Was spricht die tiefe Mitternacht?
Was dann kam, war anders, unvorstellbar anders. Zunächst war nur Vibrieren, eine schaurige Präsenz, aus unendlichen Tiefen kommend, als Klang zunächst kaum hörbar; dann, so unerwartet, als würde eine Statue ihr steinernes Haupt bewegen, eine Stimme. Eine Frauenstimme. Eine Welt entfernt.
O MENSCH
singt sie und etwas regt sich, 2000 Faden tief, là-bas,
O MENSCH
auferweckt, beschworen,
GIB ACHT
unbeirrbar aufsteigend, höher und höher,
GIB ACHT
bis es an die Oberfläche kommt und auftaucht unter einem Purpurhimmel,
WAS SPRICHT DIE TIEFE MITTERNACHT?
schattenlos sich erhebend in unheimlicher Stille, unauslöschlich, unausweichlich – die Gestalt der Namenlosen, die namenlose Gestalt.
ICH SCHLIEF! ICH SCHLIEF!
Ihre Macht ist göttlich genug, um Blasphemie zu sein. Sie kennt ihre Opfer. Sie macht sich auf den Weg, um
AUS TIEFEM TRAUM
in tiefen Traum
BIN ICH ERWACHT
zu führen einen Erstgeborenen und ihn an vergessene Weisen zu erinnern, vergessene Seinsweisen, versunkene Kaskaden quälend süßer Töne, wie sie die Undinen singen.
DIE WELT IST TIEF
Die nunmehr Anwesende legt über ihn den Hauch des Abwesenden und spricht: „Du bist nur halb von dieser Welt.“
UND TIEFER ALS DER TAG GEDACHT
Sie schießt ihm eine Silberkugel durch den Kopf und spricht: „Unbedingte Liebe oder überhaupt nichts. Die Wurzeln sind abgeschnitten. Du wirst verdorren.“
TIEF IST IHR WEH
Sie schlingt die Arme um ihn, und ihre Augen sind Speere aus Licht, und sie spricht: „Aber eine Sehnsucht ist in dir, mächtig wie Tigersprünge, maßlos wie Prinzenwünsche, geduldig wie ein Reptil.“
LUST –
Sie peitscht ihn mit Ruten und spricht: „Sie rührt sich nicht. Doch sie ist hellwach. Und so viel älter als das Schlaflied, das die Welt ihr singt.“
TIEFER NOCH ALS HERZELEID
Sie zeigt sich in den Winkelspiegeln eines Kaleidoskops, in dem bunte Glassplitter zu Sternen werden, und sie spricht: „Schönbildschauer, meine Gunst ist ein Palast, mit hunderttausend Juwelen geschmückt. Lerne zu vergessen und tritt ein.“
WEH SPRICHT: VERGEH!
Sie steht in einem perfekten Kreis und spricht: „Glaubst du an die Möglichkeit des Ideals, das Seiende zu berühren?“
DOCH ALLE LUST WILL EWIGKEIT, WILL
Sie benetzt sein Auge mit einer Träne und spricht: „Du bist das Auge. Du bist der Schauplatz. Finde die eine Illusion, von der du vergessen kannst, daß sie eine ist.“
TIEFE, TIEFE EWIGKEIT
Morgenglocken lösten den Bann: der Traum verflüssigte, die Umgebung nahm ihren Platz wieder ein. Auch der Namenlose auf der Bühne rieb sich die Augen: er sah ein ätherisches weibliches Wesen – einen Engel. Jähe Lichtung. Kehre des Seins. Er näherte sich vorsichtig, und der Engel scheute nicht zurück, gab sich zum Pas de deux, zum Nichts als Zwei…
Oder war dies wieder nur ein Traum in einem Traum? Zur Schlußsequenz der Symphonie über schicksalsschweren Paukenschlägen schritt das engelhafte Wesen am Bühnenrand von rechts nach links, als müßte es die Parade der vom Schattenreich mit einem Gestellungsbefehl Versehenen abnehmen, schritt langsam von einem Ende zum anderen, von Kether zu Malkuth, vom Sein zum Woanderssein, von den Brettern, die die Welt bedeuten, zum Ausgang, von der Wirklichkeit zum Riß in der Wirklichkeit, von irgendeinem Hier zu irgendeinem Dort.
Und gerade so, als läge im Erscheinen dieses ätherischen Wesens nichts anderes als ein immerwährendes Urteil, das Unerreichbarkeit verhängt, sah der Namenlose aus der Ferne zu wie ein Gerufener, der doch nicht folgen kann, obgleich es sein Wille ist. Und mit einem letzten Blick in ihre unbewegten Augen fragte er sie – nichts. Er fragte sich, ob er sie wohl jemals wiedersehen würde. Und sagte stumm Adieu.
War dies das Ende? Oder schritt sie nur voraus auf einem Weg ins Folgenschwere, in eine wirkliche Geschichte, die vielleicht immer schon bestanden hat, als einzig mögliche? Es gab keine Antwort mehr auf diese Frage. Der Vorhang war gefallen.
Die Menge gönnte den Tänzern stürmische Ovationen, um sich dann doch recht eilig zu zerstreuen. Aljoscha sah sich um. Er hätte gerne noch auf irgendwas gewartet, doch er wußte nicht, worauf.
Herr Vecchio, sind Sie noch wach?
Oder auch nur Laute spielen und den Hals riskieren, wenn man in Gegenwart des dicken Fürsten Verse auf die Fürstin vortrug, nur irgendwo sein, wo noch eine Idee war und nicht nur Hühnerschiß. Was konnte in diesem Jahrhundert einer werden, der sich Lieben und Lernen auf die Fahne geschrieben hätte? Was galt einer, der darin Aufgabe genug sah? Wohin mit einem, der grimmig einen Fuß vor den anderen setzte zwischen Wohnblocks und Kaufhäusern und dabei dachte: Besser, Pferdeknecht zu sein an einem Mädchenpensionat, im Jahre 1900!
Freilich, es hatte diesen einleuchtenden Augenblick gegeben letztes Jahr, als er in Paris war und beim Sonnenuntergang im Jardin du Luxembourg von seinem Buch aufsah, weil es ihm plötzlich so erschien, als sei er eben an sich selbst vorbeigegangen mit den Worten: „Der da sitzt, das ist Aljoscha Tuschkin, der die Philosophie studiert und Leda Geltzer liebt“, und ein Glücksgefühl durchströmte ihn, weil alles auf so unfaßbare Weise richtig schien, diese Stadt, der Sonnenuntergang, der Park; das, was alle taten in diesem Park, und das, was er, Aljoscha Tuschkin, in diesem Leben tat.
Während er noch an diesen Glücksmoment dachte, spürte Aljoscha, daß da etwas näher kam aus einem Korridor. Sehr bestimmt und würdevoll, indes sehr langsam. Es war die leere Fülle einer Entität, und sie schien ein Zipperlein zu haben.
„Ähem“, machte die Entität. „Hörte ich Lieben und Lernen?“
„Jawohl! Zu lieben lernen und das Lernen lieben! Wissenwollen, Liebenwollen! Nicht wahr, das ist doch Philosophieren?“ rief Aljoscha.
„Liebenwollen? Hier in meiner Bibliothek?“
„Sind Sie nicht Herr Cosimo, der große Förderer der Künste? Der es Marsilio Ficino ermöglichte, hier in Florenz eine platonische Akademie zu gründen?“
„Nun ja. Kann sein. Ficino, sagst du?“
„Man hat etwas überaus Bedeutendes herausgefunden, Signore de Medici! Erlauben Sie mir, daß ich Ihnen davon Mitteilung mache. Philosophie, das heißt doch Liebe zur Weisheit. Und die Götter, Herr von Medici, die Götter philosophieren nicht. Denn sie sind ja weise. Nicht wahr, was soll man da philosophieren? Und die Liebe, was ist das? Besitzenwollen und zugleich das Gegenteil von Besitz. Sie stimmen zu?“
„Si, si“, gähnte Cosimo der Alte.
„Die Weisheit ist also bei den Göttern. Das Streben nach Weisheit ist Sache der Menschen. Und die logische Folge daraus ist: alles Philosophieren ist erotisch. Ich weiß, Sie wollen sagen, das ist keineswegs die logische Folge. Gut. Schön. Warten Sie… hier, Platons Symposion! Schlagen Sie es auf, Herr Cosimo, und berauschen Sie sich daran, wie Sokrates der Vorstellung, Eros sei ein Gott, den Wert einer zermatschten Weintraube beimißt. Eros ist kein Gott! Eros ist ein Daimon. Ein Zwischenwesen ganz einfach. Nicht irdisch, nicht göttlich, sondern dazwischenseiend, wissen Sie? Und zwar für immer. Und Eros ist so dazwischen, eben weil er das Göttliche begehrt. Das heißt, wo Eros wirkt, da ist das Irdische unterwegs zum Göttlichen. Das ist brillant, nicht wahr? Wie kann man da widersprechen? Eros strebt, weil er verlangt. Also ist das Streben erotisch! Das ist doch wohl die logische Folge! Wenn Eros uns antreibt, begehren wir Göttliches. Sie wissen das alles, Herr Cosimo, und Sie wissen, welche Macht es ist, die diesen Daimon anzieht. Die Schönheit! Schon in der Sphäre der Ideen, das sagt doch Platon, ist Schönheit die Idee, die glänzt wie keine andere. Ja, daß sie überhaupt glänzt! Wie kann eine Idee glänzen? Sie kann, sie muß! Damit wir uns an sie erinnern, wenn wir die Schönheit treffen, hier im Irdischen! Denn die Schönheit will, daß wir das Göttliche in ihr verlangen. Und nun, wenn wir begriffen haben, mein lieber Vecchio, daß die Schönheit so göttlich wie die Weisheit ist, was dann? Dann ist der ein Philosoph, den das Schöne – ich darf so sagen – erotisiert. Er strebt zum Göttlichen, ganz wie einer, der nach Weisheit strebt. Das hat man herausgefunden! Ist das nicht großartig? Philosophie ist erotisch, und Erotik, Herr Cosimo, ist Philosophie. Und nun erklären Sie mir, warum der große Sokrates behauptet, sein ganzes Wissen über Eros einer Priesterin mit Namen Diotima zu verdanken. Gar nichts soll das nicht sagen! Was für ein Zufall soll das sein, daß die Weisheit weiblich ist? Ist es vielleicht Zufall, daß Eva anfing, mit der Schlange zu verhandeln? Was, frage ich Sie, nimmt Eva aus dem Paradies mit? Einen nicht mehr einholbaren Vorsprung an Autonomie gegenüber diesem Obrigkeitshörigen, diesem Gesetzesfanatiker Adam. Ist es vielleicht auch Zufall, daß die schöne Hypatia, diese glänzende Philosophin aus Alexandria, gesteinigt wurde von einem christlichen Mob? Wie? Und daß Dante von Vergil durch die Hölle geführt wird, von Beatrice aber durch alle neun Sphären des Paradieses, vom Mondhimmel bis zum Kristallhimmel und zur Anschauung des Göttlichen, ist das auch Zufall? Die Frau ist das überlegene Geschlecht, Herr Cosimo, nur glauben das die meisten Frauen nicht. Dabei könnten sie dem albernen Treiben zusehen, als wären sie die Sterne, die alles schon längst wissen… Herr Vecchio, sind Sie noch wach? Hören Sie? Diese Hypatia, das war auch eine glänzende Mathematikerin, und die Schulpreise für Mathematik gingen nur deshalb lange nicht mehr an die Mädchen, weil die keine Lust hatten, gesteinigt zu werden! Aber das versteht sich doch von selbst, daß der stille Waliser den Heiligen Gral gefunden hat und nicht eine stille Waliserin! Oder glauben Sie an die Notwendigkeit, der Vollkommenheit Beine machen zu müssen? Oder eine Taille? Haben Sie gehört, wie Marlene Dietrich sagte: Hello, boys…?“
„Seltsamer Junge“, sagte Cosimo der Alte.
Aljoscha stand noch immer auf der Treppe der Laurenziana-Bibliothek. Etwas in ihm lag brach wie sibirisches Land, trotz des Sonnenuntergangs im Jardin du Luxembourg. „Aber wo fehlt’s denn bei Ihnen?“ schnarrte eine Sachbearbeiterstimme vom Schreibpult der Daseins-Verwaltungs-Angelegenheiten her, eine kleinlaut machende Stimme, der man nur antworten konnte: „Ja, wenn ich das wüßte“ und „Bitte die Störung zu entschuldigen“.
„Woran denkst du?“ fragte Leda.
Unterweltsgöttinnenhülle!
In der Galleria del Costume kam der Geist über Leda. Sie bewunderte die alten Stoffe, den Schnitt früherer Moden, sie studierte die Qualität der Verarbeitung und ignorierte, Zeichen der Ekstase, zwei oder drei Berühren verboten. Ihr Entzücken war ein sachverständiges, und ein schwarzes Charleston-Kleid wurde nicht von einem lasziven Vamp mit Perlenkette und Zigarettenspitze vorgeführt, sondern von der weißen Puppe Nr. 40. Aljoscha aber beschäftigten solche Fragen: welche Contessa hatte einst diese unfaßbar zierlichen Handschuhe von ihren unfaßbar grazilen Händen gestreift? Auf welches Bein hatten diese Spitzenstrümpfe ein Ornament im spätgotischen Flamboyantstil gezeichnet? Erweiterte die eingeengte Taille das Bewußtsein?
„Ein schwarzer Seidenstrumpf ist wie eine Glasur“, erklärte Aljoscha ungefragt. „Eine Glasur aus Dunkelheit. Geschmolzene Dunkelheit. Die Dunkelheit geschmolzener Träume. Auf dem Bein wie Blattgold auf einer Ikone. Sakraler Glanz eigentlich. Die Haut unter dem Glanz wird unberührbar. Durch den Schutz betont, durch die Betonung geschützt. Stiefel aus göttlichem Lack. Schwarze Rüstung als bloße Idee.“
„Ein Seidenstrumpf ist ein Kleidungsstück, Aljoscha.“
„Festgezurrt wie das Jagdkleid der Artemis! Schwarzes Licht, das sich über einen Schenkel ergießt! Unterweltsgöttinnenhülle!“
Der Blick ist es, dein eigener
Pjotr, der sonst zur Not mit dem Teufel nach Rom gefahren wäre, war wirklich mit den Nerven zu Fuß und beschloß, in der Spelunke gegenüber den Schrecken mit ein paar Gläschen einzulullen; später am Abend rief er nochmals an, ein paar Wattebäuschchen im Mund, aber wieder halbwegs versammelt, und als er Aljoscha den Fortgang seiner Arbeit schilderte, sah er wieder klar:
„Ich werde in den Kopf der Sphinx ein blaues und ein rotes Auge setzen! Blau für die Unendlichkeit… die Ewigkeit… das Absolute. Rot, die Liebe. Aber in dem Dings, in der Zone, in dem Spannungsfeld der Projektionen können sich Blau und Rot für den Betrachter zu Violett vermischen, der Farbe des Todes…“
„Je nachdem, wie man sie ansieht“, meinte Aljoscha, „führt die Sphinx also in Verzückung oder ins Verderben.“
„Genau!“ schrie Pjotr. „Es kommt darauf an, wie man vor sie tritt! Der Blick ist es, dein eigener!“
Der Blick ist es, dein eigener.
Was ganz nah vor Augen ist, verschwimmt – man kann es nicht mehr deutlich sehen. Der Blick, der die Welt erfaßt, trennt den Sehenden von ihr: Sehen heißt, Distanz zu schaffen und Entfernung. Der Blick bringt zur Strecke. Er gleitet über Außenseiten. Er weiß nichts von der alten Rastafari-Parole Distanziere kein Objekt. Er sieht eine spanische Wand neben der anderen. Jedes Ding hat mehr als eine Seite, mehr als zwei, mehr als die Seiten, die es Phänomen sein lassen, und selbst wenn man unentwegt die Stellung ändert, kann man nicht das ganze Ding, das Ding an sich sehen. Könnte man es, wäre das Ding nicht mehr das Ding, und man selbst wäre nicht mehr man selbst. Man kann es aber nicht, und darum ist Sehen ständiges Nachsehen. Nichts paßt in einen Augenblick, nur eins: ein anderer Augenblick.
Denn Blicke, die sich treffen, setzen Zeit und Dauer und Entfernung außer Kraft: ein exklusiver Stromkreis wird geschlossen, der in der Realität einen Kurzschluß auslöst. Während das Auge die Welt vergeblich zu penetrieren versucht, dringt durch das Ohr die Außenwelt ins Innere, behauptet man; darum sei Hören ein Verschmelzen mit der Welt. Aber, dachte Aljoscha, durch den Lichtstrahl des Augenzaubers gelangt doch auch das Innerste nach außen; also ist der Blick auch Hingabe. Die Pupille, die von Verengerer und Erweiterer verstellte, von der Iris umkränzte Blende, ist auch eine Austrittsstelle, durch die ein Universum hinaus stößt, eine Innenwelt, die sich wie nach einem Urknall ausdehnen will. Im Blau des Auges – wenn die Iris kurzwellige Strahlen besser reflektiert als langwellige – oder im Grün oder im Mandelbraun erscheint ein Lebenslauf, als würde Seele schimmern auf der Netzhaut. Träume, Hoffnungen, Enttäuschungen, Erinnerung, Verlangen, Warnung, Hilferufe: jedes Auge leugnet, von tief innen her, das unsäglich banale Urteil. Die Augen sind die Wunden auf der Haut der Welt. Das Auge ist der ganze Mensch, nur darum funktioniert der böse Blick – vorgestellte Inbesitznahme.
Der Blick ist nicht nur Wahrnehmung, er ist auch Wahrgebung, nicht nur Aufnahme, sondern auch Abgabe von Realität. Zwei Menschen, die sich ansehen, wirklich ansehen, dringen ineinander ein, schließen die Umgebung aus wie bei einem Liebesakt und liefern sich einander völlig aus. Wer blickt, ist nicht nur Voyeur, er ist auch Exhibitionist. Erblickt zu werden mag Scham verursachen, zugleich aber ist man sehend schamlos. Nicht etwa, weil der Blick entkleidet, Rundungen umrundet oder sich an einen Rocksaum heftet. Sondern, weil es sich beim Sehen überhaupt um etwas handelt, das plötzlichem Mantelaufreißen durchaus gleicht: ich blicke, also offenbare ich mich.
Sehr recht hatte Pjotr. Es kommt darauf an, wie man vor die Sphinx tritt.
Einen Augenblick, Herr Tuschkin
Es war der 3. Oktober. Aljoscha begehrte zu erfahren, was aus der Bestellung jener Schachtel geworden war, die er Leda zum Geburtstag hatte schenken wollen, und begab sich um die Mittagsstunde zum Geschäft Schachtjor & Wostvich, wo sich eine Dame des Problems annahm.
„Wie ist Ihr Name, bitte?“
„Tuschkin.“
„Einen Augenblick, Herr Tuschkin. Ich werde nachsehen.“
Aljoscha wartete und
I REMEMBER HOW THEY USED TO STARE AT THE GROUND
schaute auf seine Schuhe. Steckte die Hände in die Hosentaschen und kratzte mit der Schuhspitze auf dem Parkett herum. Und dann stand plötzlich das Wasser bis zum Hals.
Der Klang von hohen Absätzen. Schritte einer Frau, die sich niemals umdreht. Aljoscha erkannte sie. Für diesen Takt hatte er das absolute Gehör. Durch den Laden schritt die Katzenmenschenfrau, die Sphinx, die mysteriöse Schöne, die an den Rembrandt-Tagen im Saal C seine ewige Wiederkehr beobachtet hatte. Das heißt, hatte SIE? Oh Jesus. SIE ging, als hätte SIE nicht viel dagegen, wenn am Karfreitag eine Kirche brennt. SIE kam auf ihn zu. Er schaute wieder zu Boden. Und dann ließ er seinen Blick nicht langsam aufwärtsgleiten, sondern feuerte ihn ab
AND WE’D SING DA-DA DA-DA-DA-DA DUM DUM DAY
wie ein Geschoß. Fast unmerklich hob SIE die Augenbrauen und gab Erkennen zu erkennen. Trotz IHRES entschlossenen Schrittes war in IHREM Blick ein Anflug von Verwirrung, wenn nicht Erschrecken – mit eigenen Augen bat Aljoscha um Verzeihung, falls sein Blickgeschoß IHR einen Schock versetzt hatte, mit eigenen Augen sah er, daß SIE die Entschuldigung annahm. Sogleich wich das Erschrecken – das gewiß nur fürchtete, daß man es bemerkte – wieder vollkommener Beherrschtheit. Nichts anderes würde jetzt passieren, als daß La Belle Dame ihn kühl und streng passierte, sans merci, ohne IHREN Gang zu verlangsamen, ohne ein Zögern, das ihm gegolten hätte. Und es passierte, als könne nichts und niemand sich in IHRE inneren Angelegenheiten mischen, als verließe SIE gelangweilt den Zirkus der gequälten Seelen, unterwegs, den Untergang des Hauses Luzifer herbeizuführen.
Er sah IHR nach, gebannt noch von den Lichtblitzen in IHREN Augen, von IHREM Blick, in dem These und Antithese lagen, Interesse und Gleichgültigkeit, Neigung und Unerbittlichkeit, Gunst und Grausamkeit. Auf welch Synthese war dies aus? Was schenkte dieser Blick? Hundert Rätsel und eine Gewißheit: er hatte existiert darin.
Er blickte erneut zu Boden, wohl eine halbe Minute, um IHR, falls SIE ihn über das Gestell mit den Aquarell- und Zeichenblöcken hinweg musterte, zu bedeuten, daß durch IHR Erscheinen Schachtjor & Wostvich und überhaupt der ganze bewohnte Teil der Galaxis für ihn zur Banalität geworden war, Nippelkram, des Hinsehens nicht wert.
Herr! Laß Nachsicht walten!
Er zählte bis Sieben, dann mußte er seine Augen wieder mit IHREM Anblick füllen – und fast zeitgleich schenkte SIE ihm einen Augenaufschlag, in dem die Rosen sich für ihre Dornen schämten. Daß er nie mehr fürchten mußte, von IHR nicht gekannt zu werden, war es das, was SIE ihm nachsichtig bestätigte? Zurück auf Gottes Meisterplan rief die Verkäuferin mit weithin schallender Stimme:
„Herr Tuschkin?“
„Hier!“
„Ich habe nachgesehen!“
Ich habe nachgesehen, dachte Aljoscha, als er Schachtjor & Wostvich verließ mit der Gewißheit, daß die Katzenmenschenfrau jetzt seinen Nachnamen kannte.
– Gustav Mahler, Sinfonie Nr. 3, Misterioso
– Sandro Botticelli, Porträt einer jungen Frau (Simonetta Vespucci), Detail
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