaotische Publikum entwaffnete. Es vergaß seine Rauferei. Dieser Tanz, vielleicht der anstrengendste in der gesamten choreographischen Literatur, wurde von Maria Piltz hinreißend ausgeführt.“ (Romola Nijinsky)

Claude Debussy neigte sich zu Misia Sert und murmelte:

„Es ist schrecklich: ich höre nichts mehr.“

Der Polizeibericht meldete 27 Verletzte.

Das Ballett "Le Sacre du Printemps", Tanz der Auserwählten Jungfrau. Danse sacrale (L'Élue).

Die Rekonstruktion von „Le Sacre du Printemps“ in einer Aufführung der Compagnie des Marinsky im Théâtre des Champs-Elysées zum 100jährigen Geburtstag der Choreographie.

Die Rekonstruktion durch das Joffrey Ballet, Beatriz Rodriguez als Chosen Virgin.

-> Le Sacre du Printemps, Joffrey Ballet, 1987

Aljoschas Version: das Detroit Symphony Orchestra unter Antal Dorati, 1982.

Zitierte Werke:

Romola Nijinsky, Nijinsky, 2. Aufl. Frankfurt am Main 1982
Derek Parker, Nijinsky – God of the Dance, London 1988
Richard Buckle, Nijinsky, Herford 1987
Igor Strawinsky, Leben und Werk – von ihm selbst, Mainz – Zürich 1957
Jean Cocteau, Hahn und Harlekin, München 1958
Volker Scherliess, Igor Strawinsky – Le Sacre du Printemps, München 1982
Helmut Kirchmeyer, Strawinskys russische Ballette, Stuttgart 1974
Misia Sert, Pariser Erinnerungen, Frankfurt am Main 1989
„15. Hamburger Ballett-Tage“, Hamburg 1989
Heinrich von Kleist, Sämtliche Erzählungen, Köln 2011
Wolfgang Dömling, Strawinsky, Reinbek bei Hamburg 1982

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Today's Best Song Ever

Today’s Best Song Ever: Iggy Pop – Lust For Life

Christian Erdmann, Today's Best Song Ever: Iggy Pop - Lust For Life.

Am Abend des folgenden Tages kam Hilfssheriff James Osterberg über die Eselsbrücke in die Stadt geritten. Der Mann, den sie Iggy Pop nannten, dutzendmal geteert und gefedert, der Mann, der wußte, daß man alle Ausgänge kennen muß, bevor man durch den Eingang geht. Lang hatte er Blaßgesichtern das Feld überlassen; jetzt war er zurückgekehrt, um erneut seinen existentialistischen Halsbrecher-Report über die Bretter gehen zu lassen und die Anatomie zu schinden wie kein zweiter, den sehnigen glänzenden Gauklerkörper – man konnte sagen, dieser Körper hatte Charakterstärke – versehen mit einer rituellen Zeichnung: Narben all der Wunden, die der Mann sich zugefügt hatte in Zeiten, als die Frage „Was ist das Problem, James?“ einen konvulsivischen Anfall zur Antwort bekam, begleitet vom Metallgewitter der drei bösen Stooges, weil das Problem war, daß man für das Leben ein zweites Leben als ständigen Kurort gebraucht hätte. Well, Leute. Intensität fängt irgendwann zu brennen an. Allen, die es wissen wollten, erklärte der Mann den Grund für seinen langen Rückzug: er hatte seinen Selbstrespekt verloren. Er hatte eine völlige Neuordnung seines Lebens vorgenommen. Er hatte die Selbstauflösung angehalten und im eigenen mentalen Irrenhaus die Rolle des Platzanweisers übernommen. Eine kopernikanische Wende. Wenn man sich selber ständig in die Quere kommt, hilft ein innerer Amoklauf. Sich nichts mehr vormachen und nichts mehr mitmachen, was man nur durchmacht. Siedende Wahrhaftigkeit aushalten, einem einfachen und starken Sinn zuliebe. „Ich wollte herausfinden“, sagte der Mann, der schon alles gesehen und in der Hölle die Asche zusammengefegt hatte, „ich wollte herausfinden, was ein Liter Milch kostet.“

Das hatte es in sich. Die Würde in diesem Satz! Das ließ den Spiegel der Vorspiegelung falscher Tatsachen zu Bruch gehen. Das gab Sachschaden. Das warf Scheinwelt und Fassaden in den Orkus. Ein Mantra gegen faulen Zauber und Staffage. Vordringen zum wahren Jakob. Herausfinden, was ein Liter Milch kostet. Ein Kôan war das.

Und dann sagte der Mann noch etwas. Er sagte: „Es mußte getan werden, also tat ich es.“ Gott selbst hätte es nicht besser ausdrücken können.

An einem Abend im Dezember konnten Leda und Aljoscha miterleben, was geschieht, wenn Iggy Pop ein paar Bühnenbretter vorfindet, und die Meute, der sie angehörten, wußte, was sie dem Mann schuldig war. Vier Helfershelfer schufen einen Klangwall, auf dem Pop wilde Zeichen machte wie Pierrot auf Glatteis. Er holte das letzte aus sich heraus, und so herausgeholt sah das letzte noch viel besser aus. Der Genosse Osterberg, er lebe hoch, hoch, hoch! Von diesem Schauspiel würde man noch Jahre zehren, und Aljoscha fühlte sich nach dem Konzert so erquickt wie ein Spatz nach einem Sandbad.


Christian Erdmann, „Aljoscha der Idiot“


Ich war 20, als ich zwei große Lautsprecherboxen im Abstand von etwa 70 Zentimetern auf den Teppich stellte und meinen Kopf, der dazwischen lag, mit „Lust For Life“ in die Luft sprengte. Dieser donnernde Drumbeat, 72 Sekunden bis HERE COMES JOHNNY YEN AGAIN, die umwerfendsten Einstiegssekunden eines Songs ever.

UNCUT: Iggy claims ‚Lust For Life‘ was written in front of the TV in Berlin, with a rhythm copied from the tapping Morse Code beat of the Forces Network theme. Is this the case?

BOWIE: Absolutely.

010

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Today's Best Song Ever

Today’s Best Song Ever: Nick Cave & The Bad Seeds – Something’s Gotten Hold Of My Heart

Nick Cave & The Bad Seeds, Kicking Against The Pricks. Today's Best Song Ever, Christian Erdmann: Something's Gotten Hold Of My Heart.

Was immer es war, es ging auf Mitternacht zu. Aljoscha saß am Bahnsteig 14 auf einem Gepäckwagen und sah in die Richtung, aus der die Lokomotive kommen mußte. Er sah, wie sich die beiden Silberlinien verloren in einem Korridor aus Nacht. Der irgendwo überging in den Fluß der Milchstraße. Wohin die entfesselten Dienerinnen des Dionysos den Kopf des Orpheus schleuderten.

SOMETHING’S GOTTEN HOLD OF MY HEART

Weil er von ihnen nichts wissen wollte, hatten die Mänaden Orpheus zerrissen.

KEEPING MY SOUL AND MY SENSES APART

In Aljoschas Walkman hatte dieses Stück begonnen, dieser Song, dieses 3-Minuten-45-Opus in epischer Breite, das seit Wochen alle Gründe in Abgründe stürzte, alles Sinnen und Sehnen begleitete, sein Treiben im Äther der süßen Melancholie,

SOMETHING’S GOTTEN HOLD OF MY HAND

sein langsames Entschwinden, seinen Tod im Leben.

DRAGGING MY SOUL TO A BEAUTIFUL LAND

Es war ein Lied voll hoffnungsloser Hoffnung, wie der Gesang von Matrosen nach der Seelenmesse,

TURNING ME UP AND TURNING ME DOWN

es ließ ein Licht aufgehen an dunklen Gestaden und verband alles mit allem,

MAKING ME SMILE AND MAKING ME FROWN

alles, wofür die Sonne scheinen mußte, alles, was der Mond viel besser wußte.

I’VE GOT TO KNOW IF THIS IS THE REAL THING

Und plötzlich war es die Hymne der Meuterei.

I’VE GOT TO KNOW WHAT’S MAKING MY HEART SING

Rebellionsgesang! Aufruhr vor der Admiralskajüte!

Die ganze Platte, Kicking Against The Pricks, war Leda eigentlich ein Greuel. Nick Cave & The Bad Seeds erschienen als Experten im Zerlegen gewohnter Strukturen, als Schinder des schmeichelnden Wohllauts, als Lästerer des Lieblichen, die mit fachmännisch gesenkten Köpfen einen Rhythmus zur Strafaktion erklärten und alle Melodien mit Stahlbürsten streichelten. Ausgerechnet dieses Stück nun gab sich betörend schön mit täuschend echter Harmonie und erhob sich strahlend, um auch Leda zu gefallen. Der Tod im Leben ist ein Meister der Ironie. Denn aus dem Wohlklang sprangen Würgeengel. Dieses Stück war die Verschwörung gegen das, was es zu sein schien. Dieses Lied wollte nicht nur herausfinden, was ein Liter Milch kostet. Es kippte Tod und Auferstehung in die Milchtüte.

Christian Erdmann: Aljoscha der Idiot

007

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Today's Best Song Ever

Today’s Best Song Ever: Iggy Pop – Shades

Iggy Pop by Masayoshi Sukita. Christian Erdmann, Today's Best Song Ever: Shades.

Doch 10mal wunderlich! SIE trug noch mehr! 9 Tage war es her, daß sich in der Metro ein 8-loses Individuum zwischen ihn und SIE geschoben hatte, dadurch 7 Flüche auf sich zog und erst zurückwich, als Aljoscha seinen Walkman von Lautstärke 6 auf militant laut stellte, wodurch im Umkreis von 5 Metern „Shades“ von Iggy Pop Mitreisende mitreißen mußte. Seitdem hatte dieses Stück Musik den 4fachen Schriftsinn:

3) Es handelte von einem Geschenk, das ein Mann von einer Frau erhält, was diesen Mann so rührt, daß er der Frau darüber Treue schwört für ewig und einen Tag (anagogischer Sinn).

2) Es enthielt die Zeile: Die anderen Kerle sind schlecht dran, sie wollten einem Mädchen wie dir nie zuhören (Moralsinn).

1) Es war die Hymne auf den Zauber, in den die Katzenmenschenfrau Aljoschas Leben hüllte. Allegorischer Sinn.

0) Es war so gut, daß man in die Knie ging. Buchstäblicher Sinn.

Und weil „Shades“ das Hohelied auf eine Sonnenbrille war, jenes so bedeutsame Geschenk zur richtigen Zeit am richtigen Ort, trug SIE an diesem kalten Tag, den kein Sonnenstrahl erhellte, eine Sonnenbrille. Klarer Fall! – auch wenn dies alles Aljoscha im Augenblick mehr schwante, als daß er es sich rational und en bloc zusammenspekulierte.

Christian Erdmann, „Aljoscha der Idiot“

004

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Aljoscha der Idiot Musik

Rowland S. Howard

„Der Mann der Stunde war Nick Cave, ehedem Sänger der Birthday Party, einer Combo, die so klang wie der eiskalte Samen des Teufels sich anfühlen mußte. Cave zog durch seine Texte wie ein Wanderprediger mit Dreck am Stecken zwischen Sumpfland, Strumpfband und Altem Testament. Sein Spießgeselle war jetzt nicht mehr der seltsame Rowland S. Howard, der mit seinen weinenwollenden großen Augen wirkte wie ein im Cabinet des Dr. Caligari Vergessener und von dessen Gitarre Georg Büchner sagte, daß sie wie ein offenes Rasiermesser durch die Gegend lief (man schnitt sich an ihr), sondern Blixa Bargeld, dessen luziferisches Gebrodel über Caves Lieder kroch wie eine Tarantel übers Bett. Kicking Against The Pricks und Your Funeral, My Trial von Nick Cave schärften den Sinn für die manische Unschuld der Obsession.“


„Vor etwa zwei Stunden hatte Aljoscha eine LP der Birthday Party neben einen Spiegel gestellt und sich selbst davor, um einen Haarschnitt vorzunehmen. Der Kopf des auf dem Cover abgebildeten Gitarristen Rowland S. Howard diente ihm als Vorbild. Hallo, ich bin Butch, und ich nenne diesen Schnitt Scheitel am Ende. Man trägt ein artiges weißes Hemd dazu. Es ist ein Scheitel, dessen Sachlichkeit zugleich betont und zerfetzt ist, verheert, zerwirbelt, verderbt. Die Wirrnis der Fasson. Der Formschnitt der Zerrüttung. Keine Strähne verschafft eine Ahnung, was zum Teufel all das bedeuten sollte, jeder Wirbel verweigert die Mitarbeit. Der Scheitel des Bösen. Aljoscha hatte aufgehört zu funktionieren. Er hatte aufgehört zu resignieren.“

[Christian Erdmann: Aljoscha der Idiot]

Rowland S. Howard. Artikel von Christian Erdmann.

Rowland war für mich immer ein entfernter Satellit, der an bedeutenden Punkten meines Lebens Signale sendet. Ich glaube, es war sein Gesicht, das mich zur Birthday Party brachte. Die Szenen in „Wings Of Desire“, die sich einem ins Gedächtnis brannten. Im Winter unserer Durchgangsriten war er da mit „Wedding Hotel“. „It’s Still Living“ neben meinem Spiegel, um mir den Scheitel des Bösen zu verpassen. These Immortal Souls live, damals, als Konzerte, die für 20:00 angesetzt waren, kurz vor Mitternacht begannen. Dann entdeckt man ihn als Entdecker der Lee Hazlewood / Nancy Sinatra-Größe, mit „Some Velvet Morning“. Und dann kam „I’m Never Gonna Die Again“ – „Crowned“. Gott weiß wohin Genevieves Piano am Ende, das nochmal aus der Stille kommt, meine arme Seele schon geführt hat.

Rowland S. Howard.

Über Rowland S. Howard @ SPIEGEL ONLINE Forum:

23.10.2007

Kuechenchef:

In der Tat habe ich gestern eine lange Crime & The City Solution- und Spätburgunder-Nacht veranstaltet. Angefangen mit der The Dolphins and the Sharks-EP … bis Shine. Dabei ist mir folgendes Schätzchen in die Hände gefallen, dessen Existenz mir nicht mehr wirklich bewusst war, Nikki Sudden and Rowland S. Howard – Kiss You Kidnapped Charabanc. 

Und natürlich laufen bei alldem so viele Filme ab, daß ich auf den Spätburgunder lieber von vornherein verzichte, aber wie Lou Reed mal sagte, jeder Wirbelsturm hat ein Auge, und durch das muß man durch. Und auf der anderen Seite bleibt dann einfach, daß „Wedding Hotel“ ein großer Song war, ist, und immer sein wird.

kpone:

… Lydia & Rowland mit „Shotgun Wedding“. Da läuft mir immer wieder ein Schauer über den Rücken.
Nicht immer zeugen viele Noten und Breaks für Qualität.

Lydia Lunch, Rowland S. Howard: Burning Skulls

Was die Breaks angeht… im Nachhinein betrachtet… „Hee-Haw“ hat zuweilen sehr vertrackte Rhythmen, diese seltsame Art von Beautiful Losers-Jazz, der Rhythmus als Strafaktion, und halb hält Howard genau das in der Hand, halb schneidet er mit dem Rasiermesser hinein.

Gerade auf der zweiten These Immortal Souls-Platte („I’m Never Gonna Die Again“) bindet er sich dann aber mal richtig die spitzen Schuhe zu, Stücke von ungeahnter Stringenz, und das etwa 10 Minuten lange „Crowned“ – über das, was passiert, wenn man sich über längere Zeit hinweg über den Schlaf (und ein paar andere Dinge) erhebt – ist vielleicht das beste, was er je gemacht hat, die Beats, die Epic Soundtracks auf diesem Stück auf der Snare hinterläßt, kann kein Sterblicher zählen, und während sich das Ganze am Ende selbst manisch in den Boden dreht, entlarvt diese wunderbare Piano-Melodie von Genevieve McGuckin, die erstmal gegen die neun Höllenkreise ankämpft und dann aus der Stille nochmal wiederkommt, einen wie Howard („I’ve been crowned in black, now I abdicate“) als letztlich heillosen Romantiker. Ganz, ganz groß.

18.03.2008

„Exit Everything“ flattert hier seit Tagen mit schwarzen Engelsflügeln herum und sprüht „Das Herz ist eine Kampfzone“ an die Wand.

07.07.2008

Hatte ich Dir eigentlich seinerzeit erzählt, daß es in dem nicht so berauschenden „Queen of the Damned“ eine kurze Szene gibt, in der eine „Vampir-Combo“ aufspielt, bestehend aus Aimee Nash, Robin Casinader, dem wunderbaren, Dir ja nun auch bekannten Hugo Race und *drumroll* Rowland S. Howard, ex-The Birthday Party, ex-Crime & The City Solution, ex-These Immortal Souls, ex-Lydia Lunch-Kumpan, ex-everything (Song seines Soloalbums „Teenage Snuff Film“: „Exit Everything“), ex-Konsument-von-allem. Wie Du weißt, kann man ihn auch als „im Cabinet des Dr. Caligari Vergessener“ bezeichnen, aber es war einfach schlagend, wie das natürliche unnatürliche Aussehen dieses Mannes ihn vampirhafter erscheinen ließ als den ganzen Rest der Filmvampire!

Queen of the Damned – Deleted Scenes – The Band

07.09.2008

„Exit Everything“ ist so richtig, daß es fast schon falsch ist, erinnert daran, daß Gott ein passiv-aggressiver Profilneurotiker ist, und bleibt dabei cool wie eine tiefgefrorene Gurke.

09.02.2009

Fad Gadget, „Ad Nauseam“ von „Gag“ (1984). Verstörender als 3 Death Metal-Bands auf 1 Pferd, Gitarre Rowland S. Howard.

12.02.2009

Eine der vielen guten Taten Rowland S. Howards: in einer Zeit, in der sich niemand darum kümmerte, auf die Klasse der Hazlewood / Sinatra-Songs zu verweisen, genau wie Nick Cave mit „Kicking Against The Pricks“ Traditionslinien betonte. Die slightly demented Lunch / Howard-Version ist Geschmackssache, ich finde sie wunderbar.

09.07.2009

Von Alex Chilton hat Rowland S. Howard mit seinen These Immortal Souls mal „Hey! Little Child“ gecovert. Der kann überhaupt gut covern.

30.10.2009

Es gibt eine neue Platte von Rowland S. Howard (The Birthday Party, Crime & The City Solution, These Immortal Souls), „Pop Crimes“.

Seine erste Soloplatte, „Teenage Snuff Film“ von 1999, gehört zum Besten, das je aus Australien kam.

Und jeder sollte ihm Glück wünschen. „Basically I got liver cancer, I’m waiting for a transfer, if I don’t get it things might not go so well… so…“

30.12.2009

Heute morgen ist Rowland S. Howard gestorben.

30.12.2009

Als Fad Gadget starb, war ich neu im Internet. Ich fand eine Art Kondolenzbuch auf seiner Website, und trug etwas ein. Aus den 80ern hatte ich noch so einen Artikel über ihn. Der war begleitet von einer Bilderserie; Frank Tovey (sein richtiger Name) und seine damals vielleicht 3jährige Tochter veranstalten eine Tortenschlacht. Sehr niedliche Bilder, sehr im Kontrast zu der damals gefährlich und diabolisch wirkenden Bühnenfigur Fad Gadget – der gerade das Album „Gag“ veröffentlicht hatte; auf einem Stück davon spielt übrigens Rowland S. Howard Gitarre. – In meinem Eintrag also erwähnte ich diese Bilder. Kurze Zeit darauf stand folgender Eintrag online:

„Thank you for all of your messages. I’m still reading them so please keep writing. Thank you to Christian for the message about the photo shoot with me and dad and the cake. I still have one of the photos from that shoot framed in my bedroom, it’s one of my most treasured possessions. Thanks and love to you all, Morgan.“

Das, und zu lesen, wie viele Menschen around the world die Kunst dieses Mannes schätzten und liebten, ließ mich denken, das Internet ist womöglich keine schlechte Sache.

Ja, es hat ihm wehgetan, daß sein Werk nicht die Würdigung fand, die es verdient hätte. Ich finde es ebenfalls schmerzlich, wie manche, die ganze Heerscharen von Epigonen zu hoffnungsloser Mittelmäßigkeit verurteilen, so langsam im Nebel verschwinden. Auf der anderen Seite ist es immer eine Wohltat, auf YT, wie mir gerade bei Siouxsie & The Banshees wieder geschehen, zu lesen, wie 17jährige diese Musik entdecken und ihnen die Kinnlade runterfällt darob, daß es sowas mal gegeben hat.

Warum ich das alles erzähle, weiß der Himmel – vielleicht weil ich heute morgen diese Nachricht bekam: „I woke up this morning and someone told me Rowland died. I’m crying like a child.“

Rowland S. Howard – The Birthday Party, Crime & The City Solution, These Immortal Souls, zwei gloriose Soloalben, massenhaft Kollaborationen. So einflußreich und innovativ, es bräuchte einen eigenen Museumsflügel für ihn. Im Grunde auch der Mann, der für die Postpunk-Generation das Interesse an Lee Hazlewood wiederbelebte, als dieser völlig aus dem Fokus war, mit „Some Velvet Morning“, Duett mit Lydia Lunch.

Ein Nachruf:

-> Rowland S. Howard hangs up his guitar for keeps 

„I think that the most important thing about music should be that it expresses some kind of humanity and it should express the personality of the person who is playing it.“

04.01.2010

Zum Tode Rowland S. Howards:

-> Geier unter Starkstrom

05.01.2010

kpone:

RIP 

„I think that the most important thing about music should be that it expresses some kind of humanity and it should express the personality of the person who is playing it.“ 

Sorry, Christian, hab‘ ich grad mal bei Dir rauskopiert. Natürlich war Howard kein „Supergitarrist“ à la Malmsteen, Satriani, Moore und wie die ganzen Griffbrettmasturbanten alle heißen. Aber da wo Gefühl und Akzentuierung gefragt waren, da hat er sein Metier beherrscht wie kein Zweiter. Allein auf der kompletten LP „Shotgun Wedding“ mit Lydia Lunch zeigen einzelne Töne zur richtigen Zeit, langsame Melodiefolgen einzelner Töne mit kurzem komplett Anschlag eines Akkords über drei Saiten, dass weniger meistens mehr ist.

Feeling für Strukturen, Harmonien (bei Birthday Party meist Disharmonien) und Riffs, die einen bis ins Mark treffen und Schauer über den Rücken jagen, müssen nicht immer technisch perfekt sein oder bis in jede 32tel Triole zu analysieren sein.

R.S. Howard war einer der ganz Großen.

Sorry, Christian, hab‘ ich grad mal bei Dir rauskopiert.

Gern. Doch noch schön, das alles zu lesen hier; hatte heute morgen schon dem Herrn Buß mein Mitgefühl aussprechen wollen dafür, daß er den deutschen Kulturseppl nahezu todesmutig doch noch mal an etwas Spannendes und Bedeutendes erinnern wollte, bei einer 90:10-Wahrscheinlichkeit von „Rowland wer?“. In jedem englischsprachigen Nachruf findet sich das Wort „influential“, gern mit einem „most“ davor und einem „komma, inventive“ dahinter. Daß Rowland S. Howard in Deutschland vergleichsweise „einflußlos“ war, würde ich gar nicht unbedingt bestreiten; eben daß Gitarristen dieses Kalibers – der Mann hatte einen Stil, den man 10 Meilen gegen den Wind erkennen konnte, präzise, schneidend, durchdringend, aber mit einem phantastischen Sinn für Klang, Struktur und Nuancen – vergleichsweise „einflußlos“ geblieben sind, ist ein Teil der Erklärung dafür, daß deutsche Musik so grottenlangweilig ist.

RSH hatte eine Lone-Ranger-Stimme von düsterer Determiniertheit, die immer etwas Unheimliches hatte, aber eine Stimme, die selbst schon mehr erzählte als tausend in Verbindlichkeitsakkorden absaufende Wischiwaschitexte. Wer sich mit den Texten wirklich beschäftigt, erkennt darin natürlich kleine poetische Sprengköpfe allerorten, RSH hat immer literarische Einflüsse zugegeben, von denen er meinte, daß er sie noch durch einen vielleicht nicht immer leicht verständlichen, spezifisch australischen Humor filtert, der mit dem vermeintlich Morbiden ganz gut umgehen kann. Großer Mann des dunkelromantischen weißen Blues, der ein genieförmiges Loch in der Kultur hinterläßt. 

Aus einem Review zu „Pop Crimes“:

„And it’s a revelation. Howard comes across as an intriguing blend of world-weary cynic and romantic, with that oddly puritanical streak you often get in lifelong ‚outsiders,‘ with a deliciously rich vein of black humour to bring it all to life. His cavernous voice sounds like it has smoked a forest of cigarettes but conversely has that rare power which comes from a sense of having really lived.“

01.07.2010

Einer, der gehen mußte: von Rowland S. Howards nun erschienener „Pop Crimes“.

10.12.2010

kpone:

Der hat sich einfach die Zeit genommen, Emotionen in Musik zu packen & Töne auch mal stehen zulassen, um damit zu kommunizieren. Demnächst jährt sich sein erster Todestag. R.I.P. Rowland. Never got the chance to see you on stage.

Thx. Ja, man möchte pathetisch werden, und warum auch nicht, ich danke den Göttern, die zwischen den Atomen sitzen und kichern, daß sie uns Diesen Unsterblichen Seelen zuführten, damals, als bestimmte Konzerte aus bekannten Gründen ca. 3 Stunden später begannen als angekündigt. Hager, ausgemergelt, als wäre Sonne ihm nur vom Hörensagen bekannt, schien er mehr Wesen als Mensch, später, in „Queen of the Damned“, bei seinem erstaunlichen Cameo, war er wohl der einzige, den man nicht eigens zum Vampir hinschminken mußte. Seine Art, sich zu bewegen, beeindruckte mich zutiefst. Eben die Art eines sehr schlanken, sehr großen Mannes, der ein Messer gegessen hatte. Die wunderbare Jutta Koether schrieb mal, These Immortal Souls stanzen in kostbarer Düsternis Blumen in schwarzes Glanzpapier. Und das ist natürlich das genaue Gegenteil von „depressiv“. Er liebte James Ellroy und verriet immer so interessante Dinge wie etwa, daß Blixa Bargeld eine Schuhputzmaschine besäße. Die drei besten „Wedding“-Songs: das „White Wedding“-Cover der Queens of the Stone Age, „Wedding Dress“ von Mark Lanegan, und „Wedding Hotel“ von Rowland S. Howard und Nikki Sudden.

Ein paar Platten, die der Mann todsicher zuhause hatte:  die großen, großen Shangri-Las. Wenn der nicht auch a crush on Mary Weiss (Capricorn, weiß man schon, bevor man es nachliest) hatte, will ich einen Besen fressen.

„Worte und Sounds lange nach Mitternacht. Winter-Pop. Was kümmert uns der schmutzige Schnee? Behende eilen die Immortal Souls spitzschuhig darüber hinweg.“ – Jutta Koether

„Autoluminescent“ Movie Trailer

The Birthday Party: „Junkyard“, TV 1982

The Birthday Party

„Rowland S Howard (the „W“ in Rowland and the „S“ in the middle were not negotiable) was one of this world’s most ridiculously singular and charismatic individuals. He was himself to the nth degree. He was beautiful, extraordinary, intelligent, funny, wickedly talented, wickedly human, affectionate, warm loving and always entertaining to the precious people in his life. He was as dapper as the devil, at times as shabby as an aristocrat who’d fallen on hard times.

He felt things in a wholly unimpeded way, there were no walls between his heart and his mouth, his skin was thin. When he loved he loved with all his heart, soul and mind, he could break hearts and did. He railed and writhed in agony when his own heart was broken. He devoured life and books and films and music and pop culture with a curiosity and zest for new information that was astonishing. He was a popular criminal. He was great and he was flawed, and life tested him again and again, but he arose from times of gloom and adversity to charm and amuse and spark and spin and produce songs and music that came straight from the centre of his being with an honesty and intensity that was bone-deep. He didn’t suffer fools gladly, if at all, yet he was always a gentleman.

His life was 50 years long, different periods of friends, cities, bands. So much happened it would be impossible to cover or do justice to them all. This is a eulogy, not a biography.

I’ll miss his blue eyes, his face, his downturned smirk, his raised eyebrow, his fount of information, his devilish humour, the sound of his voice. His compassion and empathy, his loyalty, his chuckle, his mocking laugh, his huge vocabulary. I’ll miss him telling me exactly what to read and see. I’ll miss his presence, the light he shed on those around him, his music, his singing, his words that made us cry, and watching and hearing him skip and strut and swing that guitar like a screechy demon, wringing the most bone shatteringly beautiful noises out of the ether while he sang his heart out all over the place. It all came from the most profound regions of his soul. It was how he expressed himself.

Through everything Rowland, you were the best friend of my life. I couldn’t have asked for more.“ 

Genevieve McGuckin

„Rowland’s quest is to banish banality from the kingdom.“ – Harry Howard

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Aljoscha der Idiot

Interview Literatur-Feder Magazin

Interview mit Christian Erdmann

Literatur-Feder Magazin

Ausgabe 5, Juni 2007


Der Autor Christian Erdmann und sein Werk „Aljoscha der Idiot“

„Aljoscha der Idiot“ erschien bereits 2005, bevor es nun neu, in der besonderen Buchreihe Edition BoD, aufgelegt wurde.

„Ich schwöre: Wer dies liest, der bekommt einen glücklichen Ausdruck im Gesicht…“, so der Gründer des Eichborn-Verlags, nun Herausgeber der BoD Edition und einer der renommiertesten Branchenkenner in der Literaturszene, Vito von Eichborn.

Erdmann gilt als außergewöhnlicher Autor, der das Talent besitzt, den Leser von der ersten bis zur letzten Seite in den Bann zu ziehen.

Daher war es uns eine ganz besondere Ehre, dass wir ihn in dieser Ausgabe für ein exklusives Interview gewinnen konnten.

Christian Erdmann, Interview mit dem Literatur-Feder Magazin, 2007.

Literatur-Feder: Herr Erdmann, auf Ihrer Homepage stellen Sie beinahe ausschließlich Ihr Buch in den Vordergrund. Über Ihre Person als Autor erfährt man so gut wie nichts. Möchten Sie unseren Lesern etwas von sich preisgeben?

Christian Erdmann: Oh, gut. Ich lebe in Hamburg und versuche wie jeder andere, das tägliche Chaos irgendwie zu ordnen. Ich habe Philosophie studiert, aber keine Karriere daraus gemacht. Unter meinem Bett liegen Schiffsladungen von Papier, Entwürfe für das, was einmal meine Dissertation werden sollte, eine „Philosophie des Horrors“. Aber das hat den Rahmen gesprengt, und ich bräuchte einen Deutschen, der mir das systematisiert. Ich habe einen ziemlich bizarren Job, um mich über Wasser zu halten. Und wenn ich meine Feder in mein Herzblut hätte tauchen können, um den Roman zu schreiben, hätte ich es getan.

Literatur-Feder: Ihr Roman „Aljoscha der Idiot“ ist Ihre erste Roman-Veröffentlichung. Wann haben Sie mit dem Schreiben begonnen und gab es dafür einen bestimmten Auslöser?

Christian Erdmann: Wann ich mit dem Schreiben begonnen habe? Als Kind! Ich konnte schreiben, bevor ich in die Schule ging, und ich habe Lexika vollgekritzelt mit… notwendigen Ergänzungen. Ich hatte bloß die Angewohnheit, zwischen den einzelnen Worten Striche zu setzen… Gedankenstriche. Wie Kupplungen zwischen den Waggons eines Zuges. Vielleicht hatte ich irgendwie schon immer das Gefühl, die einzelnen Worte sind nicht verbunden genug.

Die ersten ernsthaften Schreibversuche waren Gedichte. Es gab auch mal einen Gedichtband, den ich zusammen mit einer Freundin gemacht habe. Wir haben beim Drucker die Seiten selbst geschnitten und geleimt. Das Bändchen hieß „Vorwitz und Verstrickung“. Ein paar Hundert Exemplare im Eigenverlag, das war gnadenloser, furchtloser, furchtbarer Idealismus.

Der Anlaß für diesen Roman war, etwas Wunderbares festzuhalten. Ich sage nicht, daß es eine wahre Geschichte ist, aber der Anlaß war, etwas Wunderbares festzuhalten.

Literatur-Feder: Sie haben sich bei Ihrem Erstlingswerk für eine Veröffentlichung bei BoD entschieden. Was waren die Gründe?

Christian Erdmann: Nun, ich habe das Manuskript in unregelmäßigen Abständen an einige der großen Verlage geschickt. Nicht viele, nur eine Handvoll: Berlin-Verlag, Matthes & Seitz, Suhrkamp, Reclam Leipzig, Hanser, zuletzt Rogner & Bernhard, wo mir eine Praktikantin den Papierstapel zurückgab. Vermutlich hat’s da keiner gelesen, aber es sah trotzdem so aus, als hätten sie den Fußboden damit gewischt. Man hat als Autor nicht viel Geld, aber eine Menge Schmierpapier.

Die Absagen, die man auf meiner Homepage lesen kann, sind authentisch. Der Roman wurde abgelehnt als zu anspruchsvoll und „auf dem Markt nicht durchsetzbar“. Also, wenn man das Manuskript nicht in einem heiligen Ritual verbrennen will, was kann man tun? BoD war einfach der Weg, den Roman so herauszubringen, wie ich ihn wollte. Es hat mich natürlich auch gereizt, daß man die Covergestaltung selbst übernehmen und so eine Art Gesamtkunstwerk schaffen kann. Ich wollte unbedingt diesen Masereel-Holzschnitt! Und ich verstand BoD dann als eine Art Independent-Bewegung, die es erlaubt, gewisse Mechanismen des Betriebs zu unterlaufen. In der Musik geschieht ja derzeit Ähnliches, es gibt aufregende Bewegungen außerhalb der herkömmlichen Strukturen der Industrie. Im Internet hat ja gerade die kreative Schnitzeljagd für Furore gesorgt, die Trent Reznor für die letzte Nine Inch Nails-Platte veranstaltet hat. Ganze Alben werden nur noch im Internet zugänglich gemacht, die Einstürzenden Neubauten haben dieses System etabliert, Musik mit direktem Support durch Fans zu produzieren, jede Myspace-Seite bietet Hörproben, Musiker-Blogs geben bislang ungekannte Einblicke in das künstlerische Schaffen, kurz, die graben den Schacht von Babel da.

Literatur-Feder: Vito von Eichborn ist seit März 2006 neuer Herausgeber der Edition BoD, einer Buchreihe, in der außergewöhnliche BoD-Titel präsentiert werden. Ihr Buch wurde in diese besondere Buchreihe aufgenommen. Nun gilt Herr Eichborn als einer der innovativsten Buchmacher in der deutschsprachigen Literaturlandschaft mit einem feinen Gespür für hoffnungsvolle Autoren. Was bedeutet diese Aufnahme für Sie?

Christian Erdmann: Das war ein echter Schock. Und natürlich eine große Ehre.

Literatur-Feder: Konnten Sie bereits im Vorfeld damit rechnen, in diese Buchreihe aufgenommen zu werden?

Christian Erdmann: Nein, das kam aus heiterem Himmel. Ich hatte nur die Vorstellung, daß das Buch schon seinen Leser finden wird, aber abgesehen von der Website bestand meine Promotion darin, im Forum eines Nachrichtenmagazins zu schreiben, wobei ich das Buch aber nie offensiv bewarb. Man streitet da über Politik oder diskutiert Filme. Nach einer Weile kamen die ersten Emails von anderen Teilnehmern dort, die sich fragten, was ist das denn für einer, und über mein Userprofil die Website gefunden hatten. Die fragten dann nach dem Roman und wie man ihn bekommen kann. Die ersten Reaktionen auf das Buch waren sehr bewegend. Wenn dir ein Leser sagt, der Roman hätte sein Leben verändert – das geht schon unter die Haut. Daß mir dann plötzlich Vito von Eichborn ein Vorwort schreiben würde, in dem er erklärt, das sei literarisch das Beste, was er seit langem gelesen habe – nein, hätte ich nicht gedacht. Wenn das Buch sich durch Kanäle bewegt, die du nicht mehr kennst, wenn du nicht mehr weißt, wo die Flüsterpropaganda flüstert, dann merkst du, es ist auf dem Weg. Aber dem, der da nächtelang vor sich hin schrieb ohne Vorstellung davon, wo das hinführen soll, verschlägt das erstmal den Atem.

Literatur-Feder: Erscheint Ihr nächstes Buch ebenfalls als BoD?

Christian Erdmann: Erst einmal will es geschrieben sein. Dann sehen wir weiter.

Literatur-Feder: Wie viele Jahre Vorarbeit haben Sie für Ihren Roman investiert?

Christian Erdmann: Vorarbeit im eigentlichen Sinne gab es nicht. Es gab nur Arbeit. Ich habe an dem Roman geschrieben, bis er fertig war, und dann habe ich an einer neuen Fassung geschrieben – vielleicht drei- oder viermal. Allerdings habe ich nicht kontinuierlich daran gearbeitet. Eine erste Fassung war Ende der 90er fertig, aber sie ist nicht mehr zu vergleichen mit dem jetzigen Roman. Das, was jetzt „Aljoscha der Idiot“ ist, entstand zwischen 2002 und 2004. Das stand dann für mich schon unter dem Vorzeichen BoD. Und das hieß: keine Beschränkungen im Hinblick auf das, was „auf dem Markt durchsetzbar“ ist. Die Überarbeitung der Erstfassung bestand darin, alles viel kompatibler zu machen. Und dann habe ich den ganzen Prozeß langsam wieder umgedreht. Entweder sagt man die Dinge so, wie man sie sagen will, oder man läßt es.
 
Ich glaube ja an die ganz alten Geschichten. Wie Rimbaud mit „Eine Zeit in der Hölle“ zum Drucker gegangen ist, den bezahlt hat, und dann ist die Auflage in Brüssel verrottet. Das ist groß! Irgendwann stand ich dann in Paris vor dem Haus, in dem Lautréamont verhungert ist. Ich sagte mir, was der kann, kann ich auch. Und gab mein letztes Hemd für BoD.

Literatur-Feder: Vor nicht allzu langer Zeit galt der Aufenthalt des Dichters im sogenannten Elfenbeinturm als Symbol für eine verfehlte Einstellung, die lediglich als „Flucht aus der Wirklichkeit“ angesehen wurde. Im letzten Jahrzehnt hat sich an der Einstellung offensichtlich etwas geändert. Man bedenke das Anwachsen der phantastischen Literatur auf dem Markt.
Welche Aufgabe hat ein Autor heute Ihrer Meinung nach?

Christian Erdmann: Jeder Autor muß selbst entscheiden, wo sein Weg ist. Ich kann nur für mich selbst sprechen. Und nur für dieses Buch. Und dann ging es vielleicht darum: sagen, was bisher noch nicht gesagt wurde. Oder etwas so sagen, wie es bisher noch nicht gesagt wurde. Sich dem Unsagbaren annähern. Sie kennen sicher den Zustand, wenn zwischen Traum und Wachen das Gehirn auf Hochtouren läuft. Vielleicht sind wir dann die besten Literaten.

Die Flucht aus der Wirklichkeit gibt es ja eigentlich gar nicht. Jeder angeblich Flüchtende entdeckt da, wo er ist, eine andere Facette der Wirklichkeit. Wenn wir alle mit den alltäglichen Einschätzungen zufrieden wären, bräuchte es keine Literatur. Insofern bedeutet Literatur immer, neben der Realität zu liegen. Auch „Realismus“ ist nur ein Stil, nur vielleicht die schwächste Form des Danebenliegens. Zu dem, was uns als Antwort vorgelegt wird, keine neue Fragen finden, das ist der eigentliche Elfenbeinturm. Und die subversive Kraft des Danebenliegens ist es, neue Wirklichkeiten zu erschließen.

Für mich selbst funktioniert Schreiben wie eine Fahrt in der Geisterbahn. Ich möchte nicht schon vorher genau wissen, was am Ende herauskommt. Man fährt zwar auf einer Schiene, aber man weiß nicht, was man unterwegs trifft. Andere nicht langweilen, aber auch sich selbst nicht langweilen, wie Billy Wilder sagte.

Zum Roman

Literatur-Feder: Der Roman findet in der Gegenwart statt, in einer Gegenwart, würde man besser sagen. Aber Errungenschaften der Gegenwart spielen, wenn man vom Walkman einmal absieht, im Roman so gut wie keine Rolle. Gibt es Gründe?

Christian Erdmann: Oh, Aljoscha benutzt auch ein Telefon! Und der ganze Ablauf beginnt ja damit, daß Aljoscha einen Horrorfilm von 1942 sieht. Also gibt es auch Fernsehen… es gibt schon Errungenschaften der Moderne, aber es ist mehr wie bei Cocteau, wenn der Tod durchs Autoradio spricht. Die eine Gegenwart, in der das alles spielt, ist unbegrenzt und sozusagen panoramisch geöffnet, für Botschaften, die aus anderen Zeitebenen zu kommen scheinen, für Mythologie. Mir ging es auch darum, wenigstens anzudeuten, daß jede Situation ein unendlich komplexes Geflecht von Bezügen ist, praktisch unauslotbar. Um die Situation in 80 Perspektiven, gewissermaßen. Es spielt sich etwas ab, für das die Moderne eigentlich keinen Platz hat – ein magisches Ritual. Und alles, was Aljoscha begegnet, scheint einen Bezug zu diesem Ritual zu haben, es gibt überall Verbindungen und den totalen Zusammenhang der Ereignisse in einer scheinbar magischen Ordnung. Das, was Breton mal „die unwahrscheinliche Mitwirkung“ nannte. Aljoscha merkt, daß er aus der normalen Welt herausfällt, und die Dinge der normalen Welt haben keine Bedeutung mehr… sofern sie keine Bedeutung in Bezug auf das haben, was ihn mit dieser rätselhaften Frau verbindet, seiner Obsession. Aber gut, ein Rezensent schrieb, Aljoscha wirke, als hätte ihn ein böser Geist aus der Pariser Belle Epoque herausgerissen. Er hat wahrscheinlich ein paar Anlagen, die ihn in der Gegenwart ein bißchen deplatzieren. Aber vielleicht prädestiniert ihn das auch für die Erfahrung, die er macht.

Literatur-Feder: Im Zusammenhang mit der Bibliotheca Medicea Laurenziana in Florenz, die von den Protagonisten aufgesucht wird, sprechen Sie von „Schöner Wohnen für den Weltgeist“.
 
Hat der Weltgeist Ihrer Meinung nach in den modernen Lesesälen mit Buchbestellterminal etc. nichts zu suchen, bzw. findet er dort keine angemessene Behausung?

Christian Erdmann: Doch, nur hat man manchmal den Eindruck, er schwirrt da etwas aufgescheucht herum. Das Ganze ist ein bißchen ironisch gemeint. Das ist vielleicht eine der Passagen, wo der Leser sich zu fragen beginnt: meint der das alles ernst? Dann kommt er wahrscheinlich darauf, daß manches ironisch gemeint ist. Das stimmt, aber auf einer dritten Ebene ist hinter der Ironie alles wieder todernst gemeint.

Diese Reihen von Büchern, die man über Jahre hinweg zusammengetragen hat, und jedes einzelne präsentiert seine Aura, das ist doch einfach ein wunderbarer Anblick. Vor einer Weile las ich ein schönes Plädoyer für die Macht der Bücher, „Der Club Dumas“ von Arturo Pérez-Reverte, die Vorlage für diesen Polanski-Film mit Johnny Depp, „Die neun Pforten“. Diese leidenschaftlichen Bücherjäger, diese einzigartigen alten Ausgaben mit einzigartigen Geheimnissen, hinter denen alle her sind, mittendrin die aufregendsten Frauen, nicht minder geheimnisvoll, ich meine, da möchte man doch eine der Romanfiguren sein.

Bob Dylan hat mal gesagt, das Internet sei ihm unheimlich, und er fürchte immer, daß da irgendwann eine Hand durch den Monitor kommt und nach ihm schnappt. Gut, der Mann denkt in Metaphern. Der schnelle Zugriff auf Informationen im web, der Austausch, die Vernetzung, all das ist ein unbezahlbarer Vorteil. Aber es fehlt die Tiefendimension, die ein Buch hat. Wenn du ein Buch von Baudelaire in der Hand hast, ist Baudelaire dein Zeitgenosse. Dinge wie Wikipedia machen zwar klar, daß wir alle der Weltgeist sind, aber andererseits glaube ich an den Genius Loci. Die Atmosphäre eines Ortes und die eigene Stimmung, da gibt es eine Wechselwirkung. Sakralbauten haben die Funktion, dich einzustimmen, dir irgendeine Art von Empfänglichkeit zu schenken. Ich mag es, wenn man eine Bibliothek betreten kann wie einen Sakralbau.

Literatur-Feder: An welche Zielgruppe richten Sie sich? Lässt sie sich benennen?

Christian Erdmann: Naja, an jeden, der das Gefühl hat, hinter dem perfekt aufgeführten Theaterstück der Normalität toben noch ganz andere Mächte. Alle, die an irgendeine Art von Bestimmung und an Liebe als höchste Form der Magie glauben, sollten diesen Roman lesen. Jeder, der mal gedacht hat: Liebe ist anders, unvorstellbar anders. Alle, die daran glauben, daß die Reise in die Mitte der Wirklichkeit einen Auslöser auf zwei langen Beinen hat. Und jeder, der sich über das freut, was man mit Sprache anstellen kann. Es gibt doch diesen Song, „Man Out Of Time“. Dies hier ist ein „Book Out Of Time“. Es kennt den Zeitgeist nur vom Hörensagen. Manche empfinden den Sprachduktus als altmodisch, benutzen dann aber im nächsten Satz das Wort „postmodern“. Was kann ich sagen?

Literatur-Feder: Im Zusammenhang mit Äußerungen zu Wittgenstein fällt der Satz: „Positivismus ist das, was man seiner Oma erzählen kann“. Wie sehen Sie den heutigen oder kommenden Weg des Denkens?

Christian Erdmann: Als ich Arbeiten für mein Philosophiestudium schrieb, haben die Professoren mir immer gesagt: sehr schön, aber passen Sie auf, daß Sie nicht zu poetisch werden. Und dann habe ich einen Roman geschrieben, der einem Lektor „zu philosophisch“ war. Meine Idee ist, Poesie war immer schon eine Art Philosophie, aber Philosophie muß noch mehr als eine Art von Poesie verstanden werden. Denn alles wir tun, in welcher Disziplin auch immer, das ist, daß wir uns Geschichten erzählen. Es gibt keine Wahrheit, die man verabsolutieren könnte. Perspektivismus ist heilsamer als Dogmatismus. Ich behaupte in meinem Roman ein paar Wahrheiten über diese Welt, aber letztlich ist es nur meine Sicht, meine Erfahrung. Wenn das neue Räume öffnet für jemanden, wunderbar. Wir können uns nur annähern, aber das Streben an sich ist erotisch.

Literatur-Feder: Wie gehen Sie mit dem Vorwurf um, dass die Fülle der zur Sprache gebrachten Kenntnisse gelegentlich die Handlung zu überwuchern scheint?

Christian Erdmann: Das wird ja oft ironisch gebrochen, beispielsweise in den ganzen bizarren Majakowski-Zitaten, die ja völlig unsinnig wirken. Auch wenn sie im Aljoscha-Zusammenhang dann wieder Sinn ergeben, werfen sie auf Aljoscha sicher nicht das Licht eines von seiner eigenen Bildung Ergriffenen. Es gibt auch Passagen, in denen zwei Leute in einem Raum sitzen und ziemlich behämmert versuchen, den ganzen Lauf der Dinge zu verstehen. Andererseits ist die Fülle dessen, was da auf Aljoscha einströmt, aktiver Teil der Handlung selbst. Wenn da die Professoren in ihren Vorlesungen Botschaften mitteilen, die Aljoscha in seinen eigenen persönlichen Bedeutungszusammenhang fügt, dann ist das so, als hätten die Dinge hinter den Dingen eine eigene Stimme. Man kann sie halt nur nicht in den Credits aufführen, sozusagen.

Literatur-Feder: Eigentlich erübrigt sich die Frage nach Vorbildern, Einflüssen. Sie werden im Roman in der Regel genannt. Gibt es trotzdem Schwerpunkte? Welche Rolle spielt Kierkegaards „Tagebuch des Verführers“ für einen gewissen Handlungsteil?

Christian Erdmann: Kierkegaard war kein direkter Einfluß. Ich sehe, was Sie meinen, es gibt vielleicht gewisse Parallelen, aber Aljoscha ist kein distanzierter Ästhetiker. Natürlich ist die schöne Unbekannte Projektionsfläche seiner Phantasien. Aber es ist ja nicht so, daß Aljoscha dabei zugleich systematisch auf der Flucht vor der Liebe wäre, daß er bei alldem nur einen letztlich hedonistischen Reiz auskostet.

Die Parallele liegt sicher darin: Aljoscha erlebt, wie ihm ein Ideal erscheint, und er spürt ihm nach, er wird zum akribischen Beobachter, jedes Detail aus dem Leben dieser Frau wird sein Fetisch, jeder ihrer Bewegungen folgt ein Sturzbach von Bedeutungen. Der Unterschied: Beobachtung ja, aber Kontrolle, Machtausübung? Nein. Planmäßiges Verführen? Nein. Die Frau wird nicht zum Opfer seiner diabolischen Inszenierung. Im Gegenteil lernt Aljoscha die ganze Zeit, daß es immer etwas gibt, das ihm voraus ist. Er läuft ständig hinterher, das ist sein Grundgefühl. Da ist etwas, das mit äußerster Raffinesse vorgeht, aber dieses Etwas ist nicht er selbst. Es ist etwas anderes, das da steuert, nicht er selbst.

Beim Verführer Kierkegaards gibt es diese latent sadistische Komponente, die Machtausübung über ein Objekt. Für Aljoscha ist es eher masochistischer Suspense, in einer Verführung, die, wenn schon, wechselseitig ist.

Auch verläßt Aljoscha eigentlich nie die moralische Ebene. Für den Verführer ist Zweisamkeit ja keine Perspektive. Für Aljoscha beginnt aber genau da das Dilemma. Er ist voller Skrupel, eigentlich ein durch und durch ethischer Charakter. Er fühlt sich schon schuldig, bevor er sich schuldig gemacht hat. Erst als er wirklich begreift, daß die Realität tatsächlich mit seinem Phantasma identisch ist, stellt sich ihm auch die Frage, ob Schuld überhaupt ein sinnvolles Wort ist.

Es gab eigentlich keine direkten literarischen Vorbilder, obwohl es Passagen gibt, die ich meine Thomas-Mann-Passage nenne oder meine Francois-Villon-Passage. Einflüsse dagegen gibt es unendlich viele, natürlich. Man kann aus allem etwas Brauchbares ziehen. Aus einem alten Chemiebuch habe ich einiges über Metamorphose gelernt. Musik war natürlich auch ein Einfluß. Ich habe mal gelesen, Musik kann das Gehirn in einen Zustand versetzen, in dem es neue „patterns of speech“ entwickelt. Das habe ich zuweilen ganz banal instrumentalisiert. Die Suche nach Flauberts „mot juste“… statt wie Flaubert in den Teppich zu beißen, habe ich mir Kopfhörer aufgesetzt. Und manchmal hat mich die Atmosphäre eines Stücks wie „Boy Child“ von Scott Walker oder „Frozen Warnings“ von Nico genau dahin geführt, wo das Wort oder das Bild war.

Literatur-Feder: Könnten Sie uns etwas über die Gründe zur Wahl des Titels sagen?

Christian Erdmann: Zuerst hieß der Roman „Die Katzenmenschenfürstin“. Freunde, die das Manuskript gelesen hatten, sagten mir aber, das klinge zu sehr nach Fantasy und zu historisierend. Daß es dann „Aljoscha der Idiot“ wurde… Aljoscha hat das Gefühl, das Leben hat eine innere Struktur, die aufregend und bedeutsam ist, ein geheimes Muster der Existenz. Nur, er kapiert es lange nicht. Er weiß nicht, ob er zu äußerster Klarsicht oder zu äußerster Unzurechnungsfähigkeit vordringt. Und das, was er versteht, versteht er eben etwas anders. Das ist, wovon im Buch gesagt wird, es ist das Russischste am Russen – alles etwas anders verstehen. Alles etwas anders tun. Er geht eben nicht auf diese Frau zu und fragt sie: „Wollen wir nicht mal einen Kaffee zusammen trinken?“ Das hätte alles zerstört.

„Idiot“ ist auch kein klassisches Schimpfwort für mich. Nicht seit Dostojewski. Es ist nicht negativ gemeint, es bezeichnet nur einen, der eben ein bißchen ein komischer Heiliger ist.

Literatur-Feder: Die Handlung erstreckt sich über neun Monate. Warum haben Sie sich für die Romanform entschieden, wenn sich die relative Kürze der Handlung auch in einer Erzählung hätte wiedergeben lassen?

Christian Erdmann: Es geht um die Vorstellung von Mustern, die vielleicht einerseits Produkt unserer unbewußten Sehnsüchte sind, die uns dorthin bringen, wo etwas in uns schon immer hin wollte, und die uns andererseits irgendwie von außerhalb unserer selbst am Wegesrand Zeichen geben. Wir verändern die Muster, die Muster verändern unsere Realität. Um all das darzustellen, hätte die komprimierte Form der Erzählung nicht ausgereicht. Die Situationen, die dem Protagonisten mit Bedeutung aufgeladen scheinen – sie werden beschrieben, aber es war auch der Versuch, das in die Sprache selbst eindringen zu lassen. Auch die Worte und Sätze, die Aljoschas Realität beschreiben, sind mit Bedeutung aufgeladen. Die Geschichte, die Handlung selbst, ist nicht übermäßig ausgefallen. Wie sie beschrieben wird, das ist ungewöhnlich. Die Ebenen in Aljoschas Wahrnehmung haben eine Entsprechung in der Sprache. Bis zu dem Punkt, an dem die Vermischung von Realität und Phantasie, von Traumzeit und Echtzeit, von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, auch den vermeintlich auktorialen Erzähler völlig sabotiert. Aljoscha hat keinen Zweifel am kausalen Geordnetsein der Welt… aber er spürt einer genuin anderen Kausalität nach als der bekannten. All das, all diese Sequenzen und Koinzidenzen, ist in die Sprache eingewoben, diese ganze Textur. Manche Worte am Ende erklären manche Worte am Anfang. Das entspricht Aljoschas Gefühl, die Gründe für seine Gegenwart kommen aus der Zukunft. Eine Erzählung hätte all das nicht erlaubt. Konventionelle Erzählweisen werden immer wieder aufgebrochen, um darzustellen, wie Aljoschas Realität aufgebrochen wird, und wie sein Blick darauf sozusagen explodiert. Als würde eine Polaroidkamera in einen Haufen Polaroids explodieren, die sich gegenseitig anstarren.

Literatur-Feder: Den Protagonisten fehlt die Dimension der biografischen Vergangenheit nahezu völlig. Welches Konzept verfolgen Sie damit?

Christian Erdmann: Naja, es gibt schon Rückblenden, die helfen, den Punkt zu erklären, an dem Aljoscha und Leda jetzt stehen. Aber es stimmt, auch diese Rückblenden können von dem Punkt aus gesehen werden, an dem die Gegenwart für Aljoscha sich wie ein Universum ausdehnt. Die biografische Vergangenheit der Katzenmenschenfrau kennt Aljoscha ja lange nicht. Darum ist sie ja die Katzenmenschenfrau.

Literatur-Feder: „Wer auch immer dieses (das wiederholte Lesen) auf sich nimmt, der bekommt einen glücklichen Ausdruck im Gesicht“. Dies die Ankündigung des Herausgebers Vito von Eichborn. Hätten Sie eine Vorstellung davon, wie es zu diesem glücklichen Ausdruck kommen könnte?

Christian Erdmann: Ein ratloser, befremdeter Ausdruck ist sicher auch denkbar… ein „Hä?“ aus tiefstem Herzen. Ein Leser schrieb mir, bei vielen Büchern suche man die Nadel im Heuhaufen, während mein Buch ein Nadelhaufen sei. Manche sagen, der Einstieg in den Roman fällt schwer, und ich sage dann, wenn Sie die ersten 50 Seiten schaffen, kann Sie danach nichts mehr schrecken. Manche sagten mir: und dann kam diese Sogwirkung. Für mich ist das schwer zu beurteilen. Es scheint, entweder legt man das Buch schnell wieder weg, oder man läßt sich auf eine vielleicht schwierige, aber tiefgehende Erfahrung ein. Der glückliche Ausdruck, der kommt, wenn man Lust hat, sich von einem Buch ständig überraschen zu lassen. Wenn man sich zunächst fragt, wie kommt denn das jetzt da hin, dann aber alles plötzlich Sinn ergibt. Auch, daß Tarotkarten eine Konferenz abhalten, die aus dem Ruder läuft. Ein Theaterstück, mittendrin. Es ist überhaupt viel drin. Ich möchte an dieser Stelle Lotte Lenya zitieren: „Da wird was geboten für sein Geld!“

Literatur-Feder: Wir wünschen dem „komplexen Gespinst aus Gedanken und Gefühlen“ (Zitat: Vito von Eichborn) und seinem Autor weiterhin viel Erfolg!

Christian Erdmann: Ich bedanke mich ganz herzlich und wünsche Ihrem Magazin dasselbe! 


Das Interview führte Marlies Eifert zusammen mit Markus Fifka.

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The Everlasting Gaze

27 – Galleria del Costume

Christian Erdmann, Galleria del Costume, Florenz.

In der Galleria del Costume kam der Geist über Leda. Sie bewunderte die alten Stoffe, den Schnitt früherer Moden, sie studierte die Qualität der Verarbeitung und ignorierte, Zeichen der Ekstase, zwei oder drei Berühren verboten. Ihr Entzücken war ein sachverständiges, und ein schwarzes Charleston-Kleid wurde nicht von einem lasziven Vamp mit Perlenkette und Zigarettenspitze vorgeführt, sondern von der weißen Puppe Nr. 40. Aljoscha aber beschäftigten solche Fragen: welche Contessa hatte einst diese unfaßbar zierlichen Handschuhe von ihren unfaßbar grazilen Händen gestreift? Auf welches Bein hatten diese Spitzenstrümpfe ein Ornament im spätgotischen Flamboyantstil gezeichnet? Erweiterte die eingeengte Taille das Bewußtsein?

„Ein schwarzer Seidenstrumpf ist wie eine Glasur“, erklärte Aljoscha ungefragt. „Eine Glasur aus Dunkelheit. Geschmolzene Dunkelheit. Die Dunkelheit geschmolzener Träume. Auf dem Bein wie Blattgold auf einer Ikone. Sakraler Glanz eigentlich. Die Haut unter dem Glanz wird unberührbar. Durch den Schutz betont, durch die Betonung geschützt. Stiefel aus göttlichem Lack. Schwarze Rüstung als bloße Idee.“

„Ein Seidenstrumpf ist ein Kleidungsstück, Aljoscha.“

„Festgezurrt wie das Jagdkleid der Artemis! Schwarzes Licht, das sich über einen Schenkel ergießt! Unterweltsgöttinnenhülle!“


Christian Erdmann, Aljoscha der Idiot

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Aljoscha der Idiot

The Aljoscha House

The Aljoscha House. Art Glass Work by Monika Cate, 2007, für "Aljoscha der Idiot" von Christian Erdmann.
The Aljoscha House. Art Glass Work by Monika Cate, 2007, für "Aljoscha der Idiot" von Christian Erdmann.
The Aljoscha House. Art Glass Work by Monika Cate, 2007, für "Aljoscha der Idiot" von Christian Erdmann.
The Aljoscha House. Art Glass Work by Monika Cate, 2007, für "Aljoscha der Idiot" von Christian Erdmann.
The Aljoscha House. Art Glass Work by Monika Cate, 2007, für "Aljoscha der Idiot" von Christian Erdmann.
The Aljoscha House. Art Glass Work by Monika Cate, 2007, für "Aljoscha der Idiot" von Christian Erdmann.
The Aljoscha House. Art Glass Work by Monika Cate, 2007, für "Aljoscha der Idiot" von Christian Erdmann.
The Aljoscha House. Art Glass Work by Monika Cate, 2007, für "Aljoscha der Idiot" von Christian Erdmann.

Art Glass Work by Monika Cate, 2007.

14.06.2011 [Antirat]

Wenn zufällig, als ich The Aljoscha House aus dem Paket gehoben hatte, Anna Karina aus „Pierrot le fou“ zugegen gewesen wäre, hätte sie gesagt: „Stimmt was nicht? Sie sehen so umwölkt aus…“ It made me cry, it’s as simple as that. Daß Monika in einem früheren Leben für Elrond gearbeitet haben mußte, war das eine. Die eigenen Worte wie auf Elbenpergament zu sehen, war das zweite eine. Beleuchtet zu sehen, daß „Aljoscha“ anderen etwas bedeutet, war das andere. Es kam zu Weihnachten, genau ein Jahr nach der Heiligen Nacht, in der meine Mutter gestorben war, und ich dachte, wie schön es gewesen wäre, wenn sie dies noch gesehen hätte. Wenn sie Vito von Eichborns Worte noch gehört hätte. Wenn sie Rays Worte noch hätte lesen können, Schneekapitel. Sie liebte „Lotte in Weimar“. Es kam so viel zusammen in diesem Moment. Ich hätte es am liebsten auch dem gezeigt, der eines Tages die ersten Sätze aufschrieb, die in 1 Milliarde Nächten zu „Aljoscha“ wurden, und ihm gesagt: ain’t life strange and great. This is where it leads to, what you do.

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Aljoscha der Idiot

Über den wunderbaren Zauber der Liebe

Über den wunderbaren Zauber der Liebe

Der Blitz schlägt ein, und das Universum sprüht Funken. So fühlt es sich an, als Aljoscha die geheimnisvolle Fremde zum ersten Mal sieht. Sie erscheint, er muss ihr folgen. Stumm betet er sie an und schafft in seiner Gedankenwelt eine seltsamen Regeln unterworfene Beziehung mit dem sphinxhaften Wesen. Es scheint, als könne der Zauber nur aus der Distanz heraus wirken. […] Aljoscha ist getrieben von dem Wunsch nach absoluter Liebe, nach totaler Verschmelzung, völliger Hingabe. Diesem fast schon religiösen Anspruch hält seine Liebe zu seiner Lebensgefährtin Leda im Alltag nicht stand, und so ist sie unausweichlich zum Niedergang verurteilt, während andernorts der Zauber neu aufblitzt.

Christian Erdmanns Debütroman ist ein kluges und feinfühliges Buch über die Zerbrechlichkeit der Liebe. „Ich wollte etwas Wunderbares festhalten, was ich in ähnlicher Form selbst erfahren habe“, sagt Christian Erdmann, der wie sein Protagonist Philosophie studiert hat. Er nennt sich Westentaschen-Flaubert – in Verbundenheit mit dem Literaten, der ständig auf der Suche nach dem „mot juste“, dem einen passenden Wort war. Das ist Christian Erdmann auch. Seine Sprache ist mit Bedeutung aufgeladen, wirkt anfangs sperrig, entfaltet aber schnell eine Sogwirkung und wird zum Genuss an sich. Auch für Vito von Eichborn ist dieses Werk „literarisch das Beste, was ich in den letzten Jahren gelesen habe“. Und ganz nebenbei wächst einem Aljoscha ans Herz.

In Kopf und Seele des Protagonisten spult sich ein Szenario aus Gedanken und Erinnerungen ab – melancholisch, romantisch, dann wieder rasant und aufwühlend. Es geht um Abschied, Verwandlung und Neubeginn. Zwischenmenschliche Beziehungen sind deshalb so schwierig, weil sich bestimmte Phänomene des Gefühlslebens der Kommunikation entziehen. […] Bleibt letztlich jeder mit seiner Sehnsucht und seinen Wünschen allein? Eine Frage, die viele Menschen in der Moderne oder Postmoderne beschäftigt. „Die Welt ist nicht entzaubert“, sagt Erdmann. „Hinter den Fassaden des Auf- und Abgeklärten begegnen der Vernunft noch Ungeheuer und Zauberwesen. Der Zustand des Verliebtseins öffnet die Augen dafür. Und Liebe ist die höchste Form der Magie.“





BoD AKTUELL, Ausgabe 28, Sommer 2007 

Based on: Telefon-Interview mit Sylvia Gräber, Journalistin, Rundfunkreporterin und Moderatorin u.a. für NDR und WDR. 

Artikel von Sylvia Gräber über Christian Erdmann und seinen Roman "Aljoscha der Idiot".
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Aljoscha der Idiot

Ganz ganz große Literatur

Inforadio rbb (Rundfunk Berlin-Brandenburg), „Quergelesen“, Mitschnitt der Sendung vom 27.05.2007

Vito von Eichborn im Gespräch mit Harald Asel


„Eichborn, Jahrgang 1943, war Lektor bei S. Fischer, gründete 1980 den Eichborn Verlag mit einem Programm von Spontisprüchen und Walter Moers bis hin zur Anderen Bibliothek. Er hat für Senator Entertainment den schwächelnden Europa Verlag aufgebaut und ist seit 2006 Herausgeber der Reihe Edition BoD im Verlag ‚Books on Demand‘. Den umtriebigen Buchmacher mit Lust auf Risiko traf ich auf der Leipziger Buchmesse.“


Vito von Eichborn über „Aljoscha der Idiot“ von Christian Erdmann auf der Leipziger Buchmesse 2007 (ab 14:30):

Transkript:

(ab 16:05)

„Etwas bleibt – wissen Sie das im Vorfeld schon?“

„Nein! Alle Zeitgenossen haben sich immer geirrt. Die Zeitgenossen hielten Gutzkow für bedeutender als Goethe. Ich maße mir nicht an, irgendwelche Ewigkeitswerte auch nur ansatzweise beurteilen zu können. Ich kann nichts anderes tun als ein gutes Handwerk zu liefern und zu hoffen, daß was Bleibendes dabei war. Das Meiste verschwindet; in dieser Zeit jetzt ohnehin, in der Beschleunigungszeit. Welches der Bücher oder der Autoren bleibt, für die ich verantwortlich war – es wäre vermessen, darüber auch nur nachzudenken. Aber alle Erfahrung sagt, irgendwas wird schon bleiben. Ich habe Spuren hinterlassen – welche es sind, weiß ich nicht. Das müssen die Späteren beurteilen.“

„Wie ist das jetzt mit Ihrer neuen Herausgeber-Tätigkeit hier bei Books on Demand, mit dieser Edition? Auch da ist es ja so, durch die neuen technologischen Entwicklungen ist es möglich, von der Auflage 1 bis zur Auflage 1.000.000 alles zu liefern, was der Markt braucht. Gleichzeitig ist das große Problem, wie kommen eigentlich die Themen wiederum an die Leser? Wie erfahren die davon? Und da gibt es ja nun bei vielen die Befürchtung, egal ob ich jetzt eine Auflage drucke, die feststeht, oder ob ich sage, ich setze das ins Internet und warte, bis irgend jemand auf die Idee kommt, das Buch möchte ich gerne haben, und drucke es dann – die Wahrnehmungsschwelle wird immer höher. Was machen Sie da? Was ist da Ihre Idee?“

„Naja, zunächst mal bleiben wir auf dem Teppich. Ich wähle aus den Büchern aus, die die Autoren selbst bei BoD veröffentlicht haben, und sage zu jedem dieser Bücher: dies ist ein Buch, das es verdient hat, in einer Buchhandlung geführt zu werden. Oder: dies ist ein Buch, das genausogut in einem herkömmlichen, traditionellen, etablierten Verlag hätte erscheinen können. Das behaupte ich von jedem dieser Bücher, und danach wähle ich aus. Das ist noch nicht die Frage nach Größe. Sondern zunächst mal ein gewisses Maß an Professionalität dieser Autoren, so daß ich es für handelsverträglich halte.

Und dann gibt es so einen Fall wie dieses neue Buch jetzt, ‚Aljoscha der Idiot‘ – das ist ganz große, ganz ganz große Literatur. Und es ist anspruchsvoll. Und es ist zu anspruchsvoll für den Markt. Je intelligenter ein Buch, um so weniger Leser gibt es dafür. Das ist so intelligent, daß die herkömmlichen Verlage es ablehnen, und sie lehnen ein Juwel ab.“

(ab 22:20)

„Dann gibt es jemanden, der philosophiert, wunderbar. Bis zu jetzt meinem neuen Liebling im Moment gerade, Aljoscha, ‚Aljoscha der Idiot‘ – bitte unbedingt lesen, allesamt! ‚Aljoscha der Idiot‘ ist ganz große, ganz ganz große Literatur. Sie ist nicht leicht, ich warne, man muß sich ein bißchen Mühe geben. Aber dann ist es ein traumhaft gutes Buch.“

Mitschnitt der Sendung „Quergelesen“ vom 27.05.2007 auf Inforadio rbb, Vito von Eichborn über „Aljoscha der Idiot“ von Christian Erdmann auf der Leipziger Buchmesse 2007: „Ganz ganz große Literatur“.
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Aljoscha der Idiot

Polyphonie von Wirklichkeitsebenen

Rezension #6

Marlies Eifert über „Aljoscha der Idiot“ von Christian Erdmann

erschienen in: Literatur-Feder Magazin, Ausgabe 5, Juni 2007


Neueste Studien enthüllen, wie Frauen auf Liebeskonkurrenz reagieren: mit Rache und Vergeltung. Für Leda, die Freundin des Protagonisten Aljoscha Tuschkin, gilt dies keineswegs. Sie erklärt ihrem Geliebten ihre unverminderte Liebe, auch als der von einer Begegnung im Vorlesungsraum erzählt, die ihn stark beeindruckt habe. Diese Begegnung, das ist für den Leser und auch für Leda zu spüren, wird sein Leben von Grund auf verändern.

Ebenso wie Fürst Myschkin (1) wird „Aljoscha der Idiot“ einerseits als Lichtgestalt, andererseits als Unheilsträger bezeichnet, und es ist bis zu den letzten Seiten des Romans nicht sicher, ob er nicht ebenso die andere, ob er nicht auch „SIE“, wie sie im Roman genannt wird, ins Unglück stürzen wird…

Aljoscha Tuschkin ist Student. Und als solcher sammelt er Wissen ein. Über Kant z.B. oder Wittgenstein, Kierkegaard. (2) In der Metro liest er Hegel. Vorlesungen über Rembrandt, Poussin, Dürer werden erwähnt, Theologie-Vorlesungen. Der Student verschafft sich Kenntnisse über Legenden, über antike Mythen, Belletristik. – Die russische Literatur spielt eine Rolle, aber auch Sartre, Simone de Beauvoir. Nicht zu vergessen die Musik: Sacre du Printemps, aber auch Nick Cave. Eine vollständige Aufzählung ist hier nicht angestrebt.

Nun muss man sich nicht vorstellen, dass dieses Wissen schulmäßig an den Leser weitergegeben wird – etwa so, wie das ein Professor tut, der das Rednerpult verlässt, im Vorlesungsraum spazieren geht und „ex cathedra“ über Dinge berichtet, die eigentlich mit dem Thema, der Handlung, wenig zu tun haben.

Vielmehr: Das Wissen dient dem, worum es in der „Handlung“ geht, als Deutung, als Interpretation, als Metapher.

Aljoscha – wie gesagt – hört eine Vorlesung über Poussin. Dies ist keineswegs zufällig. Bei Poussin spielt die Mythologie eine besondere Rolle. Echo und Narziss bilden im Roman eine Metapher für die Beziehung zwischen Aljoscha und der Frau, der er in der Vorlesung immer wieder begegnet. Für sie gibt es viele Namen: Maria Magdalena, Katharina oder wie sie am häufigsten genannt wird: Katzenmenschenfrau.

Auch die Metamorphosen des Apuleius werden in der Vorlesung genannt. Aljoscha identifiziert sich mit dem „eseligen“ Lucius (3), dem die Göttin Isis erscheint.

Die Mythologie dient ganz offensichtlich zur Umschreibung der Faszination, die von der Frau ausgeht.

Alles in allem hat man den Eindruck, das Wissen wird in einen Becher gegeben, durcheinander gewürfelt und neu figuriert. Vieles hat eine Bedeutung innerhalb der Handlung, die sich für den Leser erst erschließen lassen muss. So erinnert der Titel des Romans an Dostojewskis Roman „Der Idiot“ oder der Name Aljoscha an eine Figur aus „Die Brüder Karamasow“.

Was ist Wirklichkeit, was die „eigentliche“ Wirklichkeit?

Da ist ein Student, der seit 10 Jahren „liiert“ ist mit Leda, einer Textilrestauratorin. Es ist mehr als eine Liaison: Aljoscha und Leda glauben an das Unbedingte der Liebe. Es gibt nur eine Welt, in der beide zu Hause sind. Dann trifft Aljoscha auf Katharina. Es geschieht wenig, denn erst nach 152 Seiten kommt es zum Blickkontakt, nach 262 Seiten lässt sich so etwas wie ein Gespräch erkennen. Obwohl „eigentlich“ nichts geschieht, entfernt sich Aljoscha von Leda, lässt in Gedanken und Gefühlen immer mehr von Katharina zu. Leda bezieht eine Wohnung, die Aljoscha restauriert, Aljoscha findet eine Wohnung ganz in der Nähe von Katharina.

So könnte man die Tatsachen umschreiben.

Aber wie sagt der Autor: „Erkenntnis ist kein Abbild von Tatsachen“. „Dieselbe Menge von Sinnesdaten kann auf verschiedenste Weise wahrgenommen werden.“

So würde die Beziehung, die sich zwischen Aljoscha und Katharina innerhalb von neun Monaten aufbaut, von außen kaum wahrgenommen werden können.

Nichts anderes geschieht, als dass Aljoscha und Katharina in verschiedenen Vorlesungen eine bestimmte Sitzordnung einnehmen. Für sich genommen bedeutet diese Tatsache wenig. Jedoch für Aljoscha und auch für Katharina – wie sich später herausstellen sollte – viel. So viel, dass darüber eine Beziehung mit Anspruch auf „Ewigkeit“ aufgegeben wurde. Der Ritus dieser Sitzordnung stellt einen Code dar, der außerhalb der Kommunikationsform „Sprache“ zu finden ist.

Das Sitzordnungsmotiv und das Katzen-Ritus-Motiv, beides durchzieht den ganzen Roman. Angefangen von „Cat People“ von Bowie bis zu Bastet, der ägyptischen Katzengöttin.

Katzen leben und lieben Riten, gleich ob es sich dabei um einen Panther handelt, um die Sphinx oder um die schwarz gekleidete Katharina mit spitzen Eckzähnen.

Man muss den Roman zweimal lesen – zum mindesten, um zu erkennen, wie viel Anfang im Verlauf der Handlung und im Ende enthalten ist. Motive aus dem Film „Katzenmenschen“, in dem Aljoscha IHR oder einer Vorstufe von IHR – wenn man so will – zum ersten Mal begegnet, durchziehen den Roman: Raubtier, Einsamkeit, hohe Absätze, das schwere und süße Parfum.

„Wehe dem, der Symbole sieht“ sagt der Erzähler. Aber: Nur Leser, die Symbole „sehen“ können, werden sich in die Handlung hineindenken können. Nur wenn sie Freude an Andeutungen, Umdeutungen, Beziehungsgeflechten, Metaphern, kurz an einer Polyphonie von Wirklichkeitsebenen haben und sich außerdem durch lange Sätze, die sich gelegentlich über mehrere Seiten hin erstrecken, nicht irritieren lassen, werden einen Zugang zur Welt Aljoschas haben.

Puschkin, Tuschkin, Myschkin – natürlich handelt es sich nicht um einen zufälligen Gleichklang! Zwischen Dostojewskis „Der Idiot“ und Christian Erdmanns „Aljoscha der Idiot“ bestehen, wie gesagt, Zusammenhänge.

Während Dostojewski eine Rede halten konnte im Gedenken an Puschkin, kann die Rezensentin lediglich hoffen, dass viele Leser ein Wahrnehmungsorgan, ein Auge haben werden für den Roman über Aljoscha den Idioten, oder wie man gewiss auch sagen kann: für diesen neuen Stern am Himmel der Literatur der Gegenwart.

_____

(1) aus Dostojewski: Der Idiot 

(2) Speziell die Kierkegaard-Lektüre war für den Verfasser offensichtlich bedeutsam. Zwar wird das „Tagebuch eines Verführers“ nicht genannt, aber Kierkegaard-Kenner dürften in Handlungsteilen das ein – oder andere in verwandelter Form wiedererkennen.

(3) Eine Gestalt aus Apuleius: Metamorphosen 

(c) 2007 by Marlies Eifert 

Christian Erdmann, Aljoscha der Idiot, Rezension "Polyphonie von Wirklichkeitsebenen" von Marlies Eifert.
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Aljoscha der Idiot

Cover 2

Christian Erdmann, Aljoscha der Idiot, Cover der BoD-Edition, herausgegeben von Vito von Eichborn.

Cover der Neuausgabe von „Aljoscha der Idiot“ in der Edition BoD

Herausgeber: Vito von Eichborn

Februar 2007

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Aljoscha der Idiot

Königliches Metaphernfeuerwerk

Rezension #5

04. Oktober 2006 

Königliches Metaphernfeuerwerk 

Von Autor

Der plot ist nichts, was ein Autor daraus macht, ist alles. Wenn dieser Allgemeinplatz eines Belegs mehr bedürfte, Christian Erdmann lieferte ihn. 

Aljoscha, hypersensibler Student an einer Universität, ist mit Leda mehr oder weniger verbandelt, als ihm im UniMax ein rätselhaftes weibliches Wesen auffällt, das zum Objekt seiner, nein, nicht Begierde, sondern seiner Sehnsucht wird.

Pjotr, sein der Bildenden Kunst verpflichteter Freund, arbeitet an Skulpturen von sieben Köpfen, die am Ende des Romans im Brennofen gehärtet werden. So weit, so vertraut. Eine Liebesgeschichte im Studentenmilieu, doch was der Autor daraus macht, nötigt Respekt ab.

Von der ersten Seite an leistet der Roman dem Leser Widerstand, verwirrt ihn mit seiner zuerst tradiert und maniriert erscheinenden Sprache, bis er in deren Sog gerät, dem er sich kaum noch zu entziehen vermag.

Bilder bestechender Schönheit. Einfühlsame Blicke in das Seelenleben eines hypersensiblen jungen Mannes, der denkt und agiert als hätte ihn ein böser Geist aus dem Paris der Belle Epoque herausgerissen und im russisch eingefärbten Hamburg abgesetzt, wo es sogar einen Damtorskbahnhof gibt.

Als wäre das noch nicht genug für einen hochintelligenten, teils naturalistischen, teils surrealistischen und phantastisch-realistischen pikaresken Roman, erzählt Erdmann mit einer Fülle von Metonymien und Metalepsen, bricht vertraute Metaphern auf und steigert sie oft ins Absurde, nimmt die Aussage des ersten Halbsatzes im zweiten zurück. Das gelingt zwar durchaus nicht immer (hier wünscht man sich einen sensiblen Lektor), doch einem solchen Kunstwerk verziehe der Leser noch mehr kleine Ungeschicklichkeiten. Die Fülle von Hinweisen, Verweisen und Zitaten entschädigt mehr als genug. Von Majakowskij bis Puschkin, von Adorno bis Wittgenstein sowie Lyrics von David Bowie bis Julian Cope nutzt Erdmann für seinen Palimpsest, was ihm gerade in den Zusammenhang paßt, und erzielt damit weitere Irritationen, die sich wohl nur Lesern mit erheblicher kultureller Vorerfahrung erschließen werden.

Dieser Autor verweigert sich dem Zeitgeschmack konsequent. Gerade das läßt diesen Roman höchst singulär erscheinen. Für mich seit Monaten der interessanteste Roman: so hätte Salvador Dali vielleicht geschrieben, wenn er nicht lieber gemalt hätte.

Christian Erdmann, Amazon-Rezension für den Roman "Aljoscha der Idiot", betitelt "Königliches Metaphernfeuerwerk".

Königliches Metaphernfeuerwerk @amazon

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Aljoscha der Idiot

Faust schlagen

SPIEGEL ONLINE Forum

„Liebe – nicht nur ein Wort“

08.09.2006 



Stefan Möhler:

C.E. steht für Christian Erdmann, den ich gerade lese und der voll ist mit sinnreichen Zitaten. O.K., den Faust I wird er nicht schlagen, aber er ist nah dran. Allerdings muß ich warnend anmerken, dass ich ein ausgesprochenes Faible für Dada, Ex- und Impressionismus habe. 




Kritischer Leser:

Klar, das „Label“ „CE“ kann zwar auch für Produkte stehen, die der EU-Norm entsprechen (was auch immer das sei), aber eben auch für den Autoren von „Aljoscha der Idiot“. Tolles Buch! Entspricht’s der EU-Norm? Ich fürchte nicht. Dafür ist’s einfach zu gut.






09.09.2006

Stefan Möhler:

Ich für meinen Teil lese das Buch mit Hochgenuß. Endlich einmal ein Werk, das das eigene Denken nicht ausschaltet, sondern geradezu antreibt!

Christian Erdmann, Aljoscha der Idiot, Besprechung im SPIEGEL Online-Forum.
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Aljoscha der Idiot

Unbedingt lesenswert

Rezension #4

23. August 2006  

Unbedingt lesenswert 

Von Katshke

Ich hab erst angefangen und ungefähr ein Viertel des Buches gelesen, aber dessen Sprache ist so unglaublich, als hätte einer wiederentdeckt, dass alles, wirklich alles gesagt werden kann, jede kleine Einzelheit, Gedankensplitter.

Ganz kostbare Worte, Ideen, die wir uns in der Regel verbieten, wenn sie uns nicht zwischen Schlaf und Erwachen überfallen, Stimmungen, die nur leise anklingen, alles. 

Und das auch noch behutsam, so dass ich den Sog erst gar nicht spürte, der mich nun in diese Geschichte hineinzieht, dass es fast schmerzt.

Selbst wenn das Buch schlechter wird auf den anderen Seiten, was ich aber nicht glaube, lohnt es sich für mich wegen der ersten Seiten. 

Unglaublich, dass es so etwas noch gibt. Fast jeder Satz ist schon für sich genommen ein Kunstwerk.

Unbedingt lesenswert @amazon

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Aljoscha der Idiot

Durchgeknallt / Dichtkunst

SPIEGEL ONLINE Forum

Literatur – Was lohnt es noch, zu lesen?

27.08.2006

Leserin:

Nehmen wir mal an, wir diskutierten hier wirklich, was Kunst ist. Mein Mann hat gerade eben den Schreiber von „Aljoscha der Idiot“ zum Durchgeknallten erklärt und das wenige an Text, was er bei Amazon davon las, für die Ausgeburt eines kranken Hirns. Ich dagegen halte dieses Buch für Dichtkunst.

Monika Cate:

Ich auch! Kunst deshalb, für mich, weil er mit seinen Worten mir neue Räume erschloss, ich mich darin dann aber sofort heimisch fühlte, weil ich unvermutet auf Bekanntes, jedoch vorher Unsichtbares, traf.

Christian Erdmann, Aljoscha der Idiot, SPIEGEL Online Forum Literatur: Durchgeknallt / Dichtkunst.
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Aljoscha der Idiot

Ein schöner Rausch

SPIEGEL ONLINE Forum

Literatur – Was lohnt es noch, zu lesen?

11.08.2006

Zermelo: 

Was zu lesen lohnt? Auf jeden Fall das hier.

Christian Erdmann: Aljoscha der Idiot

arte de la comedia:

Erstaunlich.

Erstaunlich aus mehreren Gründen:
a) wird hier üblicherweise „mainstream“ empfohlen, und das ist C. Erdmann LEIDER (was die Verkaufszahlen angeht) oder GOTTSEIDANK (nicht, dass der irgendwann son Easy-BlaBla abliefert) noch nicht.

b) Ich les‘ ja üblicherweise keine Jungautoren: ich hab‘ da immer die Befürchtung, das könnte Oberstufenlyrik sein. Wer DAS erwartet, wird leider enttäuscht.

c) Ich kann’s – eigentlich – gar nicht leiden, wenn ich durch das Lesen eines Buches (und sei es auch nur für einen kurzen Zeitraum) meinen „Blick auf die Welt“ ändere. Das hat sowas Drogen-artiges.

Aber egal.. das war jedenfalls ein schöner Rausch.

Doch.. doch.. ich bleib‘ dabei: hat mir gefallen.

Christian Erdmann, Aljoscha der Idiot, Rezension im SPIEGEL Online Forum: "Ein schöner Rausch".
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Aljoscha der Idiot

Keine konventionelle Erzählweise

SPIEGEL ONLINE Forum

Literatur – Was lohnt es noch, zu lesen?

25.07.2006

Kritischer Leser:

Daher zurück zum Thema mit einem Literaturtip*p*: Christian Erdmann, „Aljoscha der Idiot“. Bin zwar noch nicht weit gekommen in dem Buch, aber das Wenige, was ich gelesen habe, gefällt mir sehr.

Und in schönster und bester alter Rechtschreibung gesetzt. :)

SPIEGEL ONLINE FORUM

Das literarische Orchester – spielen Sie mit!

11.08.2006

Zermelo:

Ich habe hier mal ein bißchen gestöbert und hab dabei Aljoschas Buch entdeckt. Vielleicht keine ganz einfache Lektüre, aber ich denke, die werde ich mir mal vornehmen. Scheint etwas für Herz, Seele und Verstand zu sein. Was will man denn mehr?

Christian Erdmann: Aljoscha der Idiot

Stefan Möhler:

Hab grad mal bei amazon nachgeschlagen. Ist ja sogar erschwinglich und die Kundenbewertung dort ist beeindruckend.

24.08.2006

Markus Pettering:

Zu Recht.

Ich bin etwas über die Hälfte hinaus mit der Lektüre (173 von 301 Seiten).

Der Roman ist sprachlich sehr originell, so, wie wir den Autor vom Forum her kennen.

An äußerer Handlung ist wenig bis nichts vorhanden; auktorial erzählt, aber da alles in der Seele des Protagonisten Aljoscha stattfindet, ließe sich auch von personaler Erzählweise sprechen.

Personencharakterisierung entsteht, wenn überhaupt, dann nur aus der Wahrnehmung Aljoschas.

Auch die äußere Welt bleibt vage. Aljoscha ist irgendwie Student der Philosophie und Kunstgeschichte in (?) St Petersburg und malt selber. Woher sein Geld kommt (er unternimmt weite Reisen; er hat Telefon, Walkman und so, wie ein deutscher Student), erfährt man nicht. Ein paar Andeutungen weisen auf die Jetztzeit hin, und es wird viel Metro gefahren.

Das alles bleibt im Nebel gegenüber der Nachzeichnung seiner menschlichen Beziehungen bzw der Entwicklung einer traumhaften, verhängnisvollen (?) Liebe zu der sog „Katzenfrau“ (während er zugleich mit seiner ersten Liebe, der gebildeten und praktischen Leda, liiert ist, von der er sich aber allmählich, äußerlich kaum wahrnehmbar, entfremdet). Die Katzenfrau — SIE tritt immer dienstags in seiner kunstgeschichtlichen Vorlesung in Erscheinung und scheint einem schwarzweißen Schreckens-Film von 1942 entstiegen, einem am Anfang des Romans wiedergegebenen einsamen nächtlichen Fernseherlebnis Aljoschas — wird von ferne durch Aljoscha angebetet (ähnlich Beatrice durch Dante, dem u.a. eine Reise nach Florenz gilt); bis auf S. 168 hat er SIE nie einmal anzusprechen gewagt, obwohl er sich schon ein Jahr lang nach ihrem Anblick dienstags verzehrt. Das alles treibt ihn an den Rand des Wahnsinns, was u.a. durch ein kakophones Wechselgespräch zwischen den Figuren des Tarotspiels nachgezeichnet wird, das sich anscheinend in seinem Kopf abspielt.

Der Text ist aber nicht ohne Spannung. Der Leser fragt sich, ob es endlich einmal zu einem Kontakt zwischen dem Protagonisten und IHR kommen wird (niemand erfährt bis auf S. 173 auch nur IHREN Namen, SIE wird stets nur mit einem Personalpronomen in Majuskeln apostrophiert).

Es gibt viel Bezugnahme auf dichterische, philosophische und psychologische Texte (manchmal könnte das Namedropping etwas reduziert werden; aber manches davon ist auch wieder sehr witzig), ferner werden immer wieder in fetten Majuskeln heutige Lyrics eingeworfen (die hört Aljoscha in seinem Walkman).

Jedenfalls keine konventionelle Erzählweise. — Eine interessante neue Stimme.

Christian Erdmann, Aljoscha der Idiot, Keine konventionelle Erzählweise.
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Aljoscha der Idiot

Ein Gemälde aus Worten oder Eine Reise in die Mitte der Wirklichkeit

Rezension #3

29. Juni 2006

Ein Gemälde aus Worten oder Eine Reise in die Mitte der Wirklichkeit

Von Monika Cate

„Aljoscha der Idiot“ von Christian Erdmann möchte ich nach einmaligem Lesen nicht im Regal verschwinden lassen. Ich freue mich schon auf das zweite Mal. Die beschriebenen Ebenen und Verzweigungen des Seins und Werdens konnte ich beim ersten Lesen gedanklich und gefühlsmässig gut verfolgen und auf mein Tagesbewusstsein erweiternd einwirken lassen, doch möchte ich den vielen Verzweigungen mehr in der Tiefe gerecht werden, nein, sie beim zweiten Mal mehr auskosten.

Das Lesen schien mir eine Reise in die Mitte der Wirklichkeit zu sein, auch wenn es dem Leser vielleicht nicht bewusst ist. Das Licht, das der Autor auf seine ganz eigenen Formen scheint, entspricht in der „mechanischen“ Anwendung einem immer stattfindenden Prozess und drückt sich für jeden in anderen, individuellen Formen aus. Wie er das macht, ist wunderbar. Beim Lesen entstand meine eigene Parallelwelt und führte mich in meine eigene Vergangenheit, und von da in eine veränderte Gegenwart, ein Prozess, der von ihm auch so beschrieben ist.

Einmaliges Lesen reicht auch deshalb nicht, weil soviel angesprochen wird, das doch schnell wieder verblassen kann, auch weil die Entwicklung des zentralen Themas einfach zu sehr fasziniert. Ich liess den Lesezug schneller fahren und konnte so die Landschaft nicht genügend betrachten. Am Anfang markierte ich noch einzelne Aussichten, die mich besonders anregten. Auch das möchte ich beim erneuten Lesen vertiefen. Eigentlich stecken mindestens 3 Bücher in diesem einen, so dicht ist die Sprache.

Sehr schön und hilfreich für den Aufbau der verschiedenen Ebenen sind der Einsatz von englischen Songtexten, von fett Gedrucktem, kursiv Gesetztem, gross Geschriebenem. Referenzen zu Malern, Dichtern und Philosophen überzeugen mich nicht so sehr, setzen sie doch voraus, dass der Leser mit diesen vertraut ist, um der Erwähnung die ihr zustehende Bedeutung zu geben und damit diese besondere Qualität im Erzählfluss zu verankern. Doch möchte ich betonen, dass bei vorhandener Vertrautheit die Referenzen ihren Zweck erfüllen und jeweils noch eine weitere Bedeutungsebene in die Leinwand weben.

Besonders hervorheben möchte ich das Ende. Fast atemlos kam ich dort an und wurde zum Verweilen gezwungen zwischen zwei Schritten, und wie hab ich das Verweilen genossen! Es war ein magischer Augenblick. Das sich entwickelnde neue Selbstverständnis des Protagonisten sichtbar werden zu lassen in dieser Form, der Moment des Innehaltens vor dem unwiderruflichen Schritt, sich selbst in diesem Augenblick eher passiv dem Unvermeidlichen, wie auch immer es sich entfalten mag, hinzugeben, das hat Christian Erdmann wunderbar beschrieben. Alles Vorhergegangene weist auf diesen Moment hin und darüber hinaus und von dort auch wieder auf den Anfang.

Werden wir am Ende immer mehr mit unserem wahren Selbst verheiratet sein?

Das steht als Frage vor mir, am Ende einer Lesereise, die mir sehr viel bedeutet.

Christian Erdmann, Aljoscha der Idiot, Rezension #3: Ein Gemälde aus Worten oder Eine Reise in die Mitte der Wirklichkeit.

Ein Gemälde aus Worten oder Eine Reise in die Mitte der Wirklichkeit @amazon

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Aljoscha der Idiot

Respekt!

Rezension #2

25. November 2005

Respekt!

Von Ein Kunde

Also erst mal vorne weg: großes Kompliment an Herrn Erdmann!

Wer die Deutsche Sprache liebt, wird auch dieses Buch lieben, wer das Außergewöhnliche liebt, erst recht. Und eins ist gewiß, ein Idiot ist der Autor bestimmt nicht.

Die Faszination dieses Buches liegt eindeutig in der Sprache, der Autor versteht es nach allen Regeln der Kunst, diese zu gebrauchen und immer wieder aufs neue auf das Herrlichste einzusetzen, Langeweile kommt garantiert nicht auf.

Die Handlung, durchaus alltäglich? tragisch? oder vielleicht sogar romantisch? Nein, wohl eher nicht, aber außergewöhnlich und faszinierend. Sicherlich kein Buch für Liebhaber der seichten Kost a la Pilcher, für Kenner der großen Namen und Klassiker jedoch ein Muß.

Großartiges Buch, großartiger Wissensstand des Autors, doch leider bislang sein einziges Werk.

Christian Erdmann, Aljoscha der Idiot, Rezension #2: Respekt!

(Rezension auf amazon wurde später gelöscht)

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Aljoscha der Idiot

Love never dies

Rezension #1

13. Februar 2005

Love never dies

Von mary smith

Christian Erdmanns wunderschöner Roman erzählt die Geschichte des Philosophiestudenten Aljoscha Tuschkin, der das bittersüße Ende seiner Jugendliebe und den geheimnisvollen Anfang einer außergewöhnlichen, großen Liebe erlebt.

Der Autor schreibt in einem atemberaubenden, wunderbar altmodischen Sprachstil und führt den Leser mit unglaublicher Gewandtheit, erstaunlich weit gefaßtem Wissen und äußerst feinem Humor durch die tiefe, empfindungsreiche, philosophisch geprägte und doch postmoderne Gedanken- und Gefühlswelt des Protagonisten.

Man kann und will sich den erzählerisch erzeugten Stimmungen, den beschriebenen Umgebungen und Personen und vor allem der Seele dieses „Idioten“ kaum entziehen.

Ich werde wohl nie mehr den Hörsaal einer Universität betreten ohne mich an „Aljoscha“ zu erinnern und ich werde nie wieder Kunstgeschichte-Studentinnen sehen können ohne in unkontrolliertes, wenngleich liebevolles Lachen auszubrechen.

Eine Hommage an die Liebe, die Philosophie, die Musik und die Kunst – daher unbedingt lesenswert für alle, die noch nicht aufgehört haben oder wieder anfangen wollen zu denken und zu fühlen.

Christian Erdmann, Aljoscha der Idiot, Rezension #1: Love never dies.

Love never dies @amazon

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Aljoscha der Idiot

Historie

Eichborn Calling: Richtig gut und richtig unverkäuflich

Vito von Eichborn schrieb am 3. Mai 2007 um 22:23 Uhr:


Bis vor kurzem habe ich geglaubt: verkannte Dichter gibt’s nicht mehr in unseren inhaltshungrigen Zeiten.

Bis ich bei BoD auf ein tolles Buch stieß. (Dies soll jetzt nicht als Werbung mißverstanden werden – und vorsichtig: es ist nicht leicht zu lesen.) Erdmann „Aljoscha der Idiot“ – das ist ganz große Literatur von einem so klugen wie bescheidenen Autor.

Und jeder normale Verlagslektor lehnt das ab mit dem fürchterlichen Argument: „Das ist richtig gut – und richtig unverkäuflich.“




(Vito von Eichborn, Verleger, @ literaturcafe.de – Die wichtigsten Tipps eines Verlagslektors / Comments)

Vito von Eichborn über "Aljoscha der Idiot" von Christian Erdmann: "Richtig gut und richtig unverkäuflich".

Buch des Monats

Buch des Monats    BoD News 02/2007 

Aljoscha ist Philosophiestudent und eigentlich mit der sanften Leda liiert. Doch eines Tages begegnet er im Hörsaal einer Frau, deren Gang allein ihn hypnotisiert, „weil er schon am Klang der Absätze gehört hatte, dass diese Schritte ihm galten“. Die stumme Liebe zu der unbekannten Schönen wird für Aljoscha zur wahren Obsession. Während äußerlich scheinbar nichts geschieht, verändert sich alles, es entspinnt sich ein komplexes Geflecht aus Realität und Fiktion und bestimmt Aljoschas Sein. Auch Leda bleibt das natürlich nicht verborgen, und doch gibt Aljoscha sich alle Mühe, sie zu lieben …

Christian Erdmann hat selbst Philosophie studiert und führt mit außergewöhnlicher Sprachkraft und atemberaubender Gewandtheit durch die tief empfundene Gedanken- und Gefühlswelt des Protagonisten. „Aljoscha der Idiot“ ist eine Geschichte über das eigentlich Unsagbare. Eine Geschichte voller Anspielungen und Rätsel, ein Mosaik des Fühlens und Träumens, jenseits von Vernunft und Verstand. Eine Geschichte, über die Vito von Eichborn sagt, sie sei „literarisch das Beste, was ich in den letzten Jahren gelesen habe“. 

"Aljoscha der Idiot" von Christian Erdmann ist Buch des Monats bei Books on Demand.

Wo die Zukunft hingeht

„Literatur, zumal wenn sie anspruchsvoll ist, war ja immer in einer Nische. Und dass so etwas Literarisches wie ‚Aljoscha der Idiot‘ bei BoD lieferbar ist – das kommt im Februar in meiner Edition -, das zeigt, wo die Zukunft hingeht…“

Interview mit Vito von Eichborn, BoD AKTUELL 26

Christian Erdmann, Aljoscha der Idiot, Interview mit Vito von Eichborn in BoD AKTUELL.

Ein literarischer Diamant

Christian Erdmann, Aljoscha der Idiot, Ankündigung der Neu-Edition, Booklet für den Buchhandel, Text Vito von Eichborn.

„Aljoscha ist Student der Philosophie. Während er mit der liebevollen Leda liiert ist, werden stumme Verabredungen mit einer unbekannten Schönen zur Obsession. Die Wirklichkeit scheint voller verborgener Muster. Aljoscha versucht, die Zeichen zu entschlüsseln…“

Ankündigung der Neu-Edition

Booklet für den Buchhandel, Januar 2007

Text Vito von Eichborn (Herausgeber der Edition BoD)


Leipziger Buchmesse

Christian Erdmann, Aljoscha der Idiot, Präsentation des Romans auf der Leipziger Buchmesse.

Präsentation von „Aljoscha der Idiot“ auf der Leipziger Buchmesse, März 2005


Kurzvorstellung des Romans im Messe-Sonderteil von BoD AKTUELL 19
Frühling 2005

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Aljoscha der Idiot

Wovon handelt der Roman?

Davon, wie alles sich verändert, obwohl scheinbar nichts geschieht. 

Die Welt ist alles, was der Fall ist, sagte Wittgenstein. Die Welt ist nichts, was der Normalfall ist, davon handelt dieser Roman. Er beschreibt jenen quasi-pathologischen Zustand, den die Wissenschaft unter dem Fachbegriff „Begegnung mit einer Frau“ kennt.

Wer ist diese Frau? Was hat sie mit einem Horrorfilm aus dem Jahre 1942 zu tun? Was weiß sie über den Studenten Aljoscha? Und warum geschieht nichts, außer daß Aljoscha ihr wieder und wieder begegnet, als wären es geheime Verabredungen?

Warum scheint SIE alles über den Sinn dieser Begegnungen zu wissen und er nicht? Manipuliert SIE den Ablauf der linearen Zeit? Wie fühlt es sich an in der Realität hinter der Realität, wo die Welt gar nicht entzaubert ist? Ist die Wirklichkeit in Wirklichkeit voller verborgener Muster? Von welcher Art ist dieser Blick, der die Vernunft in 1000 Stücke schlägt?

Warum ist SIE anders, unvorstellbar anders?

Was haben der alte Matthäus, Gott, Immanuel Kant, Hilfssheriff Iggy Pop, der Herzausreißer Nick Cave, ein Saufaus namens Aristophanes, die unentzifferbare Wahrheit des Schauerlichen, Isis, Iris, Orpheus, ein dunkles Geschlecht, Maria Magdalena, Caravaggios Messer, Dantes Begegnung mit Beatrice, die Dritte Sinfonie von Gustav Mahler, die Gedichte von Majakowski, ein säbelrasselnder Hauptmann, ein Satz von Rilke, der Wäscheberg von André Breton, die Metamorphosen des Ovid und die des Apuleius, Professor Pfropfnapf und seine aufregende Assistentin Marie-France, Rembrandt, Dürer und Poussin, die Zahl 7, der Fels, von dem es hieß, er würde niemals bröckeln, eine Blüte vom Grab der Kameliendame, ein Vers des Dichters Percy Shelley, die Marionette Petruschka, der Scheitel des Rowland S. Howard, sieben Köpfe aus Ton, Schillers Schreibtisch-Schublade, ein Opfermädchen aus „Le Sacre du Printemps“, Vaslav Nijinsky, menetekelnde Gelehrte und merkwürdige Kommilitonen in dieser Geschichte zu suchen? 

Ist Liebe die höchste Form der Magie? Warum sieht Leda im Traum, daß Aljoscha sie verläßt? Gibt es Katzenmenschen? Warum ist Aljoscha ein Idiot? Und was sagt eigentlich Aljoschas Freund Pjotr zu alldem? 

Fragen, auf die der Roman eine Antwort gibt. Manchmal auch mehrere Antworten.

Christian Erdmann, Aljoscha der Idiot, Wovon handelt der Roman?

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Aljoscha der Idiot

Stimmen zum Buch (1)

„Ein Roman über einen Mann zwischen zwei Frauen, über die Liebe in all ihren Facetten, in Traum und Wirklichkeit… ein sensibel und gefühlvoll erzählter, ungewöhnlicher Roman… Die Handlung wird aus der Perspektive eines personalen Erzählers vermittelt, der dem Leser Einblicke in die subjektiven Eindrücke, Erlebnisse, Gefühle und Träume des Protagonisten gewährt. Traum- und Gedankenwelt Aljoschas und die Realität wechseln sich ab, stehen nebeneinander und verschwimmen zum Teil. Daraus bezieht der Roman seinen besonderen Reiz. Der Autor bedient sich einer dichten, komplexen Sprache, mit der er seine Charaktere mit viel Gespür für psychologische Vorgänge sensibel und glaubhaft entwirft.“ 

(Verlagslektor I)





„Mich hat Ihr Text sehr beeindruckt; er ist sehr wortmächtig. Etwas manieriert erschienen mir die in den Text implantierten Früchte Ihres Philosophie-Studiums, die englischen Fragmente, die exotische Namenswahl und vielerlei Einzelausdrücke und Wendungen. Und auch die Einbettung der traumartigen Passagen hat mich nicht ganz überzeugt. Aber das ist nur meine persönliche Meinung, und fassen Sie diese Kritik vor allem als artikuliertes Interesse an Ihrer Schriftstellerei auf.“ 

(Verlagslektor II)





„Es ist positiv zu bewerten, dass Sie mit Ihrem Roman literarisch hohe Ansprüche verfolgen. Doch unserer Erfahrung nach lassen sich derart ambitionierte belletristische Debüts kaum noch auf dem Markt durchsetzen. Für uns ist dieser Versuch mit einem zu hohen Risiko verbunden.“ 

(Verlagslektor III)





„Die Frau von Stein findet meine Methode besser als die deinige.“ 

(Jakob Michael Reinhold Lenz an Johann Wolfgang von Goethe; Briefe von und an J. M. R. Lenz, Bd. II, Leipzig 1918, 31) 





„Indessen, trotz alledem, und obwohl man dieses und jenes und auch noch ein Drittes zugeben kann, und vielleicht sogar… Ja, wo gibt es denn keine Unsinnigkeiten? Was man gegen diese Geschichte auch einwenden mag – irgend etwas ist an ihr dran. Redet, was ihr wollt: solche Dinge kommen vor. Zwar selten. Aber sie kommen vor.“ 

(Nikolaj Gogol, Meistererzählungen, Zürich 1988, 446)





„… es handelt sich um Ereignisse, die ihrer Art nach bloß festgestellt werden können, aber sie haben jedesmal ganz das Aussehen eines Signals, ohne daß man genau sagen könnte, was für ein Signal es ist, sie lösen in voller Einsamkeit das Bewußtsein unwahrscheinlicher Mitwirkung aus…“ 

(André Breton, Nadja, Pfullingen 1960, 15)





„Das Rätsel ist folgendes: wie kann man ein Geheimnis haben, ohne es zu wissen? Die rätselhafte Lösung ist folgende: nur der andere weiß es, nur Gott weiß es, nur das Schicksal weiß es, das Geheimnis ist das, was euch ohne euer Wissen umgibt.“ 

(Jean Baudrillard, Die fatalen Strategien, München 1991, 165)





„Der Roman handelt vom Leben – stellt Leben dar. Oft enthält er Begebenheiten einer Maskerade – eine maskierte Begebenheit unter maskierten Personen. Man hebe die Masken – es sind bekannte Begebenheiten – bekannte Personen.“ 

(Novalis, Briefe und Werke III, Berlin 1943, 130)





„Und von den verschiedenen Lesarten, die eine Geschichte zuweilen hat, ziehe ich für meinen Gebrauch die ungewöhnlichste und merkwürdigste vor.“ 

(Michel de Montaigne, Essais, Zürich 1996, 153)





„Das Schicksal liebt es, Muster und Figuren zu erfinden. Seine Schwierigkeit beruht im Komplizierten.“ 

(Rainer Maria Rilke, Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, Leipzig 1938, 241)





„Von mir aus will ich noch bemerken, daß fast jede Wirklichkeit, wenn sie auch ihre unwiderleglichen Gesetze hat, unwahrscheinlich und unglaublich erscheint. Und je wirklicher sie ist, desto unwahrscheinlicher sieht sie mitunter aus.“ 

(Fjodor Dostojewskij, Der Idiot, München 1979, 495)





„So gesehen gibt es überall Verbindungen und Verführung: nichts ist isoliert, nichts geschieht zufällig – der Zusammenhang ist absolut. Das Problem bestünde eher darin, diesen totalen Zusammenhang der Ereignisse an bestimmten Punkten zu bremsen oder anzuhalten: den Taumel der Verführung und der Verkettung der Formen untereinander anhalten, das heißt diese magische Ordnung (andere werden sagen, diese magische Unordnung), die wir in Form von kettenartigen Sequenzen und (glücklichen oder unglücklichen) Koinzidenzen, in der Form des Schicksals und der unvermeidbaren Vereinigung, bei der sich die Ereignisse wie durch ein Wunder zusammenfügen, plötzlich wieder auftauchen sehen (…)“ 

(Jean Baudrillard, Die fatalen Strategien, München 1991, 184 ff.)





„Alle Leidenschaft ist eine Bezauberung. Ein reizendes Mädchen eine reellere Zauberin, als man glaubt.“

(Novalis, Briefe und Werke III, Berlin 1943, 179)





„Die Leidenschaft setzt alles zu sich selbst in Bezug.“ 

(Charles Baudelaire, Mein entblößtes Herz, Frankfurt am Main 1986, 16)





„Jetzt gehört es nicht nur zu meinen Gewohnheiten, sondern auch zu meinem Geschmacke – einem boshaften Geschmacke vielleicht? -, nichts mehr zu schreiben, womit nicht jede Art Mensch, die ‚Eile hat‘, zur Verzweiflung gebracht wird.“ 

(Friedrich Nietzsche, Morgenröte, Stuttgart 1991, 9)





„Als sein erstes Buch – Betrachtung – bei Wolff erschienen war, sagte er mir: ‚Elf Bücher wurden bei André abgesetzt. Zehn habe ich selbst gekauft. Ich möchte nur wissen, wer das elfte hat.‘ Dabei lächelte er vergnügt.“ 

(Max Brod, Über Franz Kafka, Frankfurt am Main 1974, 368)





„Mein Gott“, seufzte Des Esseintes, „wie wenig Bücher es doch gibt, die man zum zweitenmal lesen kann!“ 

(Joris Karl Huysmans, Gegen den Strich, Zürich 1981, 330)





„Wer zwei Paar Hosen hat, mache eins zu Geld und schaffe sich dieses Buch an.“ 

(Georg Christoph Lichtenberg, Pfennigs-Wahrheiten, München 1992, 39)





„Es gibt immateriellen Schrott und es gibt aurum sine materia. Wer nicht weiß, was das ist, der sollte dieses Buch erwerben und es lesen.“ 

(Bernhard H. F. Taureck, Professor der Philosophie, Universität Braunschweig) 





„Ich würde gerne meinen gesamten Vorrat an Vitaminkeksen hergeben, um rauszukriegen, was drinsteht!“

(Léo Malet, Das fünfte Verfahren, Reinbek bei Hamburg 1997, 135)

Christian Erdmann, Aljoscha der Idiot, Stimmen zum Buch (1).
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Aljoscha der Idiot

Cover 1

Christian Erdmann, "Aljoscha der Idiot", Cover der Originalausgabe mit Holzschnitt von Frans Masereel.

Cover der Erstausgabe von „Aljoscha der Idiot“, 
erschienen im Januar 2005

Holzschnitt von Frans Masereel (aus „Mein Stundenbuch“)

Reproduktionsgenehmigung der VG Bild-Kunst nach Zustimmung durch den Masereel-Nachlaß am 17.11.2003