
„13“ handelt von Fluchtversuchen. Vom Entkommen aus Räumen, die in Trümmer fallen. Von anderen, fremden Räumen, in deren Architektur Anordnungsfreiheit bis zur Entropie herrscht. Flucht in den Weltraum, oder den Wahnsinn, oder die Drogen, und manchmal ist das alles deckungsgleich; Flucht mit Hyperspace in andere Dimensionen jedenfalls und dann erst recht ins Schlamassel. „13“ ist gezeichnet von Trauer, erschöpft, gefechtsmüde, gezeichnet von Entfremdung und der Frage, wohin es gehen kann von hier. Zerstörung aller Gewißheit. Immer wieder brechen Songstrukturen auseinander: „13“ gründet in Grundlosigkeit, mit dem Himmel als Abgrund nach oben und einem Schlüsselloch am Ende der Milchstraße. „13“ ist interstellarer Rückzug, aber auch struggle to move on. Zusammenbruch, aber auch freigesetzte Energie.
Im legendären Video für „Coffee & TV“ ist Graham Coxon, weil er mit Blur Musik macht, Missing Person. Eine mitfühlende Milchtüte versucht vergeblich, die trauernde Familie aufzuheitern, und macht sich dann auf den Weg, um den Verlorenen Sohn zu finden. Die Abenteuer der Milchtüte haben Sturzbäche von Tränen ausgelöst (nur 3 der ersten Kommentare auf YouTube: „I remember being 9 years old when this song came on MTV in 1999. Me and my parents sat in the front room admiring this video. Mum says ‚Is there any way we can watch this again? It’s amazingly cute!'“ — „I cried always as a kid. Now I’m 21 years old and I’m still crying.“ — „We’re all grown-ass people crying over milk cartons…“). Blur standen immer für diese Mischung aus cuteness und Sarkasmus, perfektioniert im Video zu -> „The Universal“ mit Damon Albarn und seinen Droogs, und das „Coffee & TV“-Video ist zugleich traurig und cute. Auf „13“ haben Blur aufgehört, nichts wirklich ernst zu nehmen. Tatsächlich ist die Lage derart ernst, daß es beunruhigend komisch klingt.
Als ich „Tender“ zum ersten Mal hörte, dachte ich, oh, Blur imitieren Blur, wie sie U2 imitieren, die eine Band imitieren, die mit einem Gospelchor fusioniert, den John Lennon dirigiert. War nicht doch noch eine Spur Zynismus in „Love’s the greatest thing“? Das Video, Graham Coxon cracks up -> bei 4:45, und wenn Graham Coxon lächelt, kann etwas nicht stimmen. Aber „Tender“ ist nicht tongue-in-cheek.
Der Ausgangspunkt von „13“ ist die Trennung, die Damon Albarn und Elastica-Sängerin Justine Frischmann traumatisiert zurückließ, als es nach 7 Jahren gemeinsamer Zeit nur noch darum ging, einen Rest an sanity zu retten; Albarn kommentierte später: „That relationship just absolutely crashed. I mean, it really was a spectacularly sad end.“ Justine „told the British newspaper The Observer she cried the first time she heard the song, then felt embarrassed and angered before she calmed down.“
Und dann, vor allem, ging es in „Tender“ plötzlich um den eigenen Hals.
Tender is the day
The demons go away
Lord I need to find
Someone who can heal my mind
Come on come on come on
Get through it
Love’s the greatest thing
Tender is the ghost
The ghost I love the most
Hiding from the sun
Waiting for the night to come
Tender is my heart
I’m screwing up my life
Lord I need to find
Someone who can heal my mind
„Bugman“ klingt, als hätte Bowie in Suffragette City beschlossen, The Fall zu übernehmen und Mark E. Smith zu feuern. Zwischendurch feuert Mark E. Smith dann wieder Bowie und rattert mit dem Staubsauger über Kopfsteinpflaster. Der Song kollabiert komplett im Gebritzel, aktiviert sich aber nochmal selbst, um wissen zu lassen: space is the place.
Hingegen plötzlich nie so wahr wie gerade jetzt:
So give me coffee and TV, easily
I’ve seen so much, I’m going blind
And I’m brain-dead virtually
Sociability
Is hard enough for me
Take me away from this big, bad world
And agree to marry me
So we can start over again
Ein Nervenzusammenbruch von Gitarrensolo, vom NME wurde Graham Coxon dafür mit #38 der Top-50-Gitarrensoli aller Zeiten bedacht.
Auf „Swamp Song“ hat man sich plötzlich in The Creature From The Black Lagoon verwandelt, ganz sicher unterwegs zu unaussprechlichen Schändlichkeiten, über dem Sleaze-Beat irres Lachen und ein schon ziemlich umnachteter Chor, außerdem hört man ständig gurgelnde Geräusche und gurgelnde Stimmen, als würde die Besatzung des Yellow Submarine von Wassereinbruch überflutet. Jeff Lynne sagte damals, mit dem Electric Light Orchestra wolle er da anfangen, wo „I Am The Walrus“ von den Beatles aufhört. „Swamp Song“ kommt diesem Ziel weit näher.
„1992“ ist wie die schwankende Wendeltreppe aus „The Haunting“, die nicht mehr fest im Gemäuer verankert ist. Trotzdem steigt man höher und höher, irgendwo da oben ein verbotenes Zimmer, aus dem manchmal Stimmen zu hören sind. Fetzen eines sinnlichen „Lady Grinning Soul“-Klaviers, die aber auch nichts daran ändern, daß das Bett leer bleibt. „1992“ soll zu Graham Coxons liebsten Blur-Songs gehören, und was er da mit seiner Gitarre anstellt, bleibt ein Mysterium auch bei voller Beleuchtung. Man weiß schon, als „1992“ anfängt, daß alles in bedrohlichem Rauschen verschwindet. „B.L.U.R.E.M.I.“ könnte irgendeine Botschaft an irgendwen enthalten, in den Firmenräumen vernimmt man sie wie Wellensalat aus dem Weltraum. Der Refrain klingt wie ein Hubot auf Helium.
„Battle“. An die 8 Minuten vollkommen unerklärlicher Schönheit, unheimlich, ständig ändert sich die Textur, ständig wird eine neue Stufe gezündet, so würde Erdumkreisung klingen, wenn da draußen irgendwas zu hören wäre. Und wenn ich wüßte, daß das Raumschiff nicht mein eigener Schädel ist. Blur ist zu diesem Zeitpunkt eigentlich schon eine Band, die auseinanderbricht, dabei auf der Höhe ihrer technischen Fähigkeiten ist und eine komplexe, einzigartige sonic richness entdeckt. Man steht auf der Oberfläche eines dunklen Planeten und versucht sich daran zu erinnern, wie dieses Instrument heißt, das die sphärisch-melancholischen Töne auf „Battle“ produziert. Dasselbe Instrument spielt, -> als Labiskwees Boot den Fluß hinabtreibt.
„It’s the sound of beauty and decay, pulling off the feat of being both noisy and relaxing at the same time, pairing blissful ambience with more of the incredible sounds that emerge from Coxon’s distorted guitar, as fluid keys ring out to create an otherworldly atmosphere (…) if you play it through a good pair of headphones, you’ll experience something that words cannot describe.“ (Ben P Scott, xsnoize)
Nour Sarhan auf YouTube: „5:59, this part… I really don’t know how to explain, it’s just… terrifying. Feels like falling into a deep, dark void with no one around to save you. You’re just all alone, confronting the gloomiest side of your psyche. What an eerie song. The whole album perfectly encapsulates the state of a broken soul. It’s just so visceral and raw and heart-breaking…“
„13“ ist voller Zwischenspiele, bei denen nur der Blick auf die Anzeige verrät, zu welchem Song sie noch oder schon gehören. Blur. Was ist, verwischt. Konturen sind Übergänge. „Mellow Song“ ist eine weitere Anstrengung, die Tränen zu vermeiden. Eine akustische Serenade vom Mann im Mond für die Königin der Königreiche des Schlafes. „Mellow Song“ klingt mellow. Sanft wie der Abend vor der Hinrichtung. Bis die Trommel einsetzt und eine Melodica sich derangiert. „Is this where I’m going to? We’ll see.“
„Trailerpark“ heißt zwar „Trailerpark“, klingt aber wie Torkeln durch einen Stripclub mit den Kopfschmerzen von Fred Madison. Man hat ganz entschieden etwas in sich, mit dem man sich unbeliebt macht. Das bass driven outro führt nicht an die frische Luft, nur ins Outro. Die Zeile „I lost my girl to The Rolling Stones“ wird verständlicher, wenn man weiß, daß Damon Albarn Mitte der 90er in eine Heroinabhängigkeit geraten war, die das Verhältnis zu Justine Frischmann noch weiter verkomplizierte. „Caramel“ ist eine Metapher für Heroin. Der Song beginnt als verzweifeltes Selbstgespräch in unendlicher Einsamkeit, als würde man träumen, während man wach ist.
I’ve got to get over
I’ve got to get over
I’ve got to get better
Will love you forever
I’ve got to find genius
I’ve got to get better
I’ve got to stop smoking
I’ve got to get better
Caramel, Caramel
Where is the magic
I’ve got to get better
Oh, lord give me magic
I’ll love you forever
I’ve got to find Mounts Hill
And live by the mountains
I’ll love you forever
„Then, in one of the most magnificent moments of the band’s canon, a jazz drum pattern suddenly and unsettlingly interrupts, followed by a musical shock wave of pure heartbreak and emotion, underlined by Coxon’s jagged guitar lines.“ (David Edwards, drownedinsound). Schließlich Meltdown: „Caramel“ läuft aus in die hörbaren Hirnwellen des Irren auf dem Hügel.
„Trimm Trabb“. Ich zitiere. „733 North West Knoll Drive CA 90069, 659, 7812, 3108. Choo choo choo choo choo.“ Aliencode halt. Der Song beginnt verhalten, „It’s just the way it is. I sleep alone.“ Aus dem verhaltenen Riff wird ein Riff, das ziemlich heavy ist, und dann ein Riff, das heavy ist wie heulende Urzeitwesen. Graham Coxon, losgelassener Genius auf „13“, kennt überhaupt keinen Bahnhof mehr. Ich weiß nicht, wie oft er die Klangfarbe von creepy ändert auf diesem Album.
„No Distance Left To Run“. Albarns Seele liegt endlich vollständig bloß, all die Konfusion, all der Schmerz, all die Trauer.
It’s over
You don’t need to tell me
I hope you’re with someone who makes you
feel safe in your sleeping tonight
I won’t kill myself trying to stay in your life
I got no distance left to run
When you see me
Please, turn your back and walk away
I don’t want to see you
‚Cause I know the dreams that you keep is where we meet
When you’re coming down, think of me here
I got no distance left to run
It’s over
I knew it would end this way
I hope you’re with someone who makes you feel
That this life is the light
One who settles down, stays around
Spends more time with you
I got no distance left to run
Damon Albarn: „It upsets me, that song. It upset me singing it. Doing that vocal upset me greatly. To sing that lyric I really had to accept that that was the end of something in my life.“
Ich kann nicht beschreiben, wie sehr ich „Optigan 1“ liebe. Eine Orgel namens Optigan. Eine Spielzeugmaschine, eine mechanische Oper mit Ballerina, ein verwunschener Brummkreisel, der einen, während man ihn anstarrt, in lang vergessene Nachmittage der Kinderzeit zurückversetzt, ein kleines Raumfahrzeug. Optigan 1 hält Kurs auf Dimensionen, in denen es keinen Kurs mehr gibt. Marry me, we can start all over again. Love’s the greatest thing.
![111 Lieblingsvideos [3] von Christian Erdmann. Bild: Ciscandra Nostalghia, "Cool For Chaos" Video.](https://christian-erdmann.com/wp-content/uploads/2023/02/ciscandra-nostalghia-cool-for-chaos.png)