
12/2025

12/2025

Der See, über den bei Nacht der große Nordbär kommt, durchschwommen an einem glitzernden Morgen. Ein Füchslein pirscht um unser Zelt. Wolfsmond, dann nur noch Meilen und Meilen geradeaus, Sandstraßen auf dem Weg zur Mitternachtssonne. School’s out forever.
Pjotr saß hinten, ich auf dem Beifahrersitz, Yuri am Steuer. Etwas Unheimliches lag plötzlich über diesem Tag. Keine Menschenseele mehr da draußen, seit Stunden kein Auto mehr hinter uns, niemand kam uns entgegen, nur noch dieser orangefarbene Käfer irgendwo in einer grünen Waldhölle in Mittelschweden. Der Himmel bewölkte sich, später Nachmittag. Irgend etwas schien an den Nerven zu zerren. Yuri hatte uns schon mit einem kleinen Schlenker aus der Trance gerissen, und wir blickten mit gespannter Konzentration umher. Irgendwas Beunruhigendes war in Yuris Augen gekrochen. Seltsam starrer Blick. Eine Doors-Cassette lief. Ich hörte die Doors zum ersten Mal. Yuri schien nicht zu spüren, daß er zu schnell fuhr, oder er spürte es, konnte aber nicht mehr dagegen ankämpfen, weil der endlose Weg tatsächlich in die Ewigkeit führte und Geschwindigkeit, Zeit und Raum eine Illusion waren. Jedenfalls in seinem Kopf. Wahrscheinlich wurde es einfach zu unwirklich, ein Gaspedal runterzutreten. Die Angespanntheit, das Erwarten von irgendwas, das nicht kam, schien ihn zu lähmen, und sicher fühlte er, daß sich unter der scheinbaren Beiläufigkeit von „He, fahr mal nicht ganz so schnell“ ein ungutes Gefühl verbarg, das alles nur noch schlimmer machte – es war, als gerieten wir in einen unheilvollen Sog. Dieser Song hatte begonnen, den ich ganz besonders phantastisch fand, und ich sagte: „Das ist ja besonders phantastisch.“ Und Pjotr sagte: „Das ist ja auch The End.“
Und dann kam diese Linkskurve, der Sekundenbruchteil, in dem man es weiß, daß wir zu schnell sind, daß wir es nicht schaffen. Yuri brachte das Auto schliddernd aus der Kurve, und vielleicht wäre alles gutgegangen, wenn der Weg geradeaus weiterverlaufen wäre, aber der Wagen beginnt sich querzustellen, rutscht auf dem Sand, und Yuri muß das Steuer rumreißen, um uns in die Rechtskurve zu kriegen, die plötzlich auch noch da ist, was er auch schafft, aber die Geschwindigkeit ist zu hoch, der Wagen ist außer Kontrolle jetzt und wir krachen in die Büsche, ich weiß, daß ich sehr ruhig dachte, jetzt könnte es eigentlich mal aufhören, es sah so aus, als würden wir uns überschlagen oder um einen Baum wickeln, aber Yuri hielt Zwiesprache mit seinem persönlichen Gott, zwei Sekunden lang, zwei Sekunden, in denen er nicht viel mehr tun konnte als das, dann hatte er sich mit seinem Gott auf irgendwas geeinigt und den Käfer wieder soweit unter Kontrolle, daß er ihn messerscharf an den hohen Bäumen vorbei dirigieren konnte. Wir pflügten Büsche um, kleine Bäume, schrammten über Steine und Geröll, bis der Wagen an Geschwindigkeit verlor, das Rumpeln wurde sanfter, Yuri brachte uns auf den Weg zurück, all das dauerte nur ein paar Sekunden, aber der innere Film machte eine Ewigkeit daraus, der Käfer rollt aus, eine Ölspur hinterlassend, seine Blutspur, Stillstand, Käfer tot. Nur die Doors-Cassette lief noch immer. Noch immer lief, and it’s the fucking truth, „The End“.
Ich wanderte los, um das Warndreieck aufzustellen, vollkommen sinnlose Tat, ich ging weiter, immer weiter zurück, betrachtete den Ort, der beinahe mein Todesort gewesen wäre, ich machte ein paar Fotos mit der Schepperkamera, to avoid the shakes, und wanderte noch weiter, bis ich dachte, die Wildnis würde mich verschlucken, plötzlich fühlte ich mich unendlich einsam, ich lief zurück, und als ich Yuri und Pjotr sah, wie sie betont sachlich und geschäftig den Schaden immer wieder untersuchten, wußte ich, sie taten dasselbe wie ich, sie versuchten, die Nerven zusammenzuhalten, true realization comes later.

Ein Jahr später saßen Pjotr und ich in einem Kino in Marseille.
Anhang: Kommentarsektion Antirationalistischer Block
20.05.2011
AndersSehend:
ein mir vor ewigkeiten sehr gut bekannter käfer war weiß. diese herbies haben auf jeden fall ein eigenleben. und sie betätigen sich dann und wann als schutzengel. vor allem dann, wenn im auto auf irgendeine art und weise ‚the end‘ läuft. :-)
Antirationalistischer Block / Christian Erdmann:
You’re right, die HATTEN ein Eigenleben, und wahrscheinlich hat ER uns den Hals gerettet, niemand sonst. :) Du kennst die Schutzengelfunktion aus eigener Erfahrung?
Er, als Käfer, hatte auch die seltsame Fähigkeit, traurig auszusehen danach. Bei Einbruch der Dunkelheit beschlossen wir, AND ALL THE CHILDREN eine Expedition in den nächsten Ort zu starten, von dem wir aber nur ungefähr ahnten, ARE INSANE wie weit er entfernt war, und packten Proviant zusammen. Wir hatten den niedergeschlagenen Käfer ein wenig vom Weg geschoben und waren ein paar Schritte mit unserer Funzel gegangen, da hörten wir DESPERATELY IN NEED OF SOME STRANGER’S HAND Motorengeräusch. Flackernde Scheinwerfer in der Ferne, wußtest Du, daß die wie eine göttliche Erscheinung wirken können? :) Drei Hobbits in Mordor, das wär’s gewesen.
AndersSehend:
ja, aus eigener erfahrung. :-) dieser käfer hat im winter 89/90 mit
seinen scheinwerferaugen radfahrer angestrahlt, die ich ansonsten höchstwahrscheinlich über den haufen gefahren hätte, weil ich sie nicht früh genug oder überhaupt gesehen habe. danach schock für alle beteiligten, auch der käfer hat traurig ausgesehen. fast so, als hätte er geahnt, dass dieses erlebnis bei mir eine erkenntnis und eine konsequenz anstoßen würde. inzwischen wüsste ich gern, ob es diesen speziellen käfer noch irgendwo gibt.
Antirationalistischer Block / Christian Erdmann:
Oh, I remember. Ja, Du hattest schon erwähnt, daß es ein Käfer war, when you told me of the day you parted ways. Da sogar Bowie in „Lady Grinning Soul“ vermerkt: She’ll drive a beetle car, steht uns wohl die Schlußfolgerung zu, daß jeder Trottel Schicksalhaftes in irgendeinem Auto erleben kann, aber nur die Auserwählten in einem Käfer! – Besteht denn die Möglichkeit, daß dieser spezielle Käfer noch irgendwo existiert? – By the way, going to Sweden, back then, it was a kind of time-out, too, a hiatus in a chain of events, I had to make up my mind about something up there and I wasn’t the only one involved. And even if that accident seems like a proof that a break in the chain of events is full of events too, there’s been places up there that made me listen, and I listened until the rain in my heart had stopped. Until the „Train wheels runnin‘ through the back of memory“ had stopped. So… well you know.
AndersSehend:
ob man von einer realistischen möglichkeit der existenz dieses speziellen käfers bis in dieses jahr hinein sprechen kann, weiß ich nicht, denn er hatte zum damaligen dekadenwechsel bereits einige jährchen auf dem buckel, hoher einstelliger oder sehr kleiner zweistelliger bereich. hmm, wahrscheinlich würde ich ihm gerne die kofferraumhaube schütteln und mich endgültig von ihm mit einem „hey danke noch mal, kugelfreund, für damals“ verabschieden wollen.
… and I listened until the rain in my heart had stopped. Until the ‚Train wheels runnin‘ through the back of memory‘ had stopped. So… well you know. – bin mir noch nicht hundertprozentig sicher, ob ich jetzt bereits weiß. was ich hingegen weiß, ist, dass diese auszeit dafür gedacht ist, mein persönliches schweden zu finden, wo ich herzberuhigend lauschen und zuhören kann, oder zumindestens schon einmal eine karte für den weg dorthin aufzutreiben. und irgendetwas sagt mir, dass das auch klappen kann.
21.05.2011
Antirationalistischer Block / Christian Erdmann:
Das meinte ich mit „well you know“… daß ich Dir genau das wünsche, einen Ort, one that’s real or one that’s in your mind, wo eine kommt wie Wehmut („Was hatte sie denn angelockt? Was hatte Wehmut hier zu tun? Die Rede von Wahrhaftigkeit, die Rede von Wahrhaftigkeit.“), oder eine andere, die Dinge wispert wie „Whatever needs to happen, let it happen, let it be, through all you are protected, grace is effected over you“. Well you know. :)
„Kugelfreund“, that’s beautiful. :) Mysteriös am Käfer war auch seine Fähigkeit, Dinge aufzunehmen, die normalerweise nicht in einen Käfer passen, ein Gefühl, das man gerade auch im hinteren Teil des Kugelfreunds hatte, zwischen den Schlafsäcken, dem Klimbim, der Gitarre, dem Cembalo, der Bibliothek, der Gemäldesammlung, den hängenden Gärten von Babylon, dem Waldesdickicht, Schneewittchen und den sieben Zwergen. Unglaublich, was da reinging. :)
Jim Morrison Photo: Yale Joel 1968.

Foto © Christian Erdmann
#homedevelopedfilm

Foto © Christian Erdmann
#homedevelopedfilm
Und jetzt hatte Aljoscha in seinem Universum ein Schwarzes Loch entdeckt, das Ledas Existenz und Bedeutung verschluckte. Hatte er eine eigene Welt? Vielleicht là-bas. Tief unten. „Wir werden sehen“, dachte Aljoscha, griff nach seiner Jacke und machte sich auf in die Stadt.
Der Rathausplatz rumorte wie ein antikes Amphitheater. Publikum brodelte erwartungsfroh der Abenddämmerung und dem Beginn der Aufführung entgegen. Aljoscha stand neben einem jungen Paar, dessen aufgeregtes Getue den Börsenkursen in der Zeitung galt, obwohl es eher blöden Urlaubsphotos, einem skandalösen Liebesbrief oder dem Striptease einer Horde Heinzelmännchen angemessen war. Das mußte man tolerieren, aber nicht direkt neben sich. Aljoscha wanderte weiter, kam zu einer Absperrung seitlich der Bühne, und fand, daß dieser lumpenproletarische Standpunkt Sicht genug bot. Auf den Tribünenplätzen ging es pomphaft und bourgeois zu, während der Plebs den Platz als das betrachtete, was er vor Erfindung der Bannmeile zu sein pflegte: als den seinen.
Aljoscha sah, was man von der Tribüne aus nicht sah: Tänzerinnen und Tänzer, die hinter der Bühne, im Dunkel vor dem kolossalen Rathaus, Drehungen und Sprünge probten, Bruchstücke des bevorstehenden Balletts, und die Bewegungen, die jeder Akteur dort ganz für sich ein letztes Mal probte, waren wie eine exklusive Ouvertüre. Aus tiefer Konzentration brachen plötzlich Tanzfiguren hervor; ebenso abrupt brach die Bewegung wieder ab. Vor dem gewaltigen, sinistren Bauwerk wirkten die fragilen Tänzerinnen wie bleiche Priesterinnen am Tor zu einer anderen Welt; die Tänzer erschienen wie Boten vor dem Turm von Babel. Ihre blitzartigen und doch geschmeidigen Tanzbewegungen vor der eigentlichen Aufführung glichen den Signalen einer geheimen, rituellen Kommunikation, deren wortlose Intensität Gewaltiges ankündigte. Babylon wird fallen, beispielsweise. Mochte das Übermächtige mit seinen Schatten drohen, Babylon wird fallen. Zen-Meister Huang-Po hätte gesagt: Der Geist der Bewegung besiegt das Steingewordene und Starre. Oder: Ewiger Übergang gerinnt nicht. Vielleicht hätte er auch gesagt: Iß niemals Steckrüben.
Während Aljoscha noch gebannt zusah, kämpfte sich zu seiner Linken ein beherztes Mütterchen bis zur Absperrung durch; nachdem sie ein wenig Luft geschöpft hatte, stieß sie Aljoscha mit dem Ellenbogen an: „Hier sparen wir 30 Rubel!“
Aljoscha sagte: „30 Rubel? Donnerwetter.“
„Nicht wahr? Jedenfalls, hier haben wir ein schönes Plätzchen gefunden“, freute sich die alte Frau im Plural, als wäre sie mit Aljoscha zusammen aufgebrochen, um dem spektakulären Ereignis beizuwohnen.
„Soll ich Ihnen etwas sagen“, fuhr sie fort, „ich weiß gar nicht, was gespielt wird. Ich war nur auf dem Przewalski-Prospekt und habe Rollschuhe für meine Enkelin gekauft, bei Kastschej, da“, – sie raschelte mit ihrer Einkaufstüte – „und dann sah ich die Versammlung hier. Früher war ich oft im Theater! Ich hab noch den großen Grindko gesehen! Der hat sich ja nachher dann umgebracht. Die Größe, Gott, was hab ich mich da zermartert!“ – Aljoscha nahm an, daß diese letzte Bemerkung den Füßen der Enkelin galt und nicht dem großen Grindko, und setzte zu der Frage an, wie alt das Kind denn sei, aber das Mütterchen war soeben untergetaucht, um stöhnend und umständlich ihr Gepäck auf den Steinplatten zu deponieren. Wieder lotrecht fragte sie: „Aber welches Stück wird denn nun aufgeführt?“
„Ballett. Zu Musik von Gustav Mahler.“
„Ach, ein Ballett.“ Das schien nicht nach ihrem Geschmack. Aljoscha rechnete damit, daß sie unter beträchtlichem Aufwand Sack und Pack wieder emporhieven würde, doch sie beschloß: „Na, besser als ein Kurkonzert. Haben Sie schon einmal ein Kurkonzert erlebt, junger Mann?“
„Nein, bislang nicht.“
„Es macht Kranke gesund und Gesunde krank. Um 22 Uhr 30 muß ich gehen, sonst versäume ich meine Metro. Würden Sie mich zur rechten Zeit auf den Weg schicken?“
„Leider besitze ich keine Uhr“, sagte Aljoscha.
„Am Rathausturm ist eine Uhr“, sagte das Mädchen zu seiner Rechten.
„Ach? Na ja! Dann geht es. Gehören Sie wohl zusammen, Sie beide?“
Aljoscha und das Mädchen wechselten einen Blick. Sie war meerjungfräulich schön und trug so gewiß einen nordischen Namen, wie sie ihr Haar in Salzwasser wusch. „Nein, wir gehören nicht zusammen“, bekundete Aljoscha.
„Nicht? Na, was nicht ist, wird noch“, bestimmte das Mütterchen mit resoluter Fröhlichkeit. Die Meerjungfrau lächelte vielsagend und viel verschweigend, und dann setzte die Musik ein.
Das Haupt-Gebäude, die Baukunst des Bewußtseins, muß von unermeßlicher Größe sein. Betreten wir also die Korridore und Gemächer der entlegeneren Flügel. Kein Zaudern, keine Glaubensfragen. Es gibt Falltüren und Schlangengruben, wir wissen das, wir wissen das. Was nicht ist, wird noch? Daß etwas war, wird sein. Etwas wird am Ende dieses Weges liegen. Vergessene Geschöpfe mit Augen, die vor Trauer bluten, ein halb irr gewordenes Faktotum, das jede Faszination hierher verschleppt und an schwere Steine kettet, ein Louvre an Bildern, ein Logbuch der Traumfahrten, ein Labyrinth, ein Minotaurus, ein Kerberos, der die Schätze der Vergangenheit bewacht, oder die Schätze der Zukunft, vielleicht auch nichts als Spinnweben und der heulende Wind – was immer auch geschehen muß, laß es geschehen.
Während des ersten Aktes übermittelte die alte Dame Aljoscha und dem Mädchen tuschelnd ihre Eindrücke, wie eine Gouvernante, die sich reckt, um ihren Schutzbefohlenen die vorbeifahrende Kutsche des Königs zu beschreiben. Während des zweiten Aktes hauchte die Meerjungfrau Aljoscha einige Gedanken zu; was sie sagte, war nicht eigentlich an ihn gerichtet, und er vergaß sogar, verlegen nach einer Antwort zu grübeln, weil er spürte, wie um sein Herz gelegte Zwingen sich langsam zu lösen begannen. Während des dritten Aktes dann verließ das Mütterchen den Schauplatz, nicht ohne sich gerührt von ihren Schäfchen zu verabschieden.
Als Fanfare hatte die Musik begonnen, triumphal, wie eine Huldigung an Mars. Die Tänzer ließen ein Epos aufleben, in dem gewaltige Mächte miteinander rangen, und die Musik rief Aljoscha den martialischen Hauptmann ins Gedächtnis, von dem er geträumt hatte in der Nacht der Katzenmenschen. Es war strahlende Musik, die vorwärts stürmte wie ein göttlicher Streitwagen, sie warf alles und jeden zwischen die Fässer des Zeus mit den Gaben des Wehs und den Gaben des Heils. Bilder, die den Rausch sich erprobender Kräfte beschworen, naturhaften Trieb, der die Konstellationen der Masse bestimmte – Wesen wurde zu Gepräge, Gepräge zu Gefüge, Gefüge zu Struktur, Struktur zu Formation, Formation zu Organisation, Organisation wurde totalitär, wurde Tyrannei, alle nur noch Paladine einer fatalen Gesetzmäßigkeit, alle nur noch einstimmig sich einstimmend auf einen großen Glauben, in dem Menschliches unter Menschen sich verlor. Die Musik jedoch, sie untergrub latent ihr eigenes Pathos und ließ dunkle Vorahnungen wie schleichendes Gift durch die Motive rinnen. Inmitten des heroischen Taumels fühlt ein Namenloser die Bedrohung, kehrt sich ab vom hymnischen Wahn – er hält Ausschau. Aber wird er klug aus seiner Suche? Begreift er, was ihn treibt?
Er rettet sich in einen Traum von anderen Sphären. Lyrische, verführerische Musik, wie eine Huldigung an Venus. Himmlisch helle Anmut der Tänzerinnen, eine Vision von Heilung und Erlösung, vor Augen geführt wie ein neues Versprechen für Tantalus, zu nah, um jemals wieder zu verlöschen, zu schön, um jemals Wirklichkeit zu werden, ohne Opfer zu verlangen – zu erbarmungslos schön.
Was dann kam, war anders, unvorstellbar anders. Zunächst war nur Vibrieren, eine schaurige Präsenz, aus unendlichen Tiefen kommend, als Klang zunächst kaum hörbar; dann, so unerwartet, als würde eine Statue ihr steinernes Haupt bewegen, eine Stimme. Eine Frauenstimme. Eine Welt entfernt.
O MENSCH
singt sie und etwas regt sich, 2000 Faden tief, là-bas,
O MENSCH
auferweckt, beschworen,
GIB ACHT
unbeirrbar aufsteigend, höher und höher,
GIB ACHT
bis es an die Oberfläche kommt und auftaucht unter einem Purpurhimmel,
WAS SPRICHT DIE TIEFE MITTERNACHT?
schattenlos sich erhebend in unheimlicher Stille, unauslöschlich, unausweichlich – die Gestalt der Namenlosen, die namenlose Gestalt.
ICH SCHLIEF! ICH SCHLIEF!
Ihre Macht ist göttlich genug, um Blasphemie zu sein. Sie kennt ihre Opfer. Sie macht sich auf den Weg, um
AUS TIEFEM TRAUM
in tiefen Traum
BIN ICH ERWACHT
zu führen einen Erstgeborenen und ihn an vergessene Weisen zu erinnern, vergessene Seinsweisen, versunkene Kaskaden quälend süßer Töne, wie sie die Undinen singen.
DIE WELT IST TIEF
Die nunmehr Anwesende legt über ihn den Hauch des Abwesenden und spricht: „Du bist nur halb von dieser Welt.“
UND TIEFER ALS DER TAG GEDACHT
Sie schießt ihm eine Silberkugel durch den Kopf und spricht: „Unbedingte Liebe oder überhaupt nichts. Die Wurzeln sind abgeschnitten. Du wirst verdorren.“
TIEF IST IHR WEH
Sie schlingt die Arme um ihn, und ihre Augen sind Speere aus Licht, und sie spricht: „Aber eine Sehnsucht ist in dir, mächtig wie Tigersprünge, maßlos wie Prinzenwünsche, geduldig wie ein Reptil.“
LUST –
Sie peitscht ihn mit Ruten und spricht: „Sie rührt sich nicht. Doch sie ist hellwach. Und so viel älter als das Schlaflied, das die Welt ihr singt.“
TIEFER NOCH ALS HERZELEID
Sie zeigt sich in den Winkelspiegeln eines Kaleidoskops, in dem bunte Glassplitter zu Sternen werden, und sie spricht: „Schönbildschauer, meine Gunst ist ein Palast, mit hunderttausend Juwelen geschmückt. Lerne zu vergessen und tritt ein.“
WEH SPRICHT: VERGEH!
Sie steht in einem perfekten Kreis und spricht: „Glaubst du an die Möglichkeit des Ideals, das Seiende zu berühren?“
DOCH ALLE LUST WILL EWIGKEIT, WILL
Sie benetzt sein Auge mit einer Träne und spricht: „Du bist das Auge. Du bist der Schauplatz. Finde die eine Illusion, von der du vergessen kannst, daß sie eine ist.“
TIEFE, TIEFE EWIGKEIT
Morgenglocken lösten den Bann: der Traum verflüssigte, die Umgebung nahm ihren Platz wieder ein. Auch der Namenlose auf der Bühne rieb sich die Augen: er sah ein ätherisches weibliches Wesen – einen Engel. Jähe Lichtung. Kehre des Seins. Er näherte sich vorsichtig, und der Engel scheute nicht zurück, gab sich zum Pas de deux, zum Nichts als Zwei…
Oder war dies wieder nur ein Traum in einem Traum? Zur Schlußsequenz der Symphonie über schicksalsschweren Paukenschlägen schritt das engelhafte Wesen am Bühnenrand von rechts nach links, als müßte es die Parade der vom Schattenreich mit einem Gestellungsbefehl Versehenen abnehmen, schritt langsam von einem Ende zum anderen, von Kether zu Malkuth, vom Sein zum Woanderssein, von den Brettern, die die Welt bedeuten, zum Ausgang, von der Wirklichkeit zum Riß in der Wirklichkeit, von irgendeinem Hier zu irgendeinem Dort.
Und gerade so, als läge im Erscheinen dieses ätherischen Wesens nichts anderes als ein immerwährendes Urteil, das Unerreichbarkeit verhängt, sah der Namenlose aus der Ferne zu wie ein Gerufener, der doch nicht folgen kann, obgleich es sein Wille ist. Und mit einem letzten Blick in ihre unbewegten Augen fragte er sie – nichts. Er fragte sich, ob er sie wohl jemals wiedersehen würde. Und sagte stumm Adieu.
War dies das Ende? Oder schritt sie nur voraus auf einem Weg ins Folgenschwere, in eine wirkliche Geschichte, die vielleicht immer schon bestanden hat, als einzig mögliche? Es gab keine Antwort mehr auf diese Frage. Der Vorhang war gefallen.
Die Menge gönnte den Tänzern stürmische Ovationen, um sich dann doch recht eilig zu zerstreuen. Aljoscha sah sich um. Er hätte gerne noch auf irgendwas gewartet, doch er wußte nicht, worauf. Als er zu seinem Fahrrad ging, fiel ihm endlich ein, woher er den Text des Liedes von der tiefen Welt kannte – es war das Mitternachtslied aus Nietzsches Zarathustra. Das Gefährt für den Heimweg stand seltsam resigniert da. Zen-Meister Huang-Po hätte gesagt: Stell’ dein Fahrrad nicht an einen Baum, an den der Hund pißt.
[Christian Erdmann, „Aljoscha der Idiot“]


Foto © Christian Erdmann

Foto © Christian Erdmann
Rezension #19
Paul23 auf LovelyBooks:
Ein großer, dunkler, surreal anmutender Liebesroman in dichter, poetischer Sprache!


Rezension #18
19. November 2018
Überwältigend!
Von F. H.
Ein Kunstwerk in jeglicher Hinsicht! Danke, Christian Erdmann, für dieses beeindruckende Geschenk.

