Und jetzt hatte Aljoscha in seinem Universum ein Schwarzes Loch entdeckt, das Ledas Existenz und Bedeutung verschluckte. Hatte er eine eigene Welt? Vielleicht là-bas. Tief unten. „Wir werden sehen“, dachte Aljoscha, griff nach seiner Jacke und machte sich auf in die Stadt.
Der Rathausplatz rumorte wie ein antikes Amphitheater. Publikum brodelte erwartungsfroh der Abenddämmerung und dem Beginn der Aufführung entgegen. Aljoscha stand neben einem jungen Paar, dessen aufgeregtes Getue den Börsenkursen in der Zeitung galt, obwohl es eher blöden Urlaubsphotos, einem skandalösen Liebesbrief oder dem Striptease einer Horde Heinzelmännchen angemessen war. Das mußte man tolerieren, aber nicht direkt neben sich. Aljoscha wanderte weiter, kam zu einer Absperrung seitlich der Bühne, und fand, daß dieser lumpenproletarische Standpunkt Sicht genug bot. Auf den Tribünenplätzen ging es pomphaft und bourgeois zu, während der Plebs den Platz als das betrachtete, was er vor Erfindung der Bannmeile zu sein pflegte: als den seinen.
Aljoscha sah, was man von der Tribüne aus nicht sah: Tänzerinnen und Tänzer, die hinter der Bühne, im Dunkel vor dem kolossalen Rathaus, Drehungen und Sprünge probten, Bruchstücke des bevorstehenden Balletts, und die Bewegungen, die jeder Akteur dort ganz für sich ein letztes Mal probte, waren wie eine exklusive Ouvertüre. Aus tiefer Konzentration brachen plötzlich Tanzfiguren hervor; ebenso abrupt brach die Bewegung wieder ab. Vor dem gewaltigen, sinistren Bauwerk wirkten die fragilen Tänzerinnen wie bleiche Priesterinnen am Tor zu einer anderen Welt; die Tänzer erschienen wie Boten vor dem Turm von Babel. Ihre blitzartigen und doch geschmeidigen Tanzbewegungen vor der eigentlichen Aufführung glichen den Signalen einer geheimen, rituellen Kommunikation, deren wortlose Intensität Gewaltiges ankündigte. Babylon wird fallen, beispielsweise. Mochte das Übermächtige mit seinen Schatten drohen, Babylon wird fallen. Zen-Meister Huang-Po hätte gesagt: Der Geist der Bewegung besiegt das Steingewordene und Starre. Oder: Ewiger Übergang gerinnt nicht. Vielleicht hätte er auch gesagt: Iß niemals Steckrüben.
Während Aljoscha noch gebannt zusah, kämpfte sich zu seiner Linken ein beherztes Mütterchen bis zur Absperrung durch; nachdem sie ein wenig Luft geschöpft hatte, stieß sie Aljoscha mit dem Ellenbogen an: „Hier sparen wir 30 Rubel!“
Aljoscha sagte: „30 Rubel? Donnerwetter.“
„Nicht wahr? Jedenfalls, hier haben wir ein schönes Plätzchen gefunden“, freute sich die alte Frau im Plural, als wäre sie mit Aljoscha zusammen aufgebrochen, um dem spektakulären Ereignis beizuwohnen.
„Soll ich Ihnen etwas sagen“, fuhr sie fort, „ich weiß gar nicht, was gespielt wird. Ich war nur auf dem Przewalski-Prospekt und habe Rollschuhe für meine Enkelin gekauft, bei Kastschej, da“, – sie raschelte mit ihrer Einkaufstüte – „und dann sah ich die Versammlung hier. Früher war ich oft im Theater! Ich hab noch den großen Grindko gesehen! Der hat sich ja nachher dann umgebracht. Die Größe, Gott, was hab ich mich da zermartert!“ – Aljoscha nahm an, daß diese letzte Bemerkung den Füßen der Enkelin galt und nicht dem großen Grindko, und setzte zu der Frage an, wie alt das Kind denn sei, aber das Mütterchen war soeben untergetaucht, um stöhnend und umständlich ihr Gepäck auf den Steinplatten zu deponieren. Wieder lotrecht fragte sie: „Aber welches Stück wird denn nun aufgeführt?“
„Ballett. Zu Musik von Gustav Mahler.“
„Ach, ein Ballett.“ Das schien nicht nach ihrem Geschmack. Aljoscha rechnete damit, daß sie unter beträchtlichem Aufwand Sack und Pack wieder emporhieven würde, doch sie beschloß: „Na, besser als ein Kurkonzert. Haben Sie schon einmal ein Kurkonzert erlebt, junger Mann?“
„Nein, bislang nicht.“
„Es macht Kranke gesund und Gesunde krank. Um 22 Uhr 30 muß ich gehen, sonst versäume ich meine Metro. Würden Sie mich zur rechten Zeit auf den Weg schicken?“
„Leider besitze ich keine Uhr“, sagte Aljoscha.
„Am Rathausturm ist eine Uhr“, sagte das Mädchen zu seiner Rechten.
„Ach? Na ja! Dann geht es. Gehören Sie wohl zusammen, Sie beide?“
Aljoscha und das Mädchen wechselten einen Blick. Sie war meerjungfräulich schön und trug so gewiß einen nordischen Namen, wie sie ihr Haar in Salzwasser wusch. „Nein, wir gehören nicht zusammen“, bekundete Aljoscha.
„Nicht? Na, was nicht ist, wird noch“, bestimmte das Mütterchen mit resoluter Fröhlichkeit. Die Meerjungfrau lächelte vielsagend und viel verschweigend, und dann setzte die Musik ein.
Das Haupt-Gebäude, die Baukunst des Bewußtseins, muß von unermeßlicher Größe sein. Betreten wir also die Korridore und Gemächer der entlegeneren Flügel. Kein Zaudern, keine Glaubensfragen. Es gibt Falltüren und Schlangengruben, wir wissen das, wir wissen das. Was nicht ist, wird noch? Daß etwas war, wird sein. Etwas wird am Ende dieses Weges liegen. Vergessene Geschöpfe mit Augen, die vor Trauer bluten, ein halb irr gewordenes Faktotum, das jede Faszination hierher verschleppt und an schwere Steine kettet, ein Louvre an Bildern, ein Logbuch der Traumfahrten, ein Labyrinth, ein Minotaurus, ein Kerberos, der die Schätze der Vergangenheit bewacht, oder die Schätze der Zukunft, vielleicht auch nichts als Spinnweben und der heulende Wind – was immer auch geschehen muß, laß es geschehen.
Während des ersten Aktes übermittelte die alte Dame Aljoscha und dem Mädchen tuschelnd ihre Eindrücke, wie eine Gouvernante, die sich reckt, um ihren Schutzbefohlenen die vorbeifahrende Kutsche des Königs zu beschreiben. Während des zweiten Aktes hauchte die Meerjungfrau Aljoscha einige Gedanken zu; was sie sagte, war nicht eigentlich an ihn gerichtet, und er vergaß sogar, verlegen nach einer Antwort zu grübeln, weil er spürte, wie um sein Herz gelegte Zwingen sich langsam zu lösen begannen. Während des dritten Aktes dann verließ das Mütterchen den Schauplatz, nicht ohne sich gerührt von ihren Schäfchen zu verabschieden.
Als Fanfare hatte die Musik begonnen, triumphal, wie eine Huldigung an Mars. Die Tänzer ließen ein Epos aufleben, in dem gewaltige Mächte miteinander rangen, und die Musik rief Aljoscha den martialischen Hauptmann ins Gedächtnis, von dem er geträumt hatte in der Nacht der Katzenmenschen. Es war strahlende Musik, die vorwärts stürmte wie ein göttlicher Streitwagen, sie warf alles und jeden zwischen die Fässer des Zeus mit den Gaben des Wehs und den Gaben des Heils. Bilder, die den Rausch sich erprobender Kräfte beschworen, naturhaften Trieb, der die Konstellationen der Masse bestimmte – Wesen wurde zu Gepräge, Gepräge zu Gefüge, Gefüge zu Struktur, Struktur zu Formation, Formation zu Organisation, Organisation wurde totalitär, wurde Tyrannei, alle nur noch Paladine einer fatalen Gesetzmäßigkeit, alle nur noch einstimmig sich einstimmend auf einen großen Glauben, in dem Menschliches unter Menschen sich verlor. Die Musik jedoch, sie untergrub latent ihr eigenes Pathos und ließ dunkle Vorahnungen wie schleichendes Gift durch die Motive rinnen. Inmitten des heroischen Taumels fühlt ein Namenloser die Bedrohung, kehrt sich ab vom hymnischen Wahn – er hält Ausschau. Aber wird er klug aus seiner Suche? Begreift er, was ihn treibt?
Er rettet sich in einen Traum von anderen Sphären. Lyrische, verführerische Musik, wie eine Huldigung an Venus. Himmlisch helle Anmut der Tänzerinnen, eine Vision von Heilung und Erlösung, vor Augen geführt wie ein neues Versprechen für Tantalus, zu nah, um jemals wieder zu verlöschen, zu schön, um jemals Wirklichkeit zu werden, ohne Opfer zu verlangen – zu erbarmungslos schön.
Was dann kam, war anders, unvorstellbar anders. Zunächst war nur Vibrieren, eine schaurige Präsenz, aus unendlichen Tiefen kommend, als Klang zunächst kaum hörbar; dann, so unerwartet, als würde eine Statue ihr steinernes Haupt bewegen, eine Stimme. Eine Frauenstimme. Eine Welt entfernt.
O MENSCH
singt sie und etwas regt sich, 2000 Faden tief, là-bas,
O MENSCH
auferweckt, beschworen,
GIB ACHT
unbeirrbar aufsteigend, höher und höher,
GIB ACHT
bis es an die Oberfläche kommt und auftaucht unter einem Purpurhimmel,
WAS SPRICHT DIE TIEFE MITTERNACHT?
schattenlos sich erhebend in unheimlicher Stille, unauslöschlich, unausweichlich – die Gestalt der Namenlosen, die namenlose Gestalt.
ICH SCHLIEF! ICH SCHLIEF!
Ihre Macht ist göttlich genug, um Blasphemie zu sein. Sie kennt ihre Opfer. Sie macht sich auf den Weg, um
AUS TIEFEM TRAUM
in tiefen Traum
BIN ICH ERWACHT
zu führen einen Erstgeborenen und ihn an vergessene Weisen zu erinnern, vergessene Seinsweisen, versunkene Kaskaden quälend süßer Töne, wie sie die Undinen singen.
DIE WELT IST TIEF
Die nunmehr Anwesende legt über ihn den Hauch des Abwesenden und spricht: „Du bist nur halb von dieser Welt.“
UND TIEFER ALS DER TAG GEDACHT
Sie schießt ihm eine Silberkugel durch den Kopf und spricht: „Unbedingte Liebe oder überhaupt nichts. Die Wurzeln sind abgeschnitten. Du wirst verdorren.“
TIEF IST IHR WEH
Sie schlingt die Arme um ihn, und ihre Augen sind Speere aus Licht, und sie spricht: „Aber eine Sehnsucht ist in dir, mächtig wie Tigersprünge, maßlos wie Prinzenwünsche, geduldig wie ein Reptil.“
LUST –
Sie peitscht ihn mit Ruten und spricht: „Sie rührt sich nicht. Doch sie ist hellwach. Und so viel älter als das Schlaflied, das die Welt ihr singt.“
TIEFER NOCH ALS HERZELEID
Sie zeigt sich in den Winkelspiegeln eines Kaleidoskops, in dem bunte Glassplitter zu Sternen werden, und sie spricht: „Schönbildschauer, meine Gunst ist ein Palast, mit hunderttausend Juwelen geschmückt. Lerne zu vergessen und tritt ein.“
WEH SPRICHT: VERGEH!
Sie steht in einem perfekten Kreis und spricht: „Glaubst du an die Möglichkeit des Ideals, das Seiende zu berühren?“
DOCH ALLE LUST WILL EWIGKEIT, WILL
Sie benetzt sein Auge mit einer Träne und spricht: „Du bist das Auge. Du bist der Schauplatz. Finde die eine Illusion, von der du vergessen kannst, daß sie eine ist.“
TIEFE, TIEFE EWIGKEIT
Morgenglocken lösten den Bann: der Traum verflüssigte, die Umgebung nahm ihren Platz wieder ein. Auch der Namenlose auf der Bühne rieb sich die Augen: er sah ein ätherisches weibliches Wesen – einen Engel. Jähe Lichtung. Kehre des Seins. Er näherte sich vorsichtig, und der Engel scheute nicht zurück, gab sich zum Pas de deux, zum Nichts als Zwei…
Oder war dies wieder nur ein Traum in einem Traum? Zur Schlußsequenz der Symphonie über schicksalsschweren Paukenschlägen schritt das engelhafte Wesen am Bühnenrand von rechts nach links, als müßte es die Parade der vom Schattenreich mit einem Gestellungsbefehl Versehenen abnehmen, schritt langsam von einem Ende zum anderen, von Kether zu Malkuth, vom Sein zum Woanderssein, von den Brettern, die die Welt bedeuten, zum Ausgang, von der Wirklichkeit zum Riß in der Wirklichkeit, von irgendeinem Hier zu irgendeinem Dort.
Und gerade so, als läge im Erscheinen dieses ätherischen Wesens nichts anderes als ein immerwährendes Urteil, das Unerreichbarkeit verhängt, sah der Namenlose aus der Ferne zu wie ein Gerufener, der doch nicht folgen kann, obgleich es sein Wille ist. Und mit einem letzten Blick in ihre unbewegten Augen fragte er sie – nichts. Er fragte sich, ob er sie wohl jemals wiedersehen würde. Und sagte stumm Adieu.
War dies das Ende? Oder schritt sie nur voraus auf einem Weg ins Folgenschwere, in eine wirkliche Geschichte, die vielleicht immer schon bestanden hat, als einzig mögliche? Es gab keine Antwort mehr auf diese Frage. Der Vorhang war gefallen.
Die Menge gönnte den Tänzern stürmische Ovationen, um sich dann doch recht eilig zu zerstreuen. Aljoscha sah sich um. Er hätte gerne noch auf irgendwas gewartet, doch er wußte nicht, worauf. Als er zu seinem Fahrrad ging, fiel ihm endlich ein, woher er den Text des Liedes von der tiefen Welt kannte – es war das Mitternachtslied aus Nietzsches Zarathustra. Das Gefährt für den Heimweg stand seltsam resigniert da. Zen-Meister Huang-Po hätte gesagt: Stell’ dein Fahrrad nicht an einen Baum, an den der Hund pißt.
„To live is to war with trolls / In the vaults of the heart and the mind.“ – Henrik Ibsen
In Bergmans Film Das siebente Siegel kehrt ein Kreuzritter in die Gefilde seiner nördlichen Heimat zurück, und dort, am Meeresstrand, erwartet ihn der Tod. Der Ritter, Antonius Block, fordert den Tod zu einer Schachpartie heraus, mit der er um Aufschub spielt. Im Angesicht des Todes wird ihm die Sinnlosigkeit seines Lebens bewußt, das ganze Dasein als unbeantwortetes Rufen; der Fragende und Zweifelnde, der in existentialistischer Manier nun die Bedeutung des Augenblicks erkennt, der eine Schale mit frischer Milch und köstlichen Erdbeeren, das Zusammensein mit unverfälschten, unkorrumpierten Menschen im Sonnenuntergang wie eine Erleuchtung erlebt, entlarvt die Ideale seines Lebens als Schein, der in die Irre führte: zehn sinnlose Jahre liegen hinter ihm, eine Kreuzfahrt in das Absurde. Als er zurückkehrt zu seiner Frau, die so geduldig wartete wie Solveig in Peer Gynt, hat er die Partie mit dem Tod bereits verloren.
Sein Diener Jöns ist ein skeptischer, zuweilen zynischer, doch den Erniedrigten und Ausgestoßenen stets tatkräftig Schutz und Gerechtigkeit verschaffender Pragmatiker; ein Mädchen, das er eben noch vor der Vergewaltigung rettet, macht er im nächsten Augenblick zu seiner Magd. Jöns, Antonius, der Schmied, dessen Frau mit dem Prinzipal einer Schauspielertruppe durchbrennt, die den Grobschlächtigen dann, als das flüchtige Paar gestellt wird, falsch wie eine Schlange wieder betört und den Prinzipal verrät: sie alle holt der Tod, der sie nach seiner Fiedel tanzen läßt. Allein eine Schauspielerfamilie erlebt einen neuen Morgen: Jof, bei dem wie bei Peer Gynt der Übergang von Phantasie zu Schau einer anderen Wirklichkeit fließend ist, Mia und ein kleines Kind – die wahre, reine Liebe, nur in ihr ist Glück, sie allein besiegt Horror und Tod, Sinnlosigkeit und Zweifel. Alles andere ist Sichverlieren im Unerklärlichen und Leeren.
Genau dies erkennt Peer Gynt am Ende seines Lebens, vielleicht auch erst danach. „Was du immer siehst“, sagt Mia zu Jof, der die Prozession der Abgeholten beschreibt, so wie er zuvor die Erscheinung der Jungfrau Maria gesehen haben will. „Was du immer siehst.“ Ich liebe dich, das ist alles, was du wissen mußt.
So hätte auch Solveig zu Peer sprechen können. Am Ende ist Solveig blind. Aber ihre Liebe war immer sehend.
The ballet Peer Gynt has already been labeled by some as Alfred Schnittke’s masterpiece. Written for American choreographer John Neumeier’s adaptation of Ibsen’s play, Schnittke’s score is a monumental work of will — a massive score for huge orchestra which Schnittke continued to work on even after his first major stroke in 1985. And as a collective whole, the ballet offers perhaps the best single introduction to Schnittke’s music — to his characteristic sound-world and gestural vocabulary, to his famous „polystylistic“ approach, and to his larger aesthetic philosophy.
(…)
Stylistically, Peer Gynt is all over the map. Schnittke pays due homage to Edvard Grieg’s famous precedent with the „fakes“ of Act II. But on a larger level, Schnittke’s ballet also constitutes a tribute to the great ballet-tradition of his own Russian heritage, from Tchaikovsky’s Sleeping Beauty and Romeo and Juliet, through Stravinsky’s Firebird and Petroushka, to Shostakovich’s The Bolt, and especially the particular melodic brilliance of Prokofiev’s Romeo and Juliet. Upon this scaffolding Schnittke piles yet more allusive density, from faux-ragtime (on a mis-tuned upright piano reminiscent of Berg’s Wozzeck), to ruthless parodies of schlocky Hollywood film scores, to the venerable Russian choral tradition summoned by Peer Gynt’s extraordinary Epilogue. Finally, Schnittke’s ballet is a tour-de-force of leitmotivic associations worthy of Wagner’s music-dramas, its themes returning in countless and perpetual transformations through the very last bars.
As a representation of Schnittke’s aesthetic stance, Peer Gynt occupies a special position, bridging the gap between his earlier career and the work he would produce following his 1985 stroke — after which Schnittke felt everything „must be different.“ Whereas the Schnittke of the 1970’s and early 80’s „had the sense that things outside [him]self had a specific crystalline structure,“ he confessed in 1988 (after finishing Peer Gynt) that „things [were] different: [he] [could] no longer see this crystalline structure, only incessantly shifting, unstable forms. — Our world seems … to be a world of illusions, unlimited and unending. There is a realm of shadows in it…“
It is difficult to imagine Schnittke speaking in such terms before writing Peer Gynt; the entire story of Ibsen’s original play deals with the search for reality amidst „a world of shadows,“ in which the greatest evils are distraction and illusion, and the will of self-discovery is constantly threatened by corruption, temptation, triviality, and betrayal.
Seth Brodsky [allmusic.com]
26.10.2010, moi, SPIEGEL ONLINE Forum
Wünschte, ich könnte Euch zu einer Synapsenkonferenz einladen, um 130 Minuten „Peer Gynt“ von Alfred Schnittke zu hören.
Nach seinem Schlaganfall 1985, Schnittke war klinisch tot, sprach er von einer grundlegenden Veränderung seines Zeitgefühls, von einer neuen Fähigkeit, „die sich nämlich ausdehnende Zeit zu empfinden.“ Genau darin muß das Geheimnis seiner „Peer Gynt“-Musik liegen. Wie in Marienbad halt.
02.07.2011, moi, SPIEGEL ONLINE Forum
Alfred Schnittke, der Epilog aus der phantastischen Ballettmusik zu „Peer Gynt“, „Aus der Welt / Out of the World“. Wenn man die ganze Ballettmusik durchgehört hat, ist man hier bereits komplett durch den Wind, und der Epilog stellt merkwürdige Dinge mit einem an. Die letzten fünf Minuten sind überirdisch. Kopfhörer sinnvoll.
Jürgen Rose, Kostümentwürfe zu Peer Gynt
John Neumeier im Gespräch mit Angela Dauber, 29.12.1988
Es kommt mir vor, als wirke der Moment einer Kreation wie ein Magnet. Er zieht Dinge an, die scheinbar nichts mit der Arbeit zu tun haben, verknüpft Unzusammenhängendes und stellt neue, merkwürdige Beziehungen her, die mich überraschen und faszinieren.
Der erste Kreis, gleichzeitig unser erster Akt, ist noch relativ anekdotisch […] Er folgt in großen Zügen den ersten drei Akten bei Ibsen, spielt in Norwegen und entwickelt, analog zur realen Handlung, ein ziemlich normales Zeitgefühl, was die Länge der verschiedenen choreographischen Einheiten betrifft. Unser zweiter Akt, der zweite Kreis, ist eigentlich eine Reise in den Wahnsinn. […] Der zweite Akt läuft im Ballett fast wie im Zeitraffer ab, die verschiedenen Spielorte sind nicht mehr zu unterscheiden, werden durcheinandergewürfelt, die Szenenübergänge fließen ineinander ohne erkennbare Zäsur, das Raum- und Zeitmaß gerät aus den Fugen. […] Das Ende des dritten Kreises bringt die Erkenntnis: Ich bin nichts anderes als die anderen, und gibt die Antwort auf die Frage: Was bin ich? Ich bin unverwechselbar in den Augen dessen, der mich liebt […] Das ist die Tür der Erlösung: Weil mich jemand liebt, bin ich nicht nur Durchschnittsmensch. Weil Solveig mich liebt, bin ich Peer. Da beginnt im Ballett der Epilog.
Er ist eine in sich abgeschlossene Einheit. Musikalisch klingen in ihm noch einmal alle Motive auf. […] Der Epilog führt in einen Bereich, der von Ibsen höchstens berührt, aber nicht betreten wird. […] Die Idee zu einem abschließenden „endlosen Adagio“ kam mir wohl während der Arbeit an „Othello“, wo ich zum erstenmal mit einem langen Pas de deux aufgehört habe. Da man Zeit hatte zu schauen, sich auf zwei Menschen zu konzentrieren und einzulassen, entstand ein fast hypnotischer Sog. Das hat mich fasziniert, und ich versuche in „Peer Gynt“ etwas Ähnliches, allerdings noch extremer: eine – fast möchte ich sagen – rituelle Beziehung jenseits alles Realen. Der vierte Kreis ist der spirituelle und metaphysische Kern des Stücks. [1]
Gigi Hyatt (Solveig), Ivan Liska (Peer Gynt), Probenfoto
Alfred Schnittke im Gespräch mit Angela Dauber, 29.04.1987
In John Neumeiers Fassung hat „Peer Gynt“ drei reale Ebenen und eine vierte, imaginäre. Der erste Kreis ist Norwegen. Der zweite ist die Welt draußen, Peers ganzes langes Leben, mit all seinen verschiedenen Stationen, die in der Welt des Varietés, der Music Hall, des Films und im Irrenhaus angesiedelt sind, eine Scheinwelt. Peers Rückkehr nach Norwegen ist der dritte Kreis, und danach kommt etwas, das Ibsen andeutet und das wir im Ballett zu zeigen versuchen: Der vierte Kreis. Im realen Leben gibt es ihn nicht. […] Zwei Worte stehen dazu nur im Libretto, „endloses Adagio“, sonst nichts. Mehr kann man nicht sagen, das sagt alles. Was in den ersten drei Kreisen geschah, rollt noch einmal ab, aber man erlebt es auf ganz andere Art. Man betrachtet das Geschehen nicht wie früher von innen, aus dem engen Blickwinkel des Beteiligten, sondern aus einer anderen, allumfassenden Perspektive.
Die Musik klingt im ersten Akt eigentlich noch wie Ballettmusik, auch wenn sie alle stereotypen Formulierungen zu meiden sucht. […] Der zweite Akt mit seiner Folge von Scheinwelten verlangte geradezu nach Klischees und falscher Regelmäßigkeit, um diese Multi-Media-Welt zu charakterisieren. Das ist ihr Prinzip, und es ist überall dasselbe, auch bei uns in Rußland: Man will einen schönen Betrug schaffen. Die dritte Darstellungsebene kehrt, szenisch wie musikalisch, auf die reale Ebene des ersten Akts zurück, aber alles wirkt ein bißchen befremdlich. Eine sonderbare Welt, in der heimliche Gefahren lauern.
[Zum Epilog:]
Es kam zu Schattenklängen. Diese Schatten haben die Klangdimension erweitert, man nahm die zweite Wand hinter der ersten wahr, ahnte die dritte, vierte, fünfte… Es tat sich ein neuer, irrealer Klangraum auf.
[Der Schattenklang]: Man hört ihn nicht, nein, man hört ihn, aber sehr leise. Wir nehmen ihn nicht bewußt wahr, wir hören ihn unbewußt mit. Die meisten Menschen meinen, die Musik zu verstehen, aber sie wissen gar nicht, wie dieser Eindruck entsteht. Was für ein Klang es ist, kann niemand sagen! Es sind die Schattenklänge, die ihn ausmachen. [1]
Die Figur des Peer Gynt entzieht sich einer endgültigen Deutung, und das macht sie für mich besonders anziehend. Es ist genau wie im Leben: Immer gerät man irgendwie daneben, wenn man einen Menschen zu fassen sucht. Immer bleibt etwas Ungelöstes, Unlösbares. Ich umkreise die Gestalt des Peer in verschiedenen Schichten und Niveaus, in denen seine gesamte Lebensproblematik immer und immer wieder dargestellt wird – drei reale Existenzschichten und eine imaginäre, die aber auch Wirklichkeit werden könnte. – Alfred Schnittke [2]
Ballett von John Neumeier Musik von Alfred Schnittke
Ausstattung von Jürgen Rose Uraufführung 01 / 1989
Prolog: Eintritt in die Welt Erster Akt: Norwegen Zweiter Akt: Draußen – Scheinwelten Dritter Akt: Zurück Epilog: Aus der Welt
Englische Passagen: Exzerpte aus dem Booklet-Essay von Ronald Weitzman, 1994, zur CD: BIS-CD-677/678 – Alfred Schnittke: Peer Gynt – Orchestra of the Royal Opera, Stockholm / Eri Klas.
„Peer Gynt is an enigmatical figure in literature to whom we lack a key: he is even more cryptic than the figure of Faust.“ These words of Schnittke indicate how important the subject is to him personally.
Peer enters the world and is brought up in Norway; he soars into illusory worlds before he collapses; he then makes a journey home, as much a journey of the spirit as a return to Norway: these are the first three Kreise. The fourth Kreis (the Epilogue) does not exist; but for Schnittke this sphere, which he calls „sound-space“ (Klangraum), matters most. „The entire music of the ballet,“ says Schnittke, „is like a preliminary stage to this last Kreis.“
Prologue: Into The World. Before a note of music is heard – that is, for over five minutes – the audience is furnished with X-ray eyes, so as to witness a foetus forming in Åse’s womb. Already there are seven „aspects“ to this foetus: Neumeier names them Childhood, Flying, The Erotic, Pushy, Aggression, Doubt, Anima. They are represented on stage by seven dancers, the last (Anima) by the dancer of the role of Solveig. To each of these „aspects“ Neumeier has choreographed distinguishing leitmotifs-in-movement. (…)
And so, silence gives way to Schnittke’s world of sound (Klangwelt), which starts by being girded by a succession of chords. Choreographer and composer have given us their respective interpretations of the „Bøyg“, whose invisible, sphinx-like presence will crawl round and about at unexpected moments in time to dictate to Peer Gynt’s inner self.
Act I: Norway
Peer and his mother Åse. Åse scolds her lying, ne’er-do-well of a son: she derides his claim that he can ride through the air (though she will also defend his claim before others who would censure him). […] And so, the trolls stirring within Peer are awaiting the moment to pounce and befuddle him: the music stresses increasingly how equivocal is the bond between Peer and his response towards the feminine.
Peer’s Imagination. The somewhat unfocused Klangwelt now becomes distinctive and outwardly assertive. The trolls lurking in the shadow of Peer’s soul are no less assertive (…) The theme is infused with the search for – indeed, is an elemental craving for – liberation by way of the feminine (…) Dance, and physical activity allied to dance, occur frequently in Ibsen’s text. The teasing banter between mother and son is the first of such happenings. Åse hoped that her son would find a wife in one Ingrid of neighbouring Haegstad; now that Ingrid is to wed another, Peer is intent on intervening at the celebrations.
Peer at Ingrid’s wedding celebration (Dance of the locals). Peer arrives uninvited at the courtyard of Haegstad Farm, taking up his place among the local peasants and mountain farmers as they celebrate Ingrid’s marriage to the dimwit, Mads Moen.
Appearance of Solveig and her parents. At the first sight of Solveig (elder daughter of strangers to the local community), the accompanying motif on bells and vibraphone foreshadows another Kreis, indeed, another world altogether, cutting through the salt-of-the-earth festivities.
Pas de deux: Solveig – Peer. A yearning phrase on cor anglais marks the first private encounter between Solveig and Peer. (…) The impossibility of union within this Kreis becomes harrowingly clear with the impassioned statement on strings – for this motif contains those uncontrollable emotions which signal what is causing the tension that tethers Peer to one Kreis while his fancies send him flying elsewhere.
In the mountains with Ingrid. Schnittke’s marking Allegretto at this point, with measures changing bar by bar, signals Ingrid’s abduction. (…) Between and amidst the astonishing commingling of contrapuntal writing, most of the themes and motifs heard so far are brought together: they envision Peer’s dementia to come. Solveig’s theme is twisted almost beyond recognition (…)
Yet Peer is incapable of having a single spark of insight into what is now possessing him.
(…) Peer has abandoned Ingrid; and, in a momentary effort to return to his senses, Peer finds that within himself he is confronting the Troll-World. This opens with a theme (…) It is seductive, yet also intentionally fatuous and lacking purpose; and it includes the motif associated with a bizarre Woman clad in Green (in Ibsen, the troll-king’s daughter). The whole section has a somnambulistic, spiral-like quality to it (…)
Only when Solveig sets the bells ringing is the trance broken. And it is then that the music symbolizing The Bøyg returns. Is Peer to move straight ahead to Solveig? Or is he to take a circuitous, evasive route, round and about? One side of Peer (who has been outlawed by the community as a result of his abduction of Ingrid) now wants to assert „the good“ within himself.
Peer’s Solitude. Facing life in the mountains alone, Peer builds his house.
Solveig comes to Peer. This is the emontional climax of the act. It is not a transformation, but „shadows“ the pas de deux heard earlier. The good that Peer would want to do, the steadiness that one side of him would wish to acquire, another side of him chooses to reject. The funeral tread in low strings stresses the essentially tragic implication that what this man and woman mean to each other is not to be realized in the present Kreis.
Transition: The Woman in Green. It is the troll-king’s daughter (now accompanied by the child she has supposedly had by Peer) who comprehends Peer with devastatingly accurate, mirror-like mimicry, and she mercilessly ridicules his yearning for Solveig. (…) In addition to Solveig’s theme being made mock of, the swaying chords now appear distorted (…) Then, in the strings, just as Peer could be just about to sign away his soul, ‚Bøyg’chords are heard, and Peer, filled with a sense of stupefaction, deserts Solveig and transports himself to the side of his dying mother.
Åse’s Death. A chill wind blows through Åse’s theme (…) after having fled to his mother’s side, and having closed her eyes when she has breathed her last, Peer sets out towards a new life filled with adventure (…) With a tremendous arc-like symphonic sweep, we are brought within thirteen bars of the close of Act I. Then midnight strikes; and the act ends with the damnatory, slicing plunge of a released guillotine blade, leaving us in no doubt to where Peer’s choice is taking him.
Act II: Out in the World – Illusions
Schnittke has commented on how this act lends itself to the highlighting of the cliché. Shrewdly he pares down to barest essentials each musical motif, and this in turn gives to the act a menacing, inexorable unity.
As we bathe in the simple, sweet Andantino theme to which the Overture to Act II of Peer Gynt opens, Schnittke gives us one of his many tunes which, with embarrassing perfection, calls up the idiom of another composer. Schnittke, though, is neither imitating nor parodying, nor is he stealing: he is here both paying genuine tribute to, while at the same time deliberately „faking“ Grieg – fälschen, Schnittke’s own choice of verb. (…) The composer paints a rosy picture, thus forewarning us that deception lies at the heart of worlds that exist only within one’s own mind. The orchestration of the pastoral theme thickens, suddenly growing very chromatic (…) the chaotic central section, where we hear motivic material indicative of Peer’s relation to the troll-world.
Auditions. In Ibsen, Peer sets forth for Africa, while in Neumeier’s ballet Peer is intent on realizing to the full his freedom of choice by fanning his whims of fancy and entering the world of film. He is intent not only on becoming a star, but becoming a star of stars. (…) We join Peer as he prepares to audition. An upright piano, („slightly out of tune“ Schnittke specified when consulted before the recording), plays through a ragtime polka in the style of Scott Joplin (…) ‚Bøyg’chords quietly shadowing the piano (…)
With the anticipated excitement of a circus event, a sustained drum-roll paves the way to what in the score is entitled Tap Quartet (and which Neumeier then choreographed as a Rainbow Sextet).
A second drum-roll announces Peer as Slavedealer. The rhythmic propulsion underlies a semiquaver theme, which is but a paired down, frantic „re-run“ of Peer euphorically acting out his passion.
Scene and Opening Night Party. After the opening piano solo, the music of the troll-world reappears, exhibitionistic in its contrapuntal meandering. At the peak of this swirl, three chords glare out – the first two lofty, for Peer is indeed now about to realize his ambition to become Emperor of the World. The third chord exposes Peer’s true state of mind. The obtuse build-up to the Great Movie, starring Peer Gynt, complete with piano introductions, is stretched out.
Emperor of the World. If there is something of the Hollywood epic about the big tune, the theme also has a distinctly noble demeanour about it. (…) There is an intermingling of the motifs associated with the feminine, and a vying between those of the Woman in Green and of the Solveig-Peer pas de deux. Threading its way through all this, but at the same time wholly split off from it, is a string obbligato passage – an intrinsic lack of navigation is now poised to take control.
Peer’s dance with the whip. The semiquaver motiv of the Slavedealer episode returns, rhythmic obsessiveness reaching a new level.
Solveig’s Dance. While Ibsen’s play casts a glimpse at Solveig patiently waiting back home in Norway, Schnittke’s music suddenly pitches straight into the different orbit Solveig inhabits. The powerful organ solo (…) plays only the Solveig features of the Act I pas de deux. Richard Traub remarks that „the totally alien Klangwelt of the organ suggests Solveig and Peer now inhabit entirely different Kreise; Peer is hermetically sealed in his, and he cannot communicate with her, even if he may ’see‘ her in his mind. Her countenance now is that of a stiff religious icon, a purely symbol-like form evoking another, ‚truer‘ world beyond. The organ’s intense but expressionless, flat two-dimensional quality captures this (…)“ (Neumeier has both Solveig and Peer’s dead mother glide across the stage at this moment.) From the depths of Peer’s soul a theme wells up in the strings, alongside the swaying chords, and with a horrifying inevitability throws Peer into his Mad Dance.
The possessed world of Peer’s wilder emotions sounds with increased distortion and a disarray calculated by Schnittke with the greatest care. That world has now fossilized into a crazed ritualistic dance. The sudden interruption by ‚Bøyg’music offsets in Peer’s mind the vision of the waiting Solveig.
Peer’s coronation. Richard Traub comments: „Peer has truly become emperor of his exclusively private world; now even the Bøyg’s image seems to waver and flicker.“
Finale. In total contrast to the close of the previous act, all Peer’s positive aspirations capsize in the huge symphonic coda of Act II. Neumeier brings on stage with Peer every one of his „aspects“. The „Emperor“ motif howls, but before long Peer’s screams are lost amidst those of his asylum inmates. They are none other than his own „aspects“, who pull fast the straps of the straitjacket into which he has put himself. His soul gapes into the abyss of total shipwreck.
Act III: Return
In an interview he gave in Hamburg in 1987, Schnittke says of this third Kreis that it is „a peculiar world where dangers lurk. Perception has become sleepy. To all appearances, everything musically is the same as before, yet the music has undergone transformations.“
The opening of Act III (Mesto) (…) in its sheer desolateness (…) Schnittke’s cor anglais theme, its mourning tone buttressed by a bell that doubles every note, harbours the motif evoking both the dying Åse and the megalomaniacal Peer riding through the air. Though the ageing Peer, now rowing back to Norway and clad in grey, has begun the process of being a penitent (in the Hebrew of the Old Testament the words „to return“ and „to repent“ are synonymous), this very process will not be without Peer kicking hard against the goads. The cell associated with the Woman in Green now takes on an overwhelming sadness, as does the immediately following theme played by two oboes.
Two horns invoke the Bøyg (Andante) (…) Though Schnittke has woven into his scheme of motifs an astonishing range of imaginative discipline and interplay throughout the ballet, he now unexpectedly introduces totally fresh material which is not in any explicit way related to his thematic and structural scheme. (…) No less gripping is the swell in low strings of the Woman in Green’s theme, now a chilling shudder (…) Idea after idea, motif after motif, shadow each other in this act in a domain different from anything heard hitherto. We need to absorb this musical observation of „shadowing“ into our very beings, so as to be permitted to appreciate the process of unreeling that has now begun in Peer’s mind.
Peer’s memories. The lid is taken off Peer’s chimeric condition. Yet this detonation by no means leads straight to a grasping of the „whole truth“. (In the choreography, Peer’s boat capsizes at this moment.) The music instructs us that there will be a series of such shocks. Jung insisted that the sluice-gates of the mind must be opened only bit by bit if total destruction is not to be the result. This is precisely what Schnittke does. The blows, while terrifying in themselves, are but blows that accompany Peer’s peeling and unwinding of the layers of delusion within himself.
Ingrid’s burial. Ibsen does not mention Ingrid by name but merely puts into the mouth of a mourner: „The bride, poor thing, is food for worms.“ (…) a motto burgeoning from just three rising notes, as Peer witnesses the funeral cortège. Even though we have already been shaken by what has so far been unravelled, the introduction of this motif (…) at this moment adds to what is already overpowering in its impact.
Scene with Solveig (Largo). The Act I pas de deux is heard complete, its intrinsic melancholy intensified by its being pitched lower. (…) Solveig has been waiting – a waiting immeasurable by time. That Peer is quite incapable of coping with the significance of such preternatural waiting in this Kreis becomes apparent as the swaying chords now accelerate. Material from the troll-world returns (…) Peer’s quickened soul is filled with renewed anxiety and dread.
Peer surrounded by his „aspects“. Pursuing Peer is the incessantly wrong identification within his mind as to who’s who among the other women.
Song of the Wind. The music of Peer and his mother, turned upside down and now in whole tone, not half tone, steps.
The Onion. The germ evoking the elemental power of the feminine is now wrapped in a haze. There is an unravelling of the „Bøyg“ chord – that is, as Peer allows more and more layers to be peeled away, Peer finds nothing at all at the core of his being.
Despair and escape. The music allied to the Woman in Green again bewitches Peer’s mind. In brass and strings the motifs of Peer out of control are again in the ascendant.
The tension he feels within any orbit of „reality“ is altogether too much: the moment has come for his Deliverance.
Ivan Liska, Gigi Hyatt
Epilogue: Out of the World
An uncanny gift haunting Schnittke is his straining to hear utterances that simply are not audible in the visible world. (…) time and again in many of his orchestral works he hovers on the edge of two worlds. (…) In Peer Gynt Schnittke travels further along this uncharted path than in any other work of his up to this time. One might well ask: had Neumeier not invited Schnittke to collaborate with him on Peer, when would Schnittke have allowed himself to explore this far?
When it came to the Epilogue, Neumeier signalled to Schnittke this code: „Endless Adagio„. The composer suffered his stroke before starting on this.
(…) Schnittke and Neumeier spell out what Ibsen barely hints at. Solveig, now blind, searches for and finds Peer in this fourth Kreis. A pre-recorded a cappella chorus, whose theme is treated as an unending passacaglia, transfixes us. The chorus is always just audible behind the shifting tonalities of the themes we will recognize from previous Kreise, each theme thereby transformed. Schnittke calls this extension of sounds „the sounds of shadows“ (Schattenklänge), sounds „we don’t perceive consciously but listen in on unawares“.
In this purgatorial Kreis, terrible dangers continue to lurk. But, with Solveig now permanently by Peer’s side, a true apotheosis, if not inevitable, becomes a genuine possibility. On stage, Solveig removes Peer’s clothes, then Peer removes Solveig’s, before being joined by Peer’s other „aspects“, by his mother – by everybody. All advance, naked, before the Judgment-seat. Yet, at the height of the most searing climax of the ballet, it is the motif earlier associated with the troll-world, and all this might imply, that is roared out last. Only after this do the hidden voices, now exposed, fade away little by little from the realm of audibility.
Marie Luise Kaschnitz, 1971
Die Frage nach dem wahren Ich eines Menschen ist in Ibsens Drama „Peer Gynt“ die Rätselfrage von Anfang an. Peer Gynt, „wie ihn Gott gemeint und verstanden hat“, kommt in dem Stück kaum je zum Vorschein, er lebt nur im Herzen der Mutter und im Herzen der unschuldigen Solveig […] In den Augen der Welt ist Peer lügenhaft und eitel, ruhmsüchtig und hart. Seine Lebensgeschichte ist eine Kette von Irrtümern und Mißverständnissen, von Wünschen, deren Erfüllung nicht befriedigt, und Abenteuern, die nichts zurücklassen als Reue und Scham. Trotzdem hängt Peer Gynt an seinem so unvollkommenen Ich mehr als mancher, dem ein bescheidenes Streben beizeiten die Richtung wies. Er hängt an seiner Phantasie, die ihm immer wieder die berauschendsten Bilder vorspiegelt, an seiner Liebeskraft, die ihm die Welt verschönt, an seinen klaren Menschenaugen, die er sich auch um den Preis seines Lebens von den Trollen nicht scheel machen lassen will. Von dem „Krummen“, der unsichtbaren Macht der Finsternis, ein Leben lang irregeführt, sieht er schließlich in dem weißen, namenlosen Nichts der Gletscherspalte den einzig ihm gemäßen Tod. Trotzdem will er auch im Jenseits seine Individualität nicht verlieren. Er glaubt noch immer an sein besseres Ich und geht am Ende, zum ersten Mal im Leben, den richtigen Weg – auf Solveig, die einzige Zeugin seiner unsterblichen Seele, zu.
Julius Bab, um 1922
Die meisten Gestalten sind ja nur Schatten von Peer Gynts Wesen, gespenstisch verdichtete Stimmen seines Innern – der Dovre-Alte so gut wie der große Krumme, der fremde Passagier und der Knopfgießer; selbst die Mutter ist nicht viel mehr als sein Echo; die Grüne und Anitra kaum unterschieden als ein Spuk seiner Sinnlichkeit, und eigentlich nur in Solveig überwächst Wirklichkeit seinen eigenen Traum, bekommt das Du Gestalt.
Georg Groddeck, 1927
Er hat sein Leben lang nichts andres getan als träumen. Und er braucht nicht einmal zu schlafen, er träumt am Tage, er träumt unablässig […] Er träumt, aber er weiß ganz genau, daß er träumt und phantasiert. Die Menschen – seine eigne Mutter voran, das erste Wort, das auf der Bühne gesprochen wird, kommt aus ihrem Munde, sie ruft ihm zu: „Du lügst!“ -, die Menschen schelten ihn Lügner, Lügenprinz; wie dumm das doch ist ihm gegenüber, der so wahrhaft ist. […] Es gibt eine andere Realität, und auch das lehrt Ibsens „Peer Gynt“. Peer erlebt seine Träume, unmögliche, unreale Träume, so real, daß sie wirklich werden. Er kommt wirklich ins Rondeschloß, er soll wirklich Troll werden, er spricht wirklich mit dem fremden Passagier, dem öden Moralisten, über seinen Kadaver, er begegnet dem Krummen, er verhandelt mit dem Knopfgießer, er betrügt den Teufel […]
Wilhelm Reich, 1942
Ibsen hatte einfach die Misere undurchschnittlicher Menschen geschildert. […] Die Peer Gynts sind eine Gefahr für die Seelenruhe. […] Peer Gynt wird den Kragen brechen mit seinem Aberwitz. […] Er hält zu seinen Idealen. Aber die Welt kennt nur Business. Alles andere ist komischer Spleen. […] Peer Gynt aber ist ein Träumer, der nichts Gescheites gelernt hat. Er will die Welt verändern und trägt sie in sich. [1]
Die Zeit, No. 05
Heinz Josef Herbort, 27.01.1989, S. 60
Leben jenseits aller egozentrischen Träume
Wenn der gealterte Peer Gynt von seiner Reise durch die Welt und durch sein Ich an die Stätten seiner Jugend zurückkehrt, läßt Henrik Ibsen ihn eine Zwiebel auseinanderbrechen und dabei erkennen, daß sein Leben kaum mehr war als diese Haut-Schalen: ohne Kern, ohne Charakter — lauter Episoden. Und so nimmt Solveig den Kopf des großen alten Kindes in ihren Schoß: „Schlafe und träume“. Die Welt als der nur zur Vorstellung gewordene Wille? Das Leben: wirklich nur ein Traum?
Wenn dieser Peer Gynt in John Neumeiers neuem abendfüllenden (und offenbar einen Jahrzehnte-Traum verwirklichenden, vielleicht sogar einen Lebensabschnitt resümierenden) Ballett aus einer Superkarriere aussteigt und, ein grauer Mann in grauem Trenchcoat und Hut, in einem grauen Boot sich zurückrudert an die Stätten seiner Jugend, lösen sich aus der Kulisse immer neue Peer Gynts, blicken auf eine Armbanduhr und formieren sich zu einer in hektischer Mechanik gestikulierenden Masse. Der Zweidutzend-Jedermann Peer weiß: Die Zeit läuft ab, es ist Eile geboten.
Aber dann bricht die wilde Motorik zusammen — und von der Kindheits-Schaukel im Haus im Gebirge löst sich die altersblinde Solveig, ertastet sich den zusammengesunkenen Peer, entkleidet den Grauen seiner Alltags-Utensilien, breitet diese sorgfältig auf den Boden aus: Da liegt der alte Adam, nur noch eine unscheinbare Fläche, eine farblose Hülle, ein Umriß, ein Fleck. Der eigentliche Mensch aber, nackt und bloß zwar, aber mit neuer Kraft und Schönheit, findet die Person, die ihn und die er liebt. Zwar versuchen sie noch einmal kurz, rückwärts zu laufen, schnell und im Kreis, als könnten sie Vergangenes zurückgewinnen, Versäumtes einholen, verpaßte Chancen doch noch nutzen — aber dann fällt auch von ihnen die Zeit ab, und in einem schier unaufhörlichen Strom weicher Bewegungen, Gänge, Gesten, Blicke tauchen sie ein in die große Schar derer, die in der Zeitlosigkeit sich und den / die Andere(n) gefunden haben. Die Überwindung aller Vorstellungen und allen egozentrischen Wollens durch die Liebe, das Leben jenseits aller Träumerei, aber auch frei von zeitlichen Zwängen, Aktualitäts-Neurosen, politischen / sozialen / ideologischen Querelen in der Zuwendung zu diesem anderen Menschen: John Neumeier als Utopist, der seine Endstation Sehnsucht nicht mehr nur als erotische Extravaganz (1983) vor Augen hat, sondern in der Mitmenschlichkeit einen neuen Lebenssinn erkennt?
Zuvor freilich muß dieser alte Adam sein Leben leben und seine Welt zu erfahren versuchen: Aase, die Mutter (Anna Grabka in erhabener Strenge …), entwickelt aus sich sieben „Aspekte“ Peers, sammelt sie in ihrem Schoß und gebiert den heldenhaften Träumer — ein starkes Bild von großer Dichte und tiefer Empfindsamkeit. Peer: das ist der außerordentlich athletische, souverän kraftvolle, vehemente und impulsive, aber eben auch ungemein sensible, zarte, selbst in kleinsten Bewegungen intensive und beherrschte Ivan Liska, der von sich und seiner Rolle wissen ließ, daß er einen „Phantasten und Pragmatiker“ tanze, der aber unter aller Skrupellosigkeit den gewaltigen Ernst, das Leben- und Lernen-Wollen erkennen läßt und uns die Frage nicht erspart, ob nicht doch das Sein das Bewußtsein schafft.
Sein Peer Gynt durchlebt seine Episoden, und die „Aspekte“ begleiten ihn wie ein jeweiliges zweites Ich: die rigorose Ellbogen-Mentalität der Kindheit, die im Erstaunen sich selber bestärkende erste Wahrnehmung zärtlicher Gefühle zu der kindhaft an Mutters Rockzipfel hängenden Solveig und deren scheue, allmählich bewußter werdende Reaktion auf seine innige wie stürmische Werbung. Gigi Hyatt steigert diese Rolle aus der tumben Naivität und trotzigen Infantilität heraus über ein Erwachensmoment in die frühe Reife der den Geliebten Suchenden, weiter in die milde Ruhe der überzeugt Hoffenden bis in die abgeklärte Welt-Distanz jener Frau, deren Goethesches Ewig Weibliches weit weniger uns anzieht als ihre wissende Menschlichkeit und ihre allen Feminismus bis auf den letzten Grund skeptisch befragende Güte. Das alter ego begleitet weiter den wilden Trotz des Verlachten und Ausgestoßenen, der brutal die puppenhafte Braut entführt und ebenso brutal schnell wieder verläßt; den steilen Aufstieg eines Show-Stars vom talentierten, aber auch glückbegünstigten, auf jeden Fall skrupellosen Gruppentänzer zum umschwärmten Titelhelden hollywoodnaher Celluloid-Kunst und routinierten Partylöwen (…); schließlich den letzten Brachialakt des kaltblütig sein Überleben erkämpfenden Seereisenden.
In Jürgen Roses erfreulich konzentrierten, in Farben und großen Formen und mit ganz wenigen Versatzstücken auf Wesentliches zurückgehenden und dadurch aussagekräftigen Bildern erleben wir diese Episoden als poetische Spiegelbilder, als Chiffren einer individualisierten Menschheits-Alltäglichkeit. Vom dritten, dem „Jedermann“-Akt bis in den transphysischen Epilog freilich verwandelt sich die Szene in ein von Zeit und Raum enthobenes Irgendwo: Was jetzt verhandelt wird, geht an das nicht mehr Definierbare, an unser Innerstes und Wesentliches.
Getanzt wird auf die in diesem Rahmen uraufgeführte Musik eines Komponisten, der als deutschstämmiger Sowjetrusse einen auf den ersten Blick epigonalen Take-and-mix-Stil präsentiert, der aber seine — der Begriff ist inzwischen gefestigt — „Polystilistik“ als sein ästhetisches Credo vertritt und verteidigt auf eine überzeugende Weise: Sie soll die realen wie idealen Phänomene aus wechselnden Blickwinkeln oder von unterschiedlichen historischen Standpunkten her betrachten. Und so finden sich in der „Peer Gynt“-Musik Alfred Schnittkes fast wie selbstverständlich nebeneinander die Techniken von vier Jahrhunderten; glaubt der Hörer Zitate zu hören, die aber nur eine Art „im Stile von“ bedeuten; wiegt er sich noch im Bewußtsein, etwas begriffen zu haben — und ist bereits wieder verunsichert; oder gewinnt die beabsichtigte Distanz.
All solches indes begibt sich nur in den eigentlichen Erzähl-Akten. Noch zu Aases Tod hatte Schnittke Tschaikowskijs Sentiment beschworen (und verfremdend weitergeführt) — und plötzlich wird, von einer Band-Einspielung in eine weltferne Distanz verlegt, ein Chorklang hörbar, der scheinbar Debussy mit Repetitivem à la Phil Glass verbindet, ein harmonisches Nirwana, ein impressionistisches Seelen-Universum. Aber es zeigt sich, daß hier wieder nur der Geist einer Epoche beschworen wurde, daß in der Aufhebung und Ablösung der zuvor so dominanten rhythmischen Parameter durch ein jetzt metrisches Fließen ein klangliches Äquivalent zu einer Erfahrung versucht wurde, die vielleicht nur in einer Extremsituation zu machen ist: dieses „Beinahe schon“. Daß Alfred Schnittke diesen Blick durch eine halb geöffnete Tür während der Arbeit an der Peer Gynt-Partitur tat, wissen wir. Daß John Neumeier aus einer intellektuell künstlerischen Vision ein ästhetisches Prinzip ableiten und in imaginativer Kraft ein Werkkonzept gewinnen und mit seinem fabelhaften Ensemble realisieren konnte, hebt diesen „Peer Gynt“ weit aus dem Rahmen eines illustrativen oder formalästhetischen Tanzabends auf die Ebene eines großen Welttheaters.
Hamburger Morgenpost, 24. Januar 1989
Ivan Liska leistet in der Hauptpartie Unglaubliches an körperlicher und geistiger Konzentration und Kraft. Solveig, die unbeirrt auf Peer wartet und den Rastlosen schließlich mit ihrer geduldigen Liebe erlöst, wird von Gigi Hyatt mit verzaubernder Innigkeit und bewegender Schlichtheit getanzt.
Nach der Uraufführung
Lieber John, ich danke Dir für alles und vor allem für die wunderbare Choreographie zu Peer Gynt. Es ist etwas ganz Neuartiges, in all seiner Vielschichtigkeit noch nicht Dagewesenes und darum noch in vollem Maße nicht Verstandenes. Aber das bedeutet ein jahrelanges Eintreten von Sinn und Klarheit in diese ungewöhnliche Situation und den ganzen Irrsinn der schematischen Einschätzungen (denn die Kritik begeht immer denselben Fehler – wenn etwas wirklich Neues entsteht, spürt sie es, aber gleichzeitig wird sie durch ihre eigene Unvollkommenheit gereizt zu falsch-kompetenten Aussagen). Wir reisen morgen ab und hoffen, das durch Dich entstandene Wunder noch irgendwann zu erleben. Erlaube mir, die Partitur von Peer Gynt Dir zu widmen – wenn sie irgendwie dem Sinn des von Dir Gemachten entspricht. Ich hoffe, wir bleiben in Kontakt und danke Dir für alles Gute, das durch Dich entstand – auch für mich. – Beste Grüße von Irina und Alfred Schnittke [2]
Aus John Neumeiers Notizen zu „Peer Gynt“
„Solveig kommt zu Peer: die ehrlichen Klänge Solveigs – Pas de deux (6 Min.) beginnt stotternd, stolpernd: Stops … Anfänge … Stops … wieder Anfänge … / als ob sie so wichtige Dinge zu sagen hat, daß sie in keinem einzigen Wort lügen möchte, nichts Unwichtiges, nichts Unehrliches, Überflüssiges formulieren will / keine ‚Artikulation‘ für sich, nur die pure, die reine Nachricht ihrer Liebe“. [2]
Roland Langer in „Internationales Ballett-Theater“
Optische und akustische Impressionen überfluten die Sinne, gehen eindringlich unter die Haut wie kaum ein anderes Ballett der letzten Jahre.
Le Figaro über das Peer Gynt-Gastspiel in Paris, Februar 1990
John Neumeiers „Peer Gynt“ besteht aus drei Balletten. In sehr harmonischer Sprache illustriert das Erste im Norwegen Ibsens die Legende von der Persönlichkeit, die immer auf der Suche ist. Das Zweite (…) verlagert die Geschichte in die Welt von Music-Hall und amerikanischem Kino. Das Dritte, von magischem Zauber, führt den Zuschauer ins Jenseits, an die Schwelle des Todes, in eine Welt, wo die Wesen sich in erhabener Liebe für alle Ewigkeit vereinen. Das ganze ist noch vielschichtiger, und der Choreograph bereichert die Rolle des Peer um sieben Aspekte, die die verschiedenen Facetten des Menschen symbolisieren. Die Bilder sind stark und von großer plastischer Schönheit, aber was uns vor allem berührt, ist die Zärtlichkeit, die durch die Gesten zu ahnen ist (…) diese Feinheit der Gefühle John Neumeiers wird hervorragend von zwei hochsensiblen Tänzerinnen ausgedrückt: Anna Grabka (Aase) und Gigi Hyatt (Solveig).
Peer Gynt wird von dem herrlichen Ivan Liska verkörpert. Eine lebendige Skulptur, die mit wunderbarer Natürlichkeit alle Widersprüche des Helden vereint und gleichzeitig die Frische, die Ungezwungenheit, die Kraft und auch die Tiefe der Figur besitzt.
France-Soir
John Neumeier ist einer der wenigen Vier-Sterne-Choreographen. Sein „Peer Gynt“, den er zum erstenmal außerhalb Hamburgs zeigt, ist ein absolutes Meisterwerk.
30.1.1990
„Peer Gynt? Das soll ja so anstrengend sein“ – zwei Geschäftsleute, es auf den Punkt bringend.
Wir hingegen schreiben mit Kreide auf die bewußte Stufe: „No. 19! You’re in!“
Roy Wierzbicki („You’re out!“), heute eine langbeinige Corps-de-Ballet-Tänzerin mit „Ellen Kessler, auf Wiedersehen!“ verabschiedend.
[1] Programmheft zur Uraufführung „Peer Gynt“, Ballett von John Neumeier, Musik von Alfred Schnittke, Hamburgische Staatsoper, 22. Januar 1989
[2] Zwanzig Jahre John Neumeier und das Hamburg Ballett 1973 – 1993, Hamburg 1993, S. 170 ff.
Ja, das ist groß und schauerlich. Ich habe mich immer zu lange in Solveig hinein versetzt und schließlich das Sehen für Blindsein gehalten! Das Blindsein für Sehen zu halten, benötigt nicht nur Glauben (im Herzen), es benötigt „Weitsicht“! Der Blog ist wunderbar, vor etwa 9 Monden bin ich auf Aljoscha gestoßen und frage mich seither, wie es sein kann, dass sein Autor noch lebendig ist. So ein Werk kenne ich von Dostojewski, Stendhal und Co., aber nicht von Lebenden! Oh, sorry, wie unsensitiv! Verraten Sie mir, bitte, wieviele Monde Sie zum Mond blicken mussten, um das zu schreiben? Profan gefragt: Wie lange haben Sie benötigt, bis es so war………! In jedem Fall geträumte Grüße und weiter so…!
12.02.2012
Antirationalistischer Block / Christian Erdmann:
Monika: hab ja nur zusammengetragen. Aber wie ich schon sagte: kämpfen bis zum letzten Blutstropfen für das Bedeutende. :)
14.02.2012
AugenBlickerin:
Wieder einmal eine unglaublich schöne Collage – brewed by C. E., dem rote-Kochjacke-Träger als Expert Witness der wahrhaftigsten aller Bedeutungen. Hergestellt ganz ohne Beachtung des Deutschen Reinheitsgebots, wie es – unter vielem anderem – Deine phantastische Art ist. Vielen Dank!
02.03.2012
James Blond:
Vielen Dank und ein großes Kompliment für diese Peer Gynt Gestaltung! Lass Dich dafür ganz herzlich drücken!
Das ist so viel mehr als nur eine „Zusammenstellung“ – und sie ist herrlich ego-frei! Vor allem dies charakterisiert Deine Gestaltungen: sie geschehen aus einem tiefen Interesse, mehr noch: aus einer Bewunderung, Ehrfurcht vor den Dingen, aus Liebe und lassen den Künstler (d.h. jetzt: Dich) selbstlos nahezu vollständig in den Hintergrund treten. Das ist rar geworden. Kein Ich-Geblähe, keine Egomanien, kein Befindlichkeitsmonolog, kein Selbstdarstellungsmarathon. Dafür ein klarer, offener Geist, ein sehendes Auge und die Fähigkeit zu eigenen Gedanken. Eigentlich schon zu schade für diese Welt.
„La Bayadère“ gilt als „heiliges Ballett“. Die Choreographie ist von Marius Petipa, die Musik von Léon Minkus. Die Ovationen nach der Uraufführung des Balletts am 23. Januar / 4. Februar 1877 in St. Petersburg sollen über eine halbe Stunde gedauert haben. Im Mittelpunkt der Handlung, die im alten Indien spielt, steht die tragische Geschichte der unmöglichen Liebe zwischen der Bayadère (Tempeltänzerin) Nikiya und dem edlen Krieger Solor. Das Ballett hatte ursprünglich vier Akte, mittlerweile endet es nach dem dritten Akt, dem „Königreich der Schatten“.
Ausserhalb Russlands war „La Bayadère“ lange nahezu unbekannt; das Kirov-Ballett aus Leningrad – mit Rudolf Nurejew – tanzte den Schattenakt 1961 in Paris, doch erst 1980 brachte Natalia Makarova mit dem American Ballet Theatre das Ballett in voller Länge auf eine westliche Bühne. „La Bayadère“ war auch das letzte Ballett, das Rudolf Nurejew als Choreograph in Paris inszenierte, die Premiere im Palais Garnier war am 8.10.1992.
„La Bayadère was also the final task in a life totally devoted to the dance: Rudolf Nureyev – in spite of his illness – worked on staging this ballet and attended rehearsals until the opening night on October 8th 1992 at the Palais Garnier.
After the curtain calls congratulating the soloists, the corps de ballet and the conductor, the curtain rose once again. This time, Rudolf Nureyev was there, dressed up, with a red scarf over his shoulder, taking his bow between Isabelle Guérin and Laurent Hilaire, with Elisabeth Platel at his side. The public fell silent for a moment, hesitant when faced with this brave and illustrious man, thin but standing proud, defying his illness. The audience rose as one and burst into applause.
They understood that they were seeing him for the last time. A triumph riddled with emotion that paid homage, not only to a handsome performance, but also to the fate of a man who « went around and came around »… he had performed on this very same stage at the Palais Garnier in the « Shades » scene of La Bayadère and he was now leaving us with his own production of La Bayadère in three acts, as if it were his last will and testament left to the Paris Opera Ballet.“ [nureyev.org]
Nikiya stirbt im 2. Akt, von einem Schlangenbiss ermordet, in Solors Armen. Von Nikiyas Tod überwältigt, betäubt sich Solor mit Opium: dies führt uns in das „Königreich der Schatten“, eine Vision des Jenseits, in dem Solor die Geliebte wiederfindet. Dieser 3. Akt beginnt mit einem der berühmtesten und schönsten Auftritte des klassischen Balletts, als sich die Prozession von 32 Tänzerinnen in tranceartig wiederholten Arabesque penchées auf die Bühne ergießt: tiefe Verbeugungen, bei denen ein Arm zu seiner maximalen Länge ausgestreckt wird, während das entgegengesetzte Bein weit und hoch nach hinten gestreckt wird. Für die Tänzerinnen eine höllische Anstrengung, für uns von heiliger Schönheit. Und falls ich noch in einer Opiumhöhle lande, this is the dream I want to see.
Solor, inconsolable, seeks refuge in his dreams. In his delirium, he sees ghostly figures, looming in the darkness. Among them is Nikiya. Solor loses contact with reality and follows his beloved in the Kingdom of Shadows…
Der 3. Akt von „La Bayadère“ mit dem Bolschoi-Ballett, Moskau, Olga Smirnova als Nikiya, Artemy Belyakov als Solor.
Nicht weit entfernt von meinem Neorenaissance-Schlößchen (a.k.a. Zauberberg für Idioten) gibt es eine Straße namens Beim Andreasbrunnen. Würde ich nicht ohnehin in Hamburg leben, wäre sie für mich ein Grund, nach Hamburg zu pilgern, denn in dieser Straße hatte der Komponist Alfred Schnittke sechs Jahre lang sein Domizil: von 1992 bis zu seinem Tod im August 1998 wohnte der 1934 in Engels an der Wolga geborene Schnittke im Altbau Nr. 5.
Bereits für „Endstation Sehnsucht“ hatte John Neumeier, Choreograph, Direktor des Balletts an der Hamburgischen Staatsoper und godlike genius, ein Werk Schnittkes verwendet, die Sinfonie Nr. 1. 1985 bringt Neumeier sein atemraubendes, herzzerfetzendes „Othello“-Ballett auf die Bühne; Schnittkes Concerto grosso Nr. 1 erklingt im 2. Akt, als Verzweiflung und Wahnsinn ihren Lauf nehmen. Ich sah dieses Ballett einige Jahre später zum ersten Mal, ich sah „Othello“ insgesamt siebenmal, stets in der Besetzung mit Gamal Gouda als Othello und Gigi Hyatt als Desdemona, beim ersten Mal ging ich allein, sechsmal dann mit IHR. Nach dem ersten Mal schrieb ich ihr.
„Mein Gott, der 2. Akt – als sich die Musik von Schnittke in das Stück bohrt wie die nagenden Würmer der Eifersucht in Othellos Herz – wie er zusammenbrach unter dem Hohnlachen Jagos und der Primavera. Ich weiß nicht, irgendwas stimmt nicht mit mir, wenn ich im Ballett bin. All das nahm mich so sehr in Bann – so muß das griechische Theater gewirkt haben, mit dem, was Aristoteles Katharsis nannte. Jago trieb mich in die Vorstellung, wie es sein müßte, Dich in fremden Armen zu wissen – so zu fühlen, und – als Zuschauer – doch gleichzeitig zu wissen, daß Desdemona unschuldig ist … es zerriß mich. Die Szene, als die letzte der Grazien – die letzte Erinnerung an das Schöne, das letzte mögliche Zurück – fällt, und Othello Desdemona festhält – ihr Entsetzen, namenlos – und wie Gamal Gouda von nun an für lange qualvolle Minuten nur noch düsterste Entschlossenheit ausstrahlt, das ist so erschütternd.
Und als Othello Desdemona schließlich tötet, gleich darauf mit der blitzartigen Erkenntnis ihrer Unschuld alles über ihm zusammenbricht – die Minuten, in denen Gamal Gouda vor ihr saß, gebrochen, regungslos, leer, dumpf, mit einem Gesichtsausdruck, der nicht mehr von dieser Welt war, in dem alle Vergeblichkeit, alles Scheitern, alle Verblendung war, grenzenloses Geschlagensein, der allerletzte Blick, der dem Menschen möglich ist, der betrogen ist, der sich aufgelehnt hat und nun erkennt, daß er das einzige getan hat, was nicht wiedergutzumachen ist, daß er das einzige verloren hat, das einzige – ich hatte Tränen in den Augen. Und all das geschah ganz in Deiner Welt.“
Und all das geschah zur Musik von Schnittke, in der genau dies zu hören ist: „Selbst das Firmament ist erschüttert. Die Himmelssphären sind aus dem Gleichgewicht. Es ist, wie wenn der Wahnsinn von den Sternen auf die Menschen niederkäme.“ [1]
Desdemona. Der Shakespeare-Exeget Jan Kott sagt über sie: „Sie weiß nicht einmal, daß sie durch ihre bloße Anwesenheit beunruhigt, daß ihre bloße Anwesenheit ein Versprechen ist. Othello wird es erst erfahren, Jago weiß es von Anfang an. Desdemona ist treu, aber sie muß etwas von einer Dirne an sich haben. Nicht in actu, aber in potentia. Sonst kommt das Drama nicht zum Tragen. […] Desdemona ist besessen von Othello, aber alle Männer […] sind besessen von Desdemona.“ [2]
Nach der ersten Liebesnacht verhält Othello sich so, „… als hätte er eine andere Desdemona vorgefunden als die erwartete. […] Es ist, als ob ihn die Explosion der Sinne bei dem Mädchen verblüfft und schockiert hätte, das noch vor kurzem mit niedergeschlagenen Augen seinen Erzählungen lauschte. Desdemona fühlt sich von der ersten Nacht an als Geliebte und Frau. […] Je heftiger Desdemona sich in der Liebe vergißt, desto mehr wird sie in Othellos Augen zur Dirne.“ [3]
Jago, der dämonische, nihilistische Psychoanalytiker, bringt Othello dazu, Desdemona namenlose Orgien zuzutrauen. Und wenn seine Frau ihn betrügt, dann betrügt ihn das ganze Universum. „Die Engel verwandeln sich in Teufel. Allesamt.“ [4]
Ich verließ nahezu jedes Ballett von John Neumeier mit dem Gefühl, soeben sein bestes Werk gesehen zu haben – was nur beweist, daß er in Bereiche führt, in die das Sprechtheater – zumindest mich – niemals führen könnte. Der erste Pas de deux von Desdemona und Othello aber – zur Musik von Arvo Pärts „Mirror In A Mirror“ – ist das Bewegendste & zugleich Sensationellste, das man in der Weltgeschichte der Choreographie erleben kann… bis zum letzten Pas de deux von Desdemona und Othello.
„Tante Anna fragt ‚Geht ihr nur so hin, oder muß Deine Freundin auch tanzen?‘ Wir gehen nur so hin, nehmen ein Taxi – so daß Madame sich in der Halle der blauen Lichtpunkte die Nähte richten lassen kann – wir sehen die weißen Kostüme mit den Schildern MAZON, HERRMANN, CAZZANIGA, FEUILLETTE – Unser Platz ist ganz oben, am Rand, wenn wir uns umdrehen, sehen wir diesen kleinen Verschlag, in dem Tänzer sich umkleiden – wir hören die Moresca-Glöckchen [5] – Eric Miot zieht den Vorhang zu und grinst zu mir hoch – I’ll never forget the picture. Er zerbricht wieder seinen Stock. OTHELLO. Ich könnte es jeden Tag sehen.“
Says my diary. Das Areal der alten Maschinenfabrik war noch angenehm unübersichtlich, und von der Halle der blauen Lichtpunkte bewegten wir uns unbemerkt an den Kanal, sie hielt sich fest an einem Geländer, und unter dem Großen Wagen schoß eine Fontäne Mondlicht in sie – Schnittke zum Concerto grosso Nr. 1:
„Das Klavier wird durch einige zwischen die Saiten geklemmte Münzen klanglich verfremdet und dabei durch Mikrophon verstärkt – es symbolisiert sozusagen eine äußere Macht in diesem Stück.“ [6]
Concerto grosso Nr. 1 (1976/77) für zwei Violinen, Cembalo, präpariertes Klavier und Streichorchester Gidon Kremer, Tatiana Grindenko – violin Yuri Smirnov – harpsichord & prepared piano The Chamber Orchestra of Europe, Heinrich Schiff – conductor
1989 arbeitete Neumeier mit Schnittke für das Ballett „Peer Gynt“ zusammen – extensive Würdigung meinerseits
Wünschte, ich könnte Euch zu einer Synapsenkonferenz einladen, um 130 Minuten „Peer Gynt“ von Alfred Schnittke zu hören. Nach seinem Schlaganfall 1985, Schnittke war klinisch tot, sprach er von einer grundlegenden Veränderung seines Zeitgefühls, von einer neuen Fähigkeit, „die sich nämlich ausdehnende Zeit zu empfinden.“ Genau darin muß das Geheimnis seiner „Peer Gynt“-Musik liegen. Wie in Marienbad halt.
02.07.2011, SPIEGEL ONLINE Forum
Alfred Schnittke, der Epilog aus der phantastischen Ballettmusik zu „Peer Gynt“, „Aus der Welt / Out of the World“. Wenn man die ganze Ballettmusik durchgehört hat, ist man hier bereits komplett durch den Wind, und der Epilog stellt merkwürdige Dinge mit einem an. Die letzten fünf Minuten sind überirdisch. Kopfhörer sinnvoll.
„Peer Gynt“ ist in einer Aufnahme mit dem Orchester der Königlichen Oper in Stockholm unter Eri Klas erschienen. „Oft trägt mich die Musik, dem Meere gleich, zu meinem bleichen Stern“ (Baudelaire).
Die Schattenklänge, mit denen „Peer Gynt“ endet, beschwor Schnittke auch am Anfang seiner 3. Symphonie, dieses „Moderato“ beginnt so unwirklich, wie Musik nur selten wird – als wäre der Beginn des „Rheingold“ in den Kopf eines Mannes verlegt, der soeben erkennt, daß es wirklich ein Traumland gibt: weil er sich darin in Zeitlupe bewegt und zusieht, wie die Dimensionen sich aufheben.
Meine Aufnahme ist vom „USSR Ministry of Culture Orchestra“ unter Gennady Rozhdestvensky, ich weiß nicht, ob die noch erhältlich ist.
„I set down a beautiful chord on paper – and suddenly it rusts.“ – Alfred Schnittke
Zugabe: ein 3-Minuten Exzerpt des ersten Pas de Deux von Othello und Desdemona, Musik Arvo Pärt.
„Master and Margarita“, Filmmusik.
Musik für den sowjetischen Film „The Story of Voyages“ / „The Fairytale of the Wanderings“ / -> Сказка странствий, 1983, arrangiert von Frank Strobel.
[1] Jan Kott, Die zwei Paradoxe des Othello, Programmheft zu „Othello“, 13 (aus: Shakespeare heute, 1964) [2] ebda. 19 ff. [3] ebda. 20 [4] ebda. 23 [5] Soldaten mit Glöckchen / Schellen an den Knien, die Tänzer der Moresca, zu denen die von uns sehr geliebten Eric Miot und Stephen Pier gehörten. [6] ebda. 62
Eines Tages aus einem Antiquariat in Kopenhagen mitgenommen:
Programm „Mindefesten [Memorial] for Anna Pavlova“, Det Kongelige Teater Kopenhagen, 23. Januar 1936
Programm „Pawlowa“, Deutsches Schauspielhaus Hamburg, 10. Januar 1928.
Zur Aufführung kamen „Don Quijote“ mit Anna Pavlova als Kitry sowie Divertissements, in No. 2 Anna Pavlova als Sterbender Schwan.
Auszug aus diesem Heft:
„Schwebend, entschwindend und bald wieder erscheinend, durchsichtig wie ein Phantom, scheint sie die Gestalt einer Nymphe aus dem Zauberreich. Ihre weiten Aufflüge entführen sie der Erde, entgegen allen Gesetzen der Physik.
Die besondere Eigenart ihres Talentes ist in ihrem immateriellen Wesen verborgen, das sie von allem was auf der Erde lebt wegzureissen scheint. Sie wurde zur Prinzessin eines verzauberten Landes, die über Wald-, Luft- und Wassernymphen herrscht, zur Prinzessin eines wundervollen Märchenreiches von Träumen und Schemen, die kommen und entschweben.
Pawlowa ist es gelungen, den Geist des Tanzes selbst in ihrer Person zu verkörpern, und das ist ihr Genie.
Sie ist DIE Tänzerin, sie ist DER TANZ.“
Victor Dandré wrote that Pavlova died a half hour past midnight on Friday, 23 January 1931, with her maid Marguerite Létienne, Dr. Zalevsky, and himself at her bedside. Her last words were, „Get my ‚Swan‘ costume ready.“Dandré and Létienne dressed her body in her favorite beige lace dress and placed her in a coffin with a sprig of lilac.
In accordance with old ballet tradition, on the day she was to have next performed, the show went on, as scheduled, with a single spotlight circling an empty stage where she would have been.
[wiki]
Anna Pavlova starb in einem Zimmer des Hotel des Indes in Den Haag. Am 18. August 2016 standen wir davor.
Am Abend des 29. Mai 1913 kommt es im Pariser Théâtre des Champs-Elysées zu einem der größten Skandale der Bühnengeschichte: die Ballets Russes unter der künstlerischen Leitung von Sergej Diaghilew führen das Ballett „Le Sacre du Printemps“ auf. Komponist der Musik ist Igor Strawinsky, für Bühnenbild und Kostüme ist der Maler Nicholas Roerich verantwortlich, die Choreographie ist das Werk des vielleicht besten, gewiß aber faszinierendsten Tänzers, den das 20. Jahrhundert sah, Vaslav Nijinsky.
Das Ballett erlebt nur wenige Aufführungen. Während der Tänzer Nijinsky als „Gott des Tanzes“ verehrt wird, gilt er dem nach der Uraufführung grollenden Strawinsky als „unmusikalischer Dilettant“, dessen Choreographie ein grandioser Mißerfolg gewesen sei. Nijinskys Arbeit gerät in Vergessenheit und scheint unwiderruflich verloren. Nijinsky selbst lebt seit den Zwanziger Jahren bis zu seinem Tod im Jahre 1950 in geistiger Umnachtung.
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bahnt sich ein Wandel an; so plant der britische Regisseur Tony Richardson Ende der Sechziger einen Spielfilm über Nijinsky mit Rudolf Nurejew in der Hauptrolle, das Projekt scheitert jedoch. Aber die Berichte über die Uraufführung des Sacre finden neues Interesse, und die Ahnung, welch einzigartige und überwältigende Schöpfung Nijinskys Choreographie gewesen sein muß, führt zu ersten Versuchen, das Werk zu rekonstruieren. 1987 sind diese Bemühungen schließlich von Erfolg gekrönt: 74 Jahre nach der Uraufführung bringt das Joffrey Ballet die von der US-Tanzwissenschaftlerin Millicent Hodson in Zusammenarbeit mit dem englischen Kunsthistoriker Kenneth Archer erstellte Rekonstruktion zur Aufführung, zunächst in Los Angeles und New York, dann in Europa:
„… es übertrifft alle Erwartungen, denn was man schon durch das Studium der Rezensionen zu wissen glaubte, bestätigt sich jetzt: Nijinskys Choreographie ist ein Meilenstein in der Tanzgeschichte; sie kann als die erste moderne Choreographie bezeichnet werden.“
Mehr noch als die unerhörte Musik Strawinskys war die Choreographie Nijinskys im Jahre 1913 siriusweit entfernt von dem, was als „schön“ galt. Strawinskys Musik indes fand Anhänger, die schließlich genau dies in ihr fanden: Schönheit. Nijinskys Choreographie jedoch traf das härteste Prinzip der Machtausübung: das Ignorieren. Das Ungeheuerliche wurde der Öffentlichkeit entzogen, die Choreographie vorsätzlich zu Tode vergessen. Der lange Weg, den „Le Sacre du Printemps“ nahm, um von verstörender Kunst in das Reich des Schönen zu gelangen, beginnt, als einer der Abtrünnigen heroisch seine Bürde trägt:
„Heute, den 4. XI. 1912, Sonntag, unter unerträglichen Zahnschmerzen, habe ich die Musik des Sacre beendet. I. Strawinsky, Clarens, Chatelard Hotel.“
„Eines Morgens kam ich früher hinauf als sonst“, schreibt Tamara Karsawina über ihre Zeit an der Ballettschule des Marinsky, „die Jungen waren gerade mit dem Training fertig. Ich warf einen Blick in die Runde und traute meinen Augen nicht; ein Junge stieg beim Sprung über die Köpfe der anderen und schien in der Luft zu verharren. ‚Wer ist das?‘ fragte ich Michail Obuchow, seinen Lehrer. ‚Das ist Nijinsky. Der kleine Teufel landet nie mit der Musik‘.“
Seit Obuchow beschlossen hatte, seinen Wunderschüler der Öffentlichkeit zu präsentieren, hatten Nijinskys „Macht, die federnde Leichtigkeit, die stählerne Kraft, die Anmut seiner Bewegungen, die unglaubliche Gabe aufzusteigen, in der Luft zu bleiben und – gegen alle Gesetze der Schwerkraft – doppelt so langsam wie beim Aufschwung wieder abzusteigen; die Ausführung der schwierigsten Pirouetten und tours en l’air mit erstaunlicher Nonchalance und offenbar ohne die geringste Anstrengung bewiesen, daß dies außerordentliche Wesen die Seele des Tanzes war.“ (Romola Nijinsky)
„Seine unglaubliche Fähigkeit, fast zu fliegen, schlug das Publikum in Bann, und sein entre-chat dix war ein weiteres Wunder.“ Der entre-chat ist ein Senkrechtsprung, bei dem die Füße einige Male in der Luft gekreuzt werden; Nijinsky führte diese Bewegung im Sprung also zehnmal aus. Die Regel waren sechs, in seltenen Fällen acht entre-chats.
Nijinskys Physiognomie schien sich mit jeder Rolle, die er tanzte, zu verändern; wo der eigentliche Nijinsky existierte, blieb ein Rätsel.
„Sobald er auf der Bühne erschien, fuhr in das von seiner Reinheit und Perfektion hypnotisierte Publikum ein elektrisches Beben. Alle Augen folgten ihm von einer Bühnenseite zur anderen, die Zuschauer waren gleichsam hilflos, in Trance.“ (Romola Nijinsky)
Anläßlich des ersten Pariser Gastspiels der Ballets Russes schrieb Henry Gauthier-Villars:
„Ich würde sie alle feiern, wenn ich mich nicht gezwungen sähe, vor allem den Tänzer Nijinsky zu preisen, das Wunder aller Wunder, den Meister der Entrechats… Als er schwebte und lautlos in den Kulissen landete, entrang sich den Damen ein ungläubiges Ah! Es war wahrhaft der Sprung der Seufzer.“
Nijinsky selbst trug wenig dazu bei, das Rätsel, das um ihn war, zu lösen; als man ihn fragte, ob es nicht sehr schwierig sei, beim Sprung in der Luft zu schweben, sagte er freundlich: „Nein, nein. Nicht schwierig. Man muß nur hochspringen und oben ein bißchen warten.“
Die Ballett-Tradition erhob nicht die natürliche Schönheit des sich bewegenden Körpers, sondern die Kunstschönheit des zum Zeichen stilisierten Körpers zum Ideal. Das Ziel der Tanzkunst im klassischen Ballett heißt: weg von der Erde, weg von der Bindung des Körpers an die Schwerkraft; gleichsam das Antigrave, wie es Kleist in seinem Aufsatz über das Marionettentheater beschreibt:
„Zudem, sprach er, haben diese Puppen den Vorteil, daß sie antigrav sind. Von der Trägheit der Materie, dieser dem Tanze entgegenstrebendsten aller Eigenschaften, wissen sie nichts: weil die Kraft, die sie in die Lüfte erhebt, größer ist, als jene, die sie an der Erde fesselt. […] Die Puppen brauchen den Boden nur, wie die Elfen, um ihn zu streifen, und den Schwung der Glieder, durch die augenblickliche Hemmung neu zu beleben […]“
Auch die Tänzerin im klassischen Ballett erreicht den Schein des Schwebens – seit Marie Taglionis legendärer Innovation -, indem sie sich auf die Fußspitze erhebt und den Boden nur noch so berührt, als würde sie ihn gleich verlassen; als wäre das der Schwerkraft Entgegenwirkende in ihr. Nijinsky hat wie kein anderer männlicher Tänzer dieses Ideal der Schwerelosigkeit und Entmaterialisierung des Körpers umzusetzen vermocht.
1912 trat Nijinsky, ermuntert von Diaghilew, zum ersten Male als Choreograph in Erscheinung; aus dem darstellenden wurde der schöpferische Künstler. Mit der Choreographie zu Debussys „L’après-midi d’un Faune“, Nachmittag eines Fauns, schuf Nijinsky bereits eine vollkommen neue Technik, die von den Tänzern eine ungeheure Willensanstrengung verlangte: nach 120 Proben wurde das 12minütige Werk am 29. Mai 1912 in Paris uraufgeführt.
Es gab im Faun keine Sprünge mehr, keine Elevation, keine Schwerelosigkeit, nur noch halbbewußt wirkende, animalische Gesten und Posen, sonderbar abrupte Bewegungen, und vor allem: die Tänzer kehrten dem Publikum durchgehend ihr Profil zu, was den Eindruck von Zweidimensionalität hervorrief, an ein bewegtes Relief erinnerte. Historiker sind sich nicht einig über Nijinskys aufsehenerregende erotische Bewegung, die er als Faun zuletzt auf dem Schleier einer Nymphe vollführt und die als Obszönität in die Geschichte einging. Das Publikum war während des Balletts mucksmäuschenstill; am Ende wurde laut gebuht, gerufen, gepfiffen und geklatscht. Diaghilew war sichtlich außer Fassung, Nijinsky davon überzeugt, daß seine erste Choreographie durchgefallen war. Diaghilew ließ das Werk an Ort und Stelle wiederholen. Auguste Rodin würdigte das Ballett wie die Entdeckung einer neuen Welt; Calmette hingegen, der Direktor des „Figaro“, mobilisierte voller moralischer Entrüstung halb Paris, um Nijinsky zu verdammen.
Nijinsky hatte den ersten radikalen Schritt getan, indem er Grazie, Anmut und die gesamte klassische Tradition des Antigraven verbannte. Léon Bakst hatte Nijinsky im Louvre vor die griechische Vasenmalerei geführt, was offensichtlich Eindruck hinterlassen hatte. Die Tänzer schienen sich in parallelen Furchen zu bewegen und wurden zudem so beleuchtet, daß sie möglichst „flach“ wirkten, zweidimensional. Nijinsky wandte auch, zum ersten Mal in der Tanzgeschichte überhaupt, Bewegungslosigkeit an, als erster ihren Effekt für die Handlung eines Ballets erkennend. Ballettomanen der klassischen Ausrichtung sprachen von „Verrenkungen“ und bestritten, daß es sich überhaupt um Tanz gehandelt habe.
„Weg mit den Anekdoten“, so Nijinsky 14 Tage vor der Uraufführung des Sacre, „weg mit (…) den mehr oder weniger guten Wendungen in der Handlung. Betonen wir ausschließlich die Plastizität der Bewegung um ihrer selbst willen. Suchen wir ihre reiche und unendlich nuancierte Arabesque im Raum; beachten wir ihre Akzente, ob sie nun leidenschaftlich oder graziös sind, und wir bringen damit all den Adel und die Reinheit einer Kunst, die aus all den Konventionen unserer theatralischen Ästhetik herausragt.“
Oder, wie Nijinsky auf die Frage, wie der „Sacre“ werde, sagte: „Oh, er wird Ihnen auch nicht gefallen“ (er vollführte eine abrupte Seitwärtsbewegung aus dem „Faun“), „mehr von der Art.“
Während Strawinsky in St. Petersburg die letzten Seiten des „Feuervogel“ zu Papier brachte, überkam ihn plötzlich „die Vision einer großen heidnischen Feier: alte weise Männer sitzen im Kreis und schauen dem Todestanz eines jungen Mädchens zu, das geopfert werden soll, um den Gott des Frühlings günstig zu stimmen.“
In späteren Gesprächen mit Robert Craft erklärt Strawinsky:
„Ich hatte eine Szene eines heidnischen Rituals geträumt, in dem eine auserwählte Opferjungfrau sich zu Tode tanzt. Doch diese Vision war nicht von konkreten musikalischen Ideen begleitet.“
Sie muß jedoch von zwingender Gewalt gewesen sein. Strawinsky besprach sich unverzüglich mit Nicholas Roerich, einem profunden Kenner slawischer Frühgeschichte, „denn wer sonst kennt das Geheimnis der engen Verbundenheit unserer Vorväter mit der Erde? Wir schufen das Libretto in wenigen Tagen.“
Auf Crafts Frage, „Was liebten Sie am meisten in Rußland?“, antwortet Strawinsky: „Den heftigen russischen Frühling, er schien in einer Stunde zu beginnen, und die ganze Erde schien mit ihm aufzubrechen.“
An Roerich schreibt Strawinsky im März 1912: „Es scheint mir, daß ich in das Geheimnis des Frühlingsrhythmus eingedrungen bin und daß die Musiker es fühlen werden.“
Die Musiker fühlten es nicht. Pierre Monteux, der Dirigent, konnte sie nur mit einiger Mühe davon überzeugen, daß Strawinskys Partitur ernst gemeint sei. Strawinsky selbst hatte Schwierigkeiten, die abschließende „Danse sacrale“ des Sacre zu notieren. Nijinskys gewaltige Aufgabe bestand darin, ein choreographisches Äquivalent für die atemberaubende Komposition zu finden. Seine Erfindungen hatten nichts mit klassischer Virtuosität zu tun, waren aber so schwierig, daß nur die professionellsten Tänzer sie meistern würden. Nijinsky hatte zusammen mit Marie Rambert begonnen, die Partitur zu erarbeiten. Mlle. Rambert konnte kaum erkennen, wann eine Phase aufhörte und eine andere begann, so neuartig, so gebrochen, so sonderbar verzahnt waren Strawinskys Rhythmen. Aber sie bewunderte die bewußt linkischen und unklassischen Posen, in denen Nijinsky seine Tänzer gruppieren wollte. Nijinsky hatte erhebliche Schwierigkeiten, der Truppe seine Absichten zu vermitteln, und die Tänzer nahmen seine Experimente nicht ernst, fühlten sich als Künstler mißachtet. Den Augenblick, in dem Nijinsky der unglücklichen Maria Piltz, die die Auserkorene tanzen sollte, die abschließende „Danse sacrale“ selbst vortanzte, um die Verständnisschwierigkeiten zu lindern, schilderte Marie Rambert später als einen der bewegendsten Momente ihres Lebens.
Einen Schlüssel zu dieser Partitur zu finden, „war eine Aufgabe, die den erfahrensten Choreographen, den gewieftesten Musiker zur Verzweiflung bringen konnte. Nijinsky war weder das eine noch das andere. Er hatte nur seine Vision und sein Genie.“
Befehle des Himmels! Befehle des Himmels!
Pferdeschädel, die auf Pflöcken stecken. Eine heidnische Opferstätte, der Himmel blutrot. Das Ende einer Frühlingsnacht im Herzen Rußlands. Der Sterndeuter hält die Arme ausgestreckt. Einige wollen fliehen aus dem Kreis, aber man kann nicht fliehen vor dem Schauerlichen. Die Stille kommt aus dem Schlund des Unsichtbaren.
Vielleicht die Nacht eines 28. April, vor über tausend Jahren. Die Mönche aus dem Westen fänden hier nur Götzenbilder, aber noch hat keiner einen Fuß gesetzt auf diese düstere Erde. Wintertodesstarre liegt noch auf dem Land, die Hunde knurren, Rauch steigt auf. Brennende Augen in Erwartung der Zeichen, die latente Panik der Bewegungen wird langsam zu panischer Lust. Ein unheimlicher Vogelschrei. Zitternde Mädchen in einem mystischen Reigen. Dann plötzlich bricht der Himmel auf. Das Ritual beginnt.
Nichts mehr zwischen den Menschen und ihrem Verhängnis. Ein Mädchen spürt, daß sie die Auserwählte ist, der Welt entrückt, ihren Schwestern entrückt, plötzlich sehr allein – und voller Ehrfurcht vor der unausweichlichen Bestimmung. Sie friert. Sie wird den Mittag nicht erleben. Sie wird das Opfer für den Frühling sein. Während die Ritualmusik zerfetzte Rhythmen und gellende Dissonanzen übereinander türmt, fällt das Mädchen in Trance. Etwas in ihr kämpft noch an gegen den Willen, der sich steigert und sie umringt. Ihre Augen sind weit aufgerissen, der Rhythmus schleudert sie empor, immer wieder, noch fängt sie sich, scheint zu warten auf den nächsten Stoß, der sie verrenkt. Bewegungen, die so wirken, als wäre ihr die Seele schon genommen, verzerren ihre Glieder, das sind nicht mehr ihre eigenen Bewegungen, ihr Taumel kommt ins Ausweglose, ihre Beine knicken ein, sie fällt. Noch einmal steht sie auf und schleppt sich weiter. Dann stürzt sie endgültig zur Erde. Und die Priester kommen und heben ihren Leib empor, damit das Göttliche in das Opfermädchen ejakuliert.
Die Musik, brachial, beängstigend, stieß mit einer Kraft zu, die ein Mammut zusammensinken lassen mußte. Mit jeder Minute verstärkte sie den Erdpuls auf das Trommelfell aus Menschenhaut. Bisweilen herrschte in ihr zwielichtige Schönheit, aber die wenigen Melodien kreisten wie argwöhnische Raubvögel. Über einer schon unzählige Male von allem Leben verlassenen Welt lag die ständige Präsenz eines unvorstellbar Anderen. Das war Le Sacre du Printemps von Igor Strawinsky.
Nijinsky hatte dazu ein Ballett gemacht, das keines war; die Mädchen und die Männer, die auf den Bühnenbrettern tanzten, schienen der Gewalt tatsächlich ausgeliefert. Die Uraufführung in Paris, im Jahre 1913, wurde zum Inferno. Das erlauchte Auditorium verlor komplett die Fassung. Die Leute pfiffen, schrien, gaben Tierlaute von sich, beleidigten die Tänzer, beleidigten sich gegenseitig, es gab Handgemenge, Ohrfeigen, Boxhiebe, Stiche mit Hutnadeln, Austausch von Karten und Verabredungen zum Duell, Ohnmachts- und Taubheitsanfälle. Alles während der Aufführung.
Aljoscha konnte es nicht vergessen, das Mädchen mit den aufgerissenen Augen und den langen schwarzen Zöpfen; während ihr Blick starr geradeaus ging im Horror vor dem Ungeheuerlichen, sprang sie immer wieder auf derselben Stelle empor, als würde die lüstern pulsierende Erde erbarmungslose Schocks versetzen, archaischer Terror ging ihr an den Leib, und das Unheimliche war, sie verzog bei alldem keine Miene. Ihr Gesicht war wie das einer Puppe mit schreckstarren Augen.
Und Aljoscha hatte sie verstanden.
Musik, aus der es kein Entkommen gab, Musik, die unausweichlich ihre Opfer fand, die schmerzenden Dissonanzen, sie würden keine Auflösung mehr finden. Aber er würde keine Miene verziehen. Gewillt, sich dieser Macht zu geben, die sinnvoll zu beschreiben nur durch Anagramme eines Analphabeten möglich war, stand Aljoscha in der Nacht der Pferdeschädel und erwartete den Anbruch eines Morgens, der anders wäre, unvorstellbar anders.
Eine Nacht mit Nijinsky: erst die Marionette, die gegen die Mechanik aufbegehrt und ihr eigenes Spiel beginnt. Und dann die Gewißheit, daß ein Opfer bevorsteht, eine Existenz, bei der sich alle Rhythmen selbst in Fetzen reißen und das Publikum vor Abscheu alle Wände hochgeht. Aljoscha, der das Gefühl hatte, daß sich auf seinem Körper ein archaisches Symbol abzeichnete, besorgte sich am nächsten Tag Strawinskys Le Sacre du Printemps,und er hörte die Musik an jedem dunklen Januarmorgen, noch bevor er aufbrach, und in jeder Nacht, um seine Träume zu dirigieren.
(Christian Erdmann, „Aljoscha der Idiot“)
Wie Igor Strawinsky sich erinnert,
„war die Generalprobe völlig ruhig verlaufen. Bei ihr waren, wie gewöhnlich, zahlreiche Künstler, Maler, Musiker, Schriftsteller und die kultiviertesten Mitglieder der Gesellschaft zugegen. Ich war daher meilenweit davon entfernt, den Wutausbruch vorauszusehen, den die Aufführung auslöste.“
Strawinskys Überraschung, auch wenn sie Spuren von Koketterie enthält, muß blauäugig anmuten, wenn man bedenkt, daß die Generalprobe vor einem Personenkreis stattfand, der durchaus der Avantgarde zuzurechnen war: eine recht erlauchte Zusammensetzung, die dem Affront gegen das Schöne, wenn sie ihn schon nicht selbst anzettelt, zumindest offener gegenübersteht als ein Pariser Premierenpublikum. Jean Cocteau gibt eine realistischere Einschätzung:
„Für ein erfahrenes Auge sind dort alle Grundstoffe für einen Skandal vorhanden: das mondäne Publikum, dekolletiert, mit Perlen, Brillanten und Straußenfedern aufgetakelt; und neben den Fräcken und Abendroben die auffallenden Joppen, Schleier, Lumpen jener Art Ästheten, die dem Neuen aus Haß gegen die Logen blindlings Beifall spenden … Aber ich will darauf verzichten, die tausend Nuancen des Snobismus, Übersnobismus und Gegensnobismus aufzuzählen … Bei der Uraufführung des Sacre spielte der Saal die Rolle, die er spielen mußte …“
Auch Cocteaus Einschätzung kann jedoch nicht ausreichen, um den Skandal um „Le Sacre du Printemps“ zu erklären, denn die Konstellation des Publikums, die er beschreibt, hat es bei unzähligen Premieren gegeben. Das Ausmaß der Erregung läßt sich nur durch das Schockierende der Darbietung selbst erklären.
Scherliess bemerkt, daß
„zur Generalprobe am Vortage die gesamte Presse eingeladen war und daß somit im Publikum von vornherein eine ausgelassene, aufgeheizte Stimmung herrschte – man sang, pfiff, applaudierte und rief ironische Bravos in Erwartung des Ungeheuerlichen, noch bevor die Aufführung begonnen hatte.“
Die Mehrzahl der Augenzeugenberichte stimmt jedoch darin überein, daß der Tumult erst mit dem Einsetzen der Musik seinen Lauf nahm. Daß die Stimmung im Publikum zu Befürchtungen Anlaß geben mußte, ahnte indes auch Romola de Pulszky, die noch im Jahr 1913 mit Nijinsky vor den Traualtar trat; sie kommt der Wahrheit wohl am nächsten:
„Ich rechnete damit, daß das Publikum vielleicht unruhig werden könnte, aber niemand in der Truppe war auf das gefaßt, was dann geschah.“
Die Compagnie war nach unzähligen Proben und der gut verlaufenen Generalprobe zuversichtlich und wiegte sich womöglich in falscher Sicherheit.
„Die ersten Klänge der Ouvertüre wurden unter Gemurmel angehört, aber sehr bald benahm sich das Publikum nicht wie das würdige von Paris, sondern wie eine Horde unartiger, schlecht erzogener Kinder.“ (Romola Nijinsky)
„Der Saal revoltierte von Anfang an. Man lachte, pfiff, höhnte, ahmte Tierstimmen nach… “ (Jean Cocteau)
Valentine Gross hatte 100 Studien des Russischen Balletts, darunter 50 von Nijinsky, im Rangfoyer des Theaters ausgestellt. Sie berichtete später:
„Nichts von all dem, was je über die Schlacht des Sacre du Printemps geschrieben wurde, vermittelt einen schwachen Eindruck von dem tatsächlichen Geschehen. Das Theater schien von einem Erdbeben heimgesucht zu werden. Es schien zu erzittern. Leute schrien Beleidigungen, buhten und pfiffen, übertönten die Musik. Es setzte Schläge und sogar Boxhiebe. Worte reichen nicht, um eine solche Szene zu beschreiben.“
Schon während der Einleitung hatte Strawinsky angewidert den Zuschauerraum verlassen und war hinter die Bühne gegangen. Ein weiterer Augenzeuge, Carl van Vechten, schreibt:
„Ein Teil des Publikums erregte sich über das, was es als einen blasphemischen Versuch betrachtete, Musik als Kunst zu zerstören, und begann, vom Zorn hingerissen, kurz nach Aufgehen des Vorhangs zu miauen und mit lauter Stimme Vorschläge zu machen, wie die Vorstellung weitergehen solle. Das Orchester war nur dann zu hören, wenn eine leichte Beruhigung eintrat. Der junge Mann, der hinter mir in der Loge saß, stand während des Balletts auf, um besser sehen zu können. Die starke Erregung, die ihn gefangenhielt, äußerte sich darin, daß er mit seinen Fäusten rhythmisch auf meinen Kopf einhämmerte. Ich war selbst so außer mir, daß ich die Faustschläge eine Zeitlang gar nicht bemerkte.“
„In der Tat, die Aufregung, die Rufe entwickelten sich zum Paroxysmus. Die Leute pfiffen, beleidigten die Darsteller und den Komponisten, schrien, lachten.“ (Romola Nijinsky)
„Vielleicht wäre man dessen auf die Dauer müde geworden, wenn nicht die Menge der Ästheten und einige Musiker in ihrem übertriebenen Eifer das Logenpublikum beleidigt, ja tätlich angegriffen hätten. Der Tumult artete in ein Handgemenge aus.“ (Jean Cocteau)
Dem Kritiker Florent Schmitt wurde nachgesagt, durch seinen Ruf
„Die Huren aus dem sechzehnten Bezirk sollen schweigen!“,
mit dem er auf die ersten Unruhen reagierte, die Eskalation vorangetrieben zu haben. Der sechzehnte Bezirk war eines der vornehmsten Viertel von Paris. Der Dirigent der Uraufführung, Pierre Monteux,
„warf Diaghilew, der in Astrucs Loge saß und ihm Zeichen gab, weiterzuspielen, verzweifelte Blicke zu. In diesem unbeschreiblichen Durcheinander befahl Astruc, die Beleuchtung wieder anzuschalten, und die Auseinandersetzungen blieben nun nicht mehr auf Geräusch beschränkt, sondern arteten in Handgreiflichkeiten aus. Eine schön gekleidete Dame in einer Orchesterloge erhob sich und ohrfeigte einen jungen Mann, der in einer Nachbarloge zischte. Ihr Begleiter erhob sich und Karten wurden ausgetauscht. Ein Duell folgte am nächsten Tag. Eine andere Dame der Gesellschaft spie einem Demonstranten ins Gesicht.“ (Romola Nijinsky)
„Für kurze Zeit wurde die Ruhe wiederhergestellt, als auf einen plötzlichen Befehl die Lichter im Haus angingen. Ich stellte amüsiert fest, wie es in gewissen Logen, deren Insassen im Dunkeln lautstark gegeifert hatten, sehr schnell ruhig wurde, als die Lampen eingeschaltet worden waren …“ (Valentine Gross)
Diaghilew, der bleich in seiner Loge stand, rief: „Bitte! Lassen Sie die Vorstellung zu Ende gehen!“, und Astruc beugte sich aus seiner Loge und flehte: „Hören Sie erst zu! Pfeifen können Sie später!“
„Darauf trat eine gewisse Beruhigung ein, aber nur zeitweilig. Kaum war das erste Tableau beendet, fing der Kampf wieder an. Betäubt vom Radau, rannte ich so rasch ich konnte hinter die Bühne. Dort war es genau so schlimm wie im Zuschauerraum. Die Tänzer zitterten, waren den Tränen nahe; sie kehrten nicht in ihre Garderoben zurück.“ (Romola Nijinsky)
„Zwischen beiden Teilen des Werks wurde die Polizei geholt, um die lautesten Demonstranten zu identifizieren und aus dem Saal zu weisen. Aber es war vergebens.“ (Richard Buckle)
„Das zweite Tableau begann, doch es war noch immer unmöglich, die Musik zu hören. Ich konnte nicht ins Parkett zurück, und da die Aufregung der in den Kulissen zuschauenden Künstler zu groß war, konnte ich die Bühnentür nicht erreichen. Ich wurde auf der linken Kulissenseite immer weiter vorangeschoben. Grigorjew und Kremenew gelang es nicht, diese Bühnenseite zu räumen.“ (Romola Nijinsky)
„Kaum war der Vorhang vor den zitternden Mädchen des zweiten Teils, die ihre geneigten Köpfe mit der rechten Hand stützten, in die Höhe gegangen, als jemand rief: „Einen Arzt!“ Dann ertönte eine andere Stimme: „Einen Zahnarzt!“ Und eine andere: „Zwei Zahnärzte!“ Comtesse René de Pourtalès erhob sich mit verrutschter Tiara in ihrer Loge und rief, ihren Fächer schwenkend: ‚Ich bin sechzig Jahre alt, aber dies ist das erste Mal, daß jemand gewagt hat, mich für dumm zu verkaufen!'“ (Richard Buckle)
Nijinskys Mutter fiel in Ohnmacht. Im Orchestergraben dirigierte Monteux unerschütterlich weiter. Diaghilew lief auf den zweiten Rang, und die Tänzer hörten von fern, wie er ihnen zurief, weiterzutanzen.
„Mir gegenüber war ein gleicher Menschenandrang in den rückwärtigen Kulissen, und Wassily mußte sich seinen Weg zu Nijinsky hindurchkämpfen. Nijinsky trug sein Trainingskostüm. Sein Gesicht war so weiß wie sein Crêpe de Chine-Hemd. Er hämmerte den Rhythmus mit beiden Fäusten und rief den Künstlern zu: ‚Ras, dwa, tri.“ Selbst auf der Bühne war die Musik nicht zu hören und Nijinskys Dirigieren aus der Kulisse war das einzige, was die Tänzer leitete. Sein Gesicht bebte vor Erregung. Ich hatte Mitleid mit ihm, der wußte, daß sein Ballett ein großes Werk war.“
„Wir konnten die Musik nicht hören. Wir konnten nicht zählen. Nijinsky zählte wie rasend in den Kulissen. Ich zählte auf der Bühne.“ (Marie Rambert)
„Ich verließ meinen Platz, als der heftige Lärm begann – leichte Unruhe herrschte gleich von Anfang an -, und ging hinter die Bühne zu Nijinsky auf der rechten Seite. Nijinsky stand auf einem Stuhl, gerade aus der Sichtweite des Publikums, und rief den Tänzern Zahlen zu. Ich wunderte mich, was zum Kuckuck diese Zahlen mit der Musik zu tun hatten, denn es gab keine ‚Dreizehntel‘ und ‚Siebzehntel‘ in dem metrischen Schema der Partitur.“ (Igor Strawinsky)
„Ich weiß nicht, wie es möglich war, daß dieses Ballett, das die Zuschauer von 1913 so schwierig fanden, in einem solchen Aufruhr zu Ende getanzt wurde. Ich stand zwischen den beiden mittleren Logen, fühlte mich im Auge des Hurrikans ganz wohl und klatschte mit meinen Freunden. Ich bewunderte den titanischen Kampf, der stattgefunden haben mußte, um diese unhörbaren Musiker und diese betäubten Tänzer nach den Gesetzen ihres nicht sichtbaren Choreographen zusammenzuhalten. Das Ballett war atemberaubend schön.“ (Valentine Gross)
„Die einzige Entspannung trat beim Tanz der Erwählten Jungfrau ein. Er war von so unbeschreiblicher Gewalt, von solcher Schönheit, daß sein Ausdruck der Opferbereitschaft selbst das chaotische Publikum entwaffnete. Es vergaß seine Rauferei. Dieser Tanz, vielleicht der anstrengendste in der gesamten choreographischen Literatur, wurde von Maria Piltz hinreißend ausgeführt.“ (Romola Nijinsky)
Claude Debussy neigte sich zu Misia Sert und murmelte:
„Es ist schrecklich: ich höre nichts mehr.“
Der Polizeibericht meldete 27 Verletzte.
Die Rekonstruktion von „Le Sacre du Printemps“ in einer Aufführung der Compagnie des Marinsky im Théâtre des Champs-Elysées zum 100jährigen Geburtstag der Choreographie.
Die Rekonstruktion durch das Joffrey Ballet, Beatriz Rodriguez als Chosen Virgin.
Aljoschas Version: das Detroit Symphony Orchestra unter Antal Dorati, 1982.
Zitierte Werke:
Romola Nijinsky, Nijinsky, 2. Aufl. Frankfurt am Main 1982 Derek Parker, Nijinsky – God of the Dance, London 1988 Richard Buckle, Nijinsky, Herford 1987 Igor Strawinsky, Leben und Werk – von ihm selbst, Mainz – Zürich 1957 Jean Cocteau, Hahn und Harlekin, München 1958 Volker Scherliess, Igor Strawinsky – Le Sacre du Printemps, München 1982 Helmut Kirchmeyer, Strawinskys russische Ballette, Stuttgart 1974 Misia Sert, Pariser Erinnerungen, Frankfurt am Main 1989 „15. Hamburger Ballett-Tage“, Hamburg 1989 Heinrich von Kleist, Sämtliche Erzählungen, Köln 2011 Wolfgang Dömling, Strawinsky, Reinbek bei Hamburg 1982