Lieblingsfilme: Was ist ‚großes Kino‘? [SPIEGEL ONLINE Forum], 2007 – 2009.
Christian Erdmann:
Während hier alles brachliegt, breche ich eine Lanze für Stanley Kubricks „Barry Lyndon“. Entgegen aller anderslautenden Gerüchte ist der Film nur lang, aber in keiner Sekunde langweilig. Im Zeitalter der screenshots ist es möglich, sich Gainsborough-Bilder an die Wand zu hängen, die nicht von Gainsborough sind, weil sie von Kubrick sind. Schauspieler, von denen man das nicht unbedingt erwartet – Ryan O’Neal, Marisa Berenson – gehen einem plötzlich mit der stillen Intensität an die Nieren, die Kubrick in ihre Gesichter gezaubert hat. Von Nebendarstellern wie Murray Melvin als Reverend Runt gar nicht zu reden, der seine geheime Liebe zu Lady Lyndon unter seiner zimperlichen Pietät verbirgt; wenn man Melvin am Spieltisch sieht, wie er der Blicke zwischen Redmond Barry und Lady Lyndon gewahr wird, und man Zeuge wird, mit welch minimalen Mitteln er ausdrückt, daß für ihn gerade eine Welt zusammenbricht, möchte man Helmut Berger zustimmen: „Es gibt keine Charlotte Rampling mehr“.
Der Film ist ebenso ätzende Satire wie distanziert-zärtliche Annäherung. Man fällt in Szenen hinein, bis die Erzählstimme ironisierende Kontrapunkte setzt. Ein ständiges Wechselbad zwischen tiefer, süßer Romantik (Barry und Lady Lyndon auf dem Balkon) und knallharter Entlarvung von Opportunismus und Oberflächlichkeit.
Bei der Duellszene zwischen Barry Lyndon und Lord Bullingdon nach 2½ Stunden war seinerzeit die Hälfte der Kritiker, die nach „Clockwork Orange“ von Kubrick offenbar alles, nur nicht dies, erwartet haben, vermutlich bereits eingeschlafen; mir hingegen stockte der Atem. Über 10 Minuten hinweg. Im Grunde ist „Barry Lyndon“ ein Actionfilm par excellence, nur daß der special effect, den Kubrick dabei einsetzt, darin besteht, die „Action“ aus Gesichtern hervorscheinen zu lassen, Gesichter entweder von einer dem Zeitalter entsprechenden Maskenhaftigkeit, oder, wie bei Redmonds Barrys Mutter, dem höflichen Highwayman-Räuber und seinem Sohn, oder dem englischen Offizier, den Redmond zu Beginn des Films brüskiert und hernach in einem Duell zu töten vermeint, von einer gnadenlos überzeugenden Authentizität. Souveräner und virtuoser als Kubrick, das in jeder Sekunde detailversessene Genie, führt niemand in die Mitte des 18. Jahrhunderts.
Händel, Vivaldi, Schubert, The Chieftains – nicht nur setzt Kubrick mit dem Einsatz der Musik immer, IMMER, auf unübertreffliche Weise Stimmungen, die Musik gehört so sehr zu diesen Bildern, daß man hinterher Schuberts Klaviertrio (opus 100) nicht mehr hören kann, ohne an Marisa Berensons stummes Leiden zu denken. Dös is faktisch, wie Joseph Roth immer sagte, außer für jene, die bei Schuberts Klaviertrio an Catherine Deneuve in „The Hunger“ denken, natürlich.
Unterschätztes Meisterwerk, ganz großes Kino.
Gwynplaine:
Auf jeden Fall! „Barry Lyndon“ bewundere ich sehr. Die Duell-Szene ist in der Tat sehr intensiv. Auch der Hass in Bullingdons Augen, als er von seinem Stief-Vater demütigende Prügel bezieht.
Christian Erdmann:
Das Großartige und Wunderbare ist, daß Kubricks angeblich immer so „kühler“ Blick und diese permanente Desillusionierung nicht verhindern, daß man genuine compassion mit diesen Figuren empfindet, noch nach 27 Stunden, als Redmond und Lady Lyndon am Bett ihres sterbenden Sohnes sitzen. Kubrick bringt einem, bei aller Kritik an ihnen, diese Figuren näher, als es viele andere „ach so intime“ Filme der 70er heute – wenigstens bei mir – vermögen. „Das siebente Siegel“ wird immer groß sein, aber „Szenen einer Ehe“? Gut, wichtig… aber nichts für mich.
BerSie:
Bei „Barry Lyndon“ möchte ich ergänzen, dass in den Innenräumen mit lichtstarken Objektiven nur bei Kerzenlicht gefilmt wurde! Damals eine Innovation!
Christian Erdmann:
Mit Equipment von der NASA! Marisa Berenson hat erzählt, daß bei manchen close-ups die Schauspieler sich keine Handbreit rühren durften, sonst wären sie aus dem Fokus verschwunden.
Ich könnte gar nicht aufzählen, wo überall ich, seit Marisa Berenson in „Barry Lyndon“, überhaupt nicht mit mir handeln lasse und auf Einwände bezüglich schauspielerischer Leistung sofort in verständnisloses Anstarren verfalle, im günstigsten Fall die Virtuosität zartester Mundwinkelbewegungen rühme und insgeheim eine Karriere als Minnesänger ins Auge fasse. Kann mich noch gut erinnern, wie mal, als ich 15 war oder so, Wolf von Lojewski den Film „The Jungle Princess“ mit Dorothy Lamour ansagte und dabei schwer didaktisch wurde. Als der Film vorbei war, beschloß ich: ich höre dich nicht, Wolf von Lojewski, nie mehr.
Christian Erdmann:
Marisa Berenson in „Barry Lyndon“ ist so verstandraubend, ich krieg‘ immer SO’N Hals wegen Redmond, wenn er seinen Tabakqualm in ihr Antlitz bläst.
Sagte ich schon, daß „Barry Lyndon“ der Lieblingsfilm von Brian Eno ist? Wahrscheinlich schon. Das Leben ist ja auch deshalb oft so unverständlich, weil es Menschen gibt, die sich nicht sofort beim ersten Auftauchen von Lady Lyndon in Spa in sie verlieben.
Es war einer dieser Tage, an denen nichts so ist, wie es sonst ist. Anfang oder Mitte der 90er Jahre, im großen Saal mit ebensolcher Leinwand, im Schloßtheater in Münster. Eigentlich wollte ich ‚Barry Lyndon‘ sehen, zum allerersten und bis heute letzten Mal. Irgendwie habe ich das auch, und dann doch wieder nicht. Normalerweise kann ich problemlos zwischen ‚Im Film, in der Geschichte sein‘ und ‚Zwischendurch einmal die Machart bewundern‘ wechseln, wobei ich meistens bis auf kleine Millisekundenausflüge komplett in der Geschichte bin beim ersten Viewing. Aber damals saß ich nur so da in diesem Kinosessel – völlig umsetzungshingerissen – und habe mich first and foremost seit der Kerzenszene den Restfilm über immer nur gefragt „Wie zum Henker haben die das gefilmt?“, weil nirgendwo Anzeichen für eine andere Beleuchtung als eben diese Kerzen auszumachen waren. Makes perfect sense, lichtstarke Objektive von der NASA. Was auch sonst, Kubrick halt … trotzdem, ich kann mich überhaupt nicht an die Geschichte erinnern, die Du – zusätzlich zur Umsetzung und vor allem Marisa Berenson – so wunderbar und bewundernd beschreibst. Lediglich Ryan O’Neal ist bei mir hängengeblieben nach ‚Paper Moon‘, dachte so bei mir „Was für ein gutaussehend-blasiertes Arschloch dieser Mann, in dieser Rolle, einfach großartig“, während ich den Film nicht sah. Da fällt mir ein, ich muss Peter Greenaway in meine Lieblingsfilmliste aufnehmen, weil ich bis ‚Prosperos Bücher‘ alle seine Filme eben in jenem Schloßtheater erwischt habe.
Anonym:
(Annette to Barry Lyndon) …wenn ich Ihren Blog weiter verfolge, kann ich meinen Job an den Nagel hängen, nur noch all dies in mir, was mich so sehr an das erinnert, das ich liebte. Thackereys „Jahrmarkt der Eitelkeiten“ hat mal zu meinen geheimnisvollen Top Ten gehört, die man nie wirklich erklären kann. Eine Berührung ohne Grund. Den Film von Kubrick kenne ich noch nicht. Die Szene, die Sie zum Abspielen hineingestellt haben, ist a-tem-be-raubend. Ich werde mir nun ein Kino mieten, ein Glas Schampus einschenken und schauen! Monsieur, wie halten Sie all das aus!
Antirationalistischer Block / Christian Erdmann:
Britta: *Neglected masterpiece* wie „Marnie“, I seem to have a penchant for those. Mich verwirrt immer, wenn Kubricks Filme, zumal dieser, „kalt“ genannt werden. Weil jemand Leidenschaft, Herz und Seele in seiner Kunst nicht nach gängigen Klischee-Vorstellungen zeigt? Finde die zweite Hälfte von „Barry Lyndon“ in ihrer Intensität manchmal kaum auszuhalten. Ein guter Satz, den man bei imdb lesen kann:
„[…] so beautiful to look at that it almost becomes artistic pornography (in the sense of creating intense emotion).“ Auch: „The film’s greatest scene – the gambling table, where Barry and Lady Lyndon stare at each other in the candlelight like clockwork figures forced into humanity, is a masterpiece of cinema translating minimalist acting into genius …“
Ist es wichtig, daß der Erzähler mit ironischer Überlegenheit kommentiert, was wir sehen und hören? Schon. Bedeutender aber ist, wie die Intimität und Tiefe der Bilder, wie all die subtilen Gesten und Blicke die Selbstsicherheit des Erzählers unterminieren. Wie Ryan O’Neal Barry eine Komplexität gibt, die eine Beschreibung als irischer Halunke, Opportunist & upstart oberflächlich bleiben läßt. „Barry Lyndon“ betritt man wie eine Welt, und man gleitet durch sie wie durch einen Traum. Kubrick gibt einem die Zeit dazu. Und in there fühlt man, wie unendlich komplexer alles ist, als selbstgerechte Kommentare glauben machen wollen. So wie man hinter der makellosen Beherrschtheit und scheinbaren Unnahbarkeit bei Marisa Berenson a flood of emotions erkennt. Bis mit ihren Tränen die Geschichte absolutely heart-wrenching wird. Und man verläßt diese Welt mit derselben Melancholie, mit der man aus manchen Träumen erwacht.
Marisa Berenson bekam die Anweisung, schon Monate vor Drehbeginn jedes Sonnenlicht zu meiden. :)
Nach meinem Greenaway-Elaborat (pej.) auf SPON könnte ich auch forschen. Ray und ich hatten da mal diese Perückenphase. „Der Kontrakt des Zeichners“ und „Drowning By Numbers“, meine Favoriten von Greenaway.
Ich habe übrigens einen Brief von Murray Melvin (Reverend Runt), eine äußerst liebenswürdige Antwort, die er auf dem Briefpapier eines Theaters in Nordwales schrieb, wo er in einer Inszenierung von „The Devils“ gerade dieselbe Rolle spielte, die er auch in Ken Russells Film hatte (Father Mignon): „It’s a sort of rebirth and a very strange feeling.“
Annette: a-tem-be-raubend. Nichts weniger. Zu Zeiten kenne ich überhaupt keine atemberaubendere Szene der Filmgeschichte, hands down. Es wäre mir aber sehr lieb, wenn wir all das zusammen aushalten könnten, zumindest bis wir alle unseren Job an den Nagel hängen und auf dem Zauberberg der geheimnisvollen Top 10(0)(0) einchecken, empfangen von Händels Sarabande im Kubrick-Arrangement, ready for one spellbinding experience after another. Naja. Sorry it took me wild. Was ich eher NICHT mehr aushalte, ist dieser ganze Dödelkram, mit dem man zugeschüttet wird.
Matt Packer, thequietus.com, 29.07.2016:
For Barry Lyndon is not just a hidden gem in the Kubrick canon that struggles for attention among glitzier company. It is, by monolith-shattering light years, the director’s greatest achievement – certainly the Kubrick Fan’s Kubrick Film; the one that his most ardent devotees consider to be the optimal showcase for all of his finest flourishes: ravishing symmetry, plunging depth-of-field, immaculate script structure, clever casting – every supporting player as crucial to the overall mosaic as the leads – and outstanding performances, particularly from co-stars Ryan O’Neal and Marisa Berenson. Oh, yes… and matchless, faultless music timing – the kind that, if you really focus on it, sprains your mind with its agonising levels of concentration.
Ryan O’Neal’s lead performance is flat-out astonishing, and confoundingly under-acknowledged. This is, in every sense, his captain Willard or Michael Corleone: a whole, three-dimensional figure who feels more like a real person than a scripted character worn by an actor. O’Neal sells Redmond’s three-hour transition from sympathetic underdog to contemptible bum with exquisite subtlety.
Marisa Berenson doesn’t even make her first appearance in the film until the 99th of its 187 minutes, but more than earns her co-star billing, exuding ornate poise and bone-China fragility as a woman who doesn’t realise she has let a morally rabid dog into her home until it’s too late. Drawn at first to Redmond’s chivalric veneer – a mirage cultivated on the Chevalier’s watch – the Countess of Lyndon eventually crumples into the countenance of a bagged-up cat that has been hurled into a river in the company of a brick. Never much of a household name, despite her superb showing in the film, Berenson follows Lolita’s Sue Lyon and 2001’s Keir Dullea in the distinguished line of ace Kubrick finds that are almost wholly identified by their work with the director.
Marisa Berenson:
„I liked him [Kubrick] very much. He had a lot of dry humour. Contrary to what people think – they have this image of Stanley as this difficult ogre – he wasn’t at all. He was a perfectionist but every great director I’ve worked with has been a perfectionist. You have to be to make extraordinary films.“
Brücke-Museum Berlin, 24. November 2025. Das Brücke-Museum kann immer nur 2% seines Bestandes in den Ausstellungsräumen präsentieren, drei Monate lang sind derzeit ausschließlich Gemälde von Karl Schmidt-Rottluff in einer umfangreichen Werkschau zu sehen. Zwei andere Gründungsmitglieder der „Brücke“, Erich Heckel und Ernst Ludwig Kirchner, haben mich immer sehr beeindruckt, mit dem Werk von Schmidt-Rottluff war ich nicht so vertraut. So nutzten wir den Tag nach dem Konzert von Black Rebel Motorcycle Club im Astra Kulturhaus, um diesen mythischen Ort zu sehen, holy ground, das Brücke Museum selbst versäumt nicht, immer wieder daran zu erinnern, daß David Bowie, ein großer Bewunderer des Expressionismus und der Brücke-Künstler, während seiner Zeit in Berlin häufig hier war und zuweilen auch Iggy Pop mitnahm. Manchmal, so die unwidersprochene Legende, fuhr Bowie den Weg von seiner Wohnung in der Hauptstraße 155 bis nach Dahlem mit dem Fahrrad. Bowie ist mit der Geschichte des Brücke-Museums ebenso untrennbar verbunden wie mit der Kunst selbst: hier hatte Bowie das Gemälde „Liebespaar zwischen Gartenmauern“ von Otto Mueller bewundert (-> Today’s Best Song Ever: David Bowie – Heroes); „Roquairol“, das Gemälde von Erich Heckel,
inspirierte die Plattencover sowohl von Iggy Pops „The Idiot“ als auch von David Bowies „Heroes“.
Roquairol war also nicht zu sehen; there is always a next time. Aber es war phantastisch, das Werk von Schmidt-Rottluff zu entdecken. Es war ein schöner Tag mit ihm. Die Ausstellung läuft bis zum 15. Februar 2026.
Bildnis S. (Rosa Shapire), 1911
Sinnende Frau
Blauer Mond
Fischerbucht
Blaues Fenster
Geweihfarn und gelber Krug
Im Atelier
Stilleben mit Steinplastik
Ferner Mond
Augustnacht
Und irgendwo hier hat David Bowie sein Fahrrad abgestellt.
Interview mit David Bowie, Tagesspiegel, 2002:
Welche Orte würden Sie in Berlin gerne wieder aufsuchen?
Da ich so ein Kunstfan bin , würde ich gerne mal wieder ins Brücke-Museum gehen…
…die Sammlung der expressionistischen Künstlergruppe „Die Brücke“ am Rande des Grunewalds.
Ja, genau. Diese Periode hat mir persönlich immer besonders gut gefallen. Das wäre so etwas wie eine Pilgerreise für mich.
Die Bilder von Otto Mueller und anderen haben ja offensichtlich damals auch Ihre eigene Malerei inspiriert.
Ja, sehr stark. Es waren aber auch noch viele andere deutsche Künstler für mich wichtig.
Und wirkt dieser Einfluss noch bis heute?
Ich denke, ich war damals so besessen davon, dass er mich seitdem nicht mehr losgelassen hat. Er ist Teil meines Vokabulars als Künstler geworden.
Ich halte Schlager für einen gewinnorientierten Ausdruck der Musikindustrie, um an die niedersten Instinkte des Menschen zu appellieren. Das kann ich als Verfechter der Aufklärung und als übergeordnet legitimierter Erzieher des Menschen so nicht hinnehmen. So werde ich weder Schlager noch seichte Kinderlieder in meinem Haushalt absegnen können, da ich mich in der Pflicht sehe, die abendländischen Kulturwerte zu verteidigen.
Es sind auditive Reize, die den Menschen zur asozialen Vereinzelung zwingen. Der Schlager, als Gattungsbegriff der hörbaren Vereinsamung, lebt der Welt eine Vereinfachung und emotionsüberhöhende simplizistische Seinsentfremdung vor; das autistische Glücksbeharren hedonistisch agierender Selbstverfremdung entgrenzt den Menschen seiner musikalischen Möglichkeiten. Bildungspolitisch sehen wir also eine Verantwortung, die sich nicht nur dem bloßen Wünschen ergeben sollte.
Aljoscha der Idiot / Christian Erdmann:
Die Zeit. Die trennt nicht nur für immer Tanz und Tänzer. Die Zeit. Die trennt auch jeden Sänger und sein Lied. Denn die Zeit ist das, was bald geschieht. Die Zeit. Die trennt nicht nur für immer Traum und Träumer. Die Zeit. Die trennt auch jeden Dichter und sein Wort. Denn die Zeit läuft vor sich selber fort. Zeit macht nur vor dem Teufel halt. Denn er wird niemals alt. Die Hölle wird nicht kalt. Zeit macht nur vor dem Teufel halt. Heute ist schon beinah‘ morgen. Die Zeit. Die trennt nicht nur für immer Sohn und Vater. Die Zeit. Die trennt auch eines Tages Dich und mich. Denn die Zeit, die zieht den längsten Strich. Zeit macht nur vor dem Teufel halt. Denn er wird niemals alt. Die Hölle wird nicht kalt. Zeit macht nur vor dem Teufel halt. Heute ist schon beinah‘ morgen. Die Zeit – alle Zeit – Ewigkeit. Zeit macht nur vor dem Teufel halt.
Die hörbare Vereinsamung, die Zeit im Zeitalter ihrer BarryRyanisierung, da geht ein Mann die Gleise entlang -> in Baden-Oos und im autistischen Glücksbeharren, durch den kalten Nebel der Selbstverfremdung, und der Supptext stellt bohrende, entgretzte Fragen. Wenn heute schon beinahe morgen ist, weil durch die vor sich selbst fortlaufende Zeit ein Loch entsteht, kann Henri Bergson durch das Loch kommen? Was macht den Teufel alterslos? Die Zeit, die zieht den längsten Strich, oder wie Ryan formuliert: „Schtrikch“. Wo ist dieser Strcikc, auf dem wir alle gehen, auf den wir zugehen, auf dem Strich dem Strich entgegen, dem längst gezogenen? „Ich habe verstanden, daß man contemporary sein muß, das future-Denken haben muß.“ (Jil Sander). Oder, um Jil Sander zu zitieren: Der problembewußte Mensch von heute kann diese Sachen, diese refined Qualitäten mit spirit eben auch appreciaten. Aber ist der problembewußte Mensch von heute der problembewußte Mensch von heute oder von beinahe morgen? Das eben fragt uns Barry Ryan, dieser Eulenspiegel der Selbstentfremdung, dieser Selbstbespiegler der entfremdeten Eulen.
Christian Erdmann:
Wenn schon deutscher Schlager, entdecke ich halt lieber die 60er. Ricky Shaynes „Ich sprenge alle Ketten“ ist so viel charmanter als jedes Stück von, ich weiß nicht, werden Juli und Silbermond auch unter deutscher Schlager verbucht? Marion Maerz hat damals mit „Er ist wieder da“ ein Stück abgeliefert, bei dem auch Phil Spector die Pistole in der Tasche gelassen hätte und an dem es rein gar nichts zu mäkeln gibt, selbst wenn man das verobjektivierte Trauma, daß da gerade keiner bei Marion anruft, mittlerweile durch den Shakespeare’schen Lyrics-Kosmos von Nick Cave oder Peter Hammill ersetzt haben mag.
Die „CDs der Woche“ feiern gerade gebührend die Wiederaufstehung des Marc Almond, nach einem Motorradunfall dem Tod von der Schippe gesprungener Gänsehautverursacher im Non-Stop Erotic Cabaret, und bei der Gelegenheit fällt einem auf, daß es diese Tradition in Deutschland, im deutschen Schlager eben einfach nicht gibt, mit extremer äußerer Künstlichkeit extreme Authentizität zu produzieren, den torch song, in dem sich die Seele bloßlegt. „Seele“ wird im deutschen Schlager der Gegenwart in der Regel nur gespielt, und das sehr gruselig.
Zwei, drei Songs von Rosenstolz allerdings lassen mich am Kreuzweg knien im kalten Licht des vollen Mondes, und es kommt ja nicht von ungefähr, daß Marc Almond sie für eine Zusammenarbeit kontaktierte.
Francoise Hardy. Von mir aus könnte sie auch das Telefonbuch singen. Francoise Hardy war als BRAVO-Girl und mit diversen Songs in Deutsch Teil der hiesigen Schlagerszene, die damals wiederum, wenn auch mit teilweise sehr kruden Resultaten, Teil der internationalen Schlagerszene war. Marion Maerz aber hat einen Song von Ray Davies (The Kinks) singen können, und das ganz wunderbar.
Irgendwann fing der deutsche Schlager an, nurmehr in der eigenen Suppe herumzudrögeln. Der „internationale“ Touch mutierte für eine Weile noch zur Mischung aus deutscher Tümeligkeit und deutschem Fernweh, dann war der Ofen aus.
Insgesamt sind Schlager hierzulande, statt etwas über das wirkliche Leben zu erzählen, einfach zu sehr Kompensationsangebote für sehr bestimmte Zielgruppen. Es fehlt nach wie vor völlig die Komponente Charisma, Authentizität, was auch immer, die über den Song hinausgeht, die auch das Genre transzendiert. Wenn Johnny Cash sang, war die Kategorie „Country“ viel zu klein.
Muffin Man:
Das französische Chanson thematisiert gewissermaßen das Schattendasein; das hierbei vermittelte Frauenbild ist jedoch, daß die Frau ob ihrer Rolle als Opfer der Verhältnisse sich betrübt und wehmütig Ausdruck verschaffen darf…
Christian Erdmann:
Francoise Hardy ist sicher ein Spezialfall französischer weiblicher Melancholie, aber sie folgt entschieden ihrem eigenen Plan. Sie ist ihr eigener Entwurf. Warum war Emma Peel in den 60ern so populär? Diana Rigg kombinierte Stärke und betont feminine Weiblichkeit, dabei ziemlich kinky und alles andere als Opfer der Verhältnisse. In der Popgeschichte gab es so viel mehr Frauen, die sehr eigene bis eigenwillige Vorstellungen künstlerisch umgesetzt haben, als uns die Gegenwart weismachen will. Seltsam, wenn die Proklamierer selbst das Proklamierte, das schon lange vor ihnen existierte, eher abschaffen als durchsetzen. Die „Girl Power“ proklamierenden Spice Girls haben in den 90ern als bloßes Marketingtool eher einer Verschiebung von Power zur Pose Vorschub geleistet. In den Erscheinungsformen, die Sie wahrscheinlich mit dem „vermittelten Frauenbild“ meinen, lag sehr viel mehr Subjekthaftigkeit als Objekthaftigkeit, Girl Power war schon immer, Mädchen/Frauen, die genau das Bild vermittelten, das sie selbst vermitteln wollten.
Sich in den Songs wirklich zum Subjekt über die eigene Geschichte machen – das ist, was man im deutschen Schlager eher vergeblich sucht.
So, Beichstuhl ist offen: Geständnisse zu Liedern, die ich wirklich liebte. Katja Ebstein, Wunder gibt es immer wieder, erstens hat sie recht, zweitens ist ihr Gesang phantastisch und drittens mußte man sich bis über beide Ohren in sie verlieben. Auf YouTube gibt es ihren Auftritt beim ESC auch mit der Kommentatorin des irischen TV, die Katjas „most striking outfit“ rühmt. Most striking, sowas Ähnliches dachte der 11jährige auch, als er diese Erscheinung sah.
Und das Arrangement von Christian Bruhn ist brillant.
Alexandra hatte eine wunderschöne Stimme und sang von Sehnsucht nach Russland, tatsächlich tourte sie mit dem Orchester Hazy Osterwald 1967 durch die Sowjetunion. Die Melodie berührte meine noch sehr junge Seele, und bald darauf beschloß ich, daß die Hymne der UdSSR, heute die russische, die schönste der Welt ist, sorry.
Dieses Lied habe ich erst durch die NDR-Schlagernacht mit Bernd Begemann entdeckt, bei der Marion Maerz auch zu Gast war, Begemann begleitete sie auf der Gitarre für diesen Song. Bezauberndste B-Seite des deutschen Schlagers.
Wer Alice ist (war), wer Ellen? Ich fürchte, ich weiß es bis heute nicht, aber ich war immer hochentzückt, sie zu sehen. Mein Vater pfiff und sang Songs der Kessler-Zwillinge mit Leidenschaft.
„This is a magnificent piece of performance art, combining early 60’s glam, kitsch, chic, camp, elegance and schlock.“ Cheesy? „Hauen Sie ab, ich warne Sie!“ (Bob Dylan). May they rest in peace.
[Nur damit keine Mißverständnisse aufkommen: Barry Ryan war ganz ganz groß.]
SPIEGEL ONLINE Forum „Lieblingsfilme – was ist ‚großes Kino‘?“
08/2009
Aljoscha der Idiot / Christian Erdmann:
Ansonsten, heute nacht: „Die Nacht des Leguan“. Richard Burton auf der „phantastischen“ Ebene, am Ende der Welt, zwischen Ava Gardner, Deborah Kerr und Sue Lyon.
ray05:
Ava Gardner ist eine für Herzogs obszönen Dschungel. „Diva“ ist ein zu schwacher Begriff für die Frau, ich kann da gar nicht hinkucken. :)
Christian Erdmann:
Da kennen wir keine Gnade, ray. Keine.
Bei den Dreharbeiten für „The Night of the Iguana“ muß es gebritzelt haben bis Texas. Elizabeth Taylor war anwesend, um Burton vor Ava zu beschützen, die wiederum mal mit dem ebenfalls vor Ort wachenden Peter Viertel zusammen war, der mittlerweile aber mit Deborah Kerr verheiratet war. Man wäre ja geneigt zu sagen, Burton war nie besser, aber da ist noch „Becket“.
07/2010
Cugel:
Ebenfalls mit Ava Gardner und ganz großes Kino: Die Nacht des Leguan. Mit dabei ein wie immer genialer Richard Burton als strauchelnder Priester sowie eine allerliebste Deborah Kerr.
Christian Erdmann:
Ja, Sie sagen es, gehört unabdingbar in mindestens eine schwüle Sommernacht pro Jahr. Wenn ich so müde wäre wie jetzt, würde ich wahrscheinlich einfach nur nicken, wenn jemand behauptet: gleich alle drei, Burton, Gardner, Kerr, auf den Achttausendern ihrer ohnehin überragenden Kunst. Und wer „allerliebste Deborah Kerr“ schreibt, darf meinetwegen sowieso behaupten, die Welt sei eine Cugel.
Cugel:
Anmerken möchte ich noch, dass in dem Film eine meiner Lieblingssterbeszenen stattfindet. Hoch über der Brandung auf einer umwucherten Terrasse sitzend, nach vollbrachtem Leben in den wolkenumhangenen Vollmond schauend endlich den Stock wegwerfen und vielleicht noch ein schwaches „also gut, ich bin soweit“ denken… das wär’s doch. Wird aber schwierig.
Christian Erdmann:
Vorher der älteste praktizierende Poet der Welt werden, bitte.
Nonnos letztes Gedicht, das alle zum Schweigen bringt, die letzten Wolken, die am letzten Mond für ihn vorbeiziehen, Deborah Kerr, die irgendwas, irgendwen bittet: Oh God, please can’t we stop now… ja.
Hannah ist ja wie Laura in „Die Glasmenagerie“ und Blanche (Streetcar) einer dieser Rose-Charaktere. Rose, Tennessee W’s Schwester, zu der er ein so obsessives Verhältnis hatte, schön, ätherisch, schlank, blond, verstört, als schizophren diagnostiziert, Lobotomie. Can’t we stop now… nach der Nacht des Leguan läßt er sie gehen, das Schicksal von Rose, für das er sich immer schuldig fühlte, akzeptierend, er läßt etwas gehen, das schon lange vergangen ist. Nachdem sie, in Gestalt von Hannah, ihn, in Gestalt von Shannon, vielleicht verstehen ließ, wie man mit seinen Blauen Teufeln leben kann.
Kommentarsektion Antirationalistischer Block
22.05.2020
Moves:
Meine Güte, 2010, das muss ein anderes Universum gewesen sein. Da fanden Szenen noch statt :-))) … unsichere Gehversuche im SPON-Forum. Ein Haifischbecken, wo sich Aljoschas und rays05 tummelten. Aber immerhin glitzerten sie schön, wenn die Sonne durch die Wellen brach und die schönsten Hockneys auf den Grund malte.
Wegen Deborah Kerr und Ava Gardner muss man dem Polytheismus verfallen. Ein Göttinnenhain, gegen den Asgard und der Olymp nur graue Vorzimmer sind, darin Zeus und Odin sich einen Schreibtisch teilen und eifersüchtig über ihren Zugang zu den Göttlichen streiten.
In „From Here To Eternity“, poetischer geht es nicht, da liegt Deborah Kerr mit Burt Lancaster nachts am Strand auf Hawaii in einer einsamen Bucht, und man merkt, wie das Meer es bitter bereut, seinerzeit Aphrodite schaumgeboren zu haben und nun versucht, Deborah Kerr auf ebensolche Weise wieder zurückzuholen. Vermutlich wurde die ganze Aktion nur deshalb abgeblasen, weil Mr Lancaster infolge der erotischen Verschlingung ja auch mitgekommen wäre, als Beifang sozusagen, oder Wermutstropfen?
Anyway… Meeresbrandung im Mondlicht auch in der Nacht des Leguan, wie ein roter Faden. Brandeten die Fluten auch in Quo Vadis? Wobei ich bei diesen alten Filmen immer verdrängen muss, dass der Mondschein kein Mondschein ist sondern die Sonne und nur die Blende soweit zugedreht wurde, dass es wie Nacht aussieht…
Ach Ava, Du hast Cpt. Towers einfach ziehen lassen in „On the Beach“, selber schuld der Typ, wenn er lieber mit seinen Kumpels in seiner Blechbüchse in See sticht anstatt die letzten Tage mit ihr zu verbringen. Nicht eine Silbe der Überredung hat sie an ihn verschwendet, der arme Tropf. Immerhin schaut sie ihm von den Cliffs herab nach, während die Kamera so tief sinkt, dass die auslaufende „Sawfish“, sein U-Boot, perfekt vom Windschutzscheibenrahmen ihres schnittigen kleinen Cabrios eingerahmt wird.
„You never take me alive, said he“
24.05.2020
Christian Erdmann:
„Wegen Deborah Kerr und Ava Gardner muss man dem Polytheismus verfallen.“ – Ganz entschieden. Trägerinnen heiliger Macht. Schließlich ist Antirat ja auch ein Tempelbezirk, dem Untergang geweiht, ein Reich erotisierter Wehmut. :)
„… und man merkt, wie das Meer es bitter bereut, seinerzeit Aphrodite schaumgeboren zu haben und nun versucht, Deborah Kerr auf ebensolche Weise wieder zurückzuholen.“ Ein so schöner Satz, daß darunter LA NASCITA DE VENERE von Respighi zu hören ist.
„From Here To Eternity“ – die Schauspielerleistungen sind alle phantastisch (Donna Reed als Lorene!), aber Deborah Kerr in diesem Film, da steht mir der Verstand still. Tatsächlich ist alles, was an ihrer poetischer-geht-es-nicht-Szene mit Burt Lancaster am Strand mythisch wurde, kein Mythos. Könnte hier
stundenlang zusehen.
So very beautiful: Deborah Kerr am Set.
„Brandeten die Fluten auch in Quo Vadis?“ – Fluten roter Haare. Von Deborah Kerr besitze ich tatsächlich ein Autogramm, hier in einer Überblendung mit Lygia.
Sie ließ mir diese Widmung großzügigerweise zukommen, nachdem ich ihr einen komplett konfusen, für sie wahrscheinlich äußerst rätselhaften Brief geschrieben hatte, der von ihren roten Haaren handelte und daß sie mich an ein früheres Leben erinnern, und davon, daß ich nach „Quo Vadis“ geträumt hatte, in der Arena zu stehen mit ihr und den anderen, kurz bevor die Löwen losgelassen werden, und wir singen „All The Young Dudes“ von David Bowie. Der Audiokommentar der „Quo Vadis“-DVD spricht von Deborah Kerrs „tremendous gracefulness“, sie war a trained ballerina, aber gemeint ist natürlich auch eine Form von Anmut des Charakters. Schrieb hier über Robert Mitchum:
„Neben all seinen anderen Vorzügen hatte Mitchum noch einen überaus bedeutenden Charakzerzug: er schätzte Deborah Kerr mehr als alle anderen Partnerinnen. Er meinte mal, sie könne ihre Szenen in der Schweiz spielen und er in Maryland, das Ergebnis wäre trotzdem perfekt. ‚Heaven Knows, Mr. Allison‘ ist auch noch so ein schwacher Punkt von mir, Mitchum als Corporal Allison, der auf einer Insel strandet, auf der sich erstmal wenig befindet außer Schwester Angela, Deborah Kerr als Nonne. Und die konnte ja Nonnen wie keine andere.“ Vgl. Black Narcissus. Das hier -> ist nicht von mir, obwohl es von mir sein könnte.
Good Lord, „On The Beach“ hast Du mir schon vor vielen Monden als einen Deiner Lieblingsfilme beschrieben, und ich habe ihn immer noch nicht gesehen. Das ändert sich jetzt, I promise. Vor nicht allzu langer Zeit sah ich diese Doku über Ava Gardner, über ihre Zeit in Spanien als, well, Göttin der Ausschweifung, und als klassisches Steinbock-Mädchen voller Selbstzweifel.
Ein komplett anderes Universum. :) Daß die Lieblingssterbeszene stattfindet, fand ich gerade schön. Ich glaube aber nicht, daß Ray und ich die Haie im Haifischbecken waren. Wenn doch, konnte man uns immerhin erkennen. :) Nicht nur uns, es gab ja noch identifizierbare Individualität. Ein abermals relaunchtes Kryptoforum existiert ja noch, aber ob man da schreibt oder nicht, es ist ein Tropfen im Ozean. :)
„On The Beach“. Gregory Peck, Ava Gardner, Anthony Perkins, alle schon immer voller Zuneigung, Bewunderung, Respekt gesehen, aber durch ihr Wirken in diesem Film werden sie immer very special sein. Du hast mir die Szene einmal geschildert, Dwight Lionel Towers und Moira Davidson in dem Zimmer dieser Herberge, in der betrunkene Australier „Waltzing Matilda“ gröhlen, bis der Gesang plötzlich andächtig wird für die Zeile „You’ll never take me alive, said he“.
„In diesem Satz ist alles zusammengefasst. Moira und Towers haben keine Zeit. Sie wird ihn und er wird sie niemals lebend bekommen, behalten. Sie schauen sich an. Diese Erkenntnis, obschon längst vorher latent vorhanden, lässt sich plötzlich nicht mehr unterdrücken. In ihren Blicken ist alles versammelt: Bestürzung, Trauer, Verlangen, und Liebe! Sie fallen sich in die Arme und küssen sich endlich. Als alter Romantikjunkie kann ich diese Szene noch immer nicht anschauen ohne feuchte Augen zu bekommen.“
So hast Du es damals perfekt beschrieben. Was man aber eigentlich nicht beschreiben kann, ist Ava Gardners Blick, kurz vor dem Kuss. Bestürzung, Trauer, Verlangen, Liebe. Aber noch etwas anderes, etwas fast Überirdisches. It’s otherworldly.
Vieles an diesem Film wird unvergeßlich sein. Wie Ava Gardner sagt: „I wanted to walk down the Rue de Rivoli. And I wanted to buy gloves.“ Das mysteriöse Morse Code Signal aus San Diego, das bittere Lächeln, als das Rätsel gelöst ist, und wir erinnern uns, wie die Besatzung am Funkgerät irgendwann die Worte „Water“ und „connect“ dechiffriert hatte. Ava Gardner, als sie das Segelboot zum Kentern bringt, ihr Schrei, Gregory Peck, der sie, die Hand an exponierter Wohlgeformtheit, ins Boot hochschieben darf, ihr hinreißendes Lachen, Fred Astaire mit dem Fernglas die Szene beobachtend: „It’s like looking at a French movie.“ Die fürchterliche, todtraurige Verlegenheit nach „Sharon is the most terrible liar that – „ Die verlassene Golden Gate Bridge, das U-Boot, das unter der Brücke in die Bucht gleitet, das menschenleere San Francisco durchs Periskop. Swain, der an Land schwimmt. Gregory Pecks Stimme aus dem U-Boot-Lautsprecher beim letzten unheimlichen Dialog zwischen Towers und Swain in seinem kleinen Boot: „We won’t be coming back.“ – „I know.“ Das Periskop so unwirklich nah. Then gone. Gone forever.
Fred Astaire und sein Ferrari. Wie Ava Gardner über ihn sagt, voller Zärtlichkeit: „He doesn’t make the slightest bit of sense.“ Das Plakat THERE IS STILL TIME .. BROTHER. Das letzte Glas Sherry für Lieutenant Hosgood und ihren Vorgesetzten, Admiral Bridie, der sie fragt: „A girl like you – why no young men?“ – „They never asked me. I guess maybe it was the uniform.“ – „To a blind, blind world.“ Wie Gregory Peck schließlich erklärt, daß er mit der Crew in See stechen wird, zurück in die USA, für die allerletzten Tage und Stunden, und es doch nicht erklären kann. Moiras Verzweiflung, aber keine Vorwürfe, keine Szene, nicht eine Silbe der Überredung, nur: „It’s been nice, Dwight Lionel. It’s been everything.“
Just love, kindness, tenderness. IT’S BEEN EVERYTHING.
Und wie schließlich Peter zu Mary sagt: „And I want you to know that I could never have been happy with anyone in the world but you.“ Wie auch Mary aus ihrer Totentrance erwacht schließlich sagen kann: „We have been happy and fortunate“, während dieser letzten Zärtlichkeit auf Erden. All das, und doch wird nichts so unvergeßlich sein wie Ava Gardners Blick.
Mit 7 oder 8 sah ich einen japanischen Film, bei dem ich mir am Ende die Augen aus dem Kopf heulte. Ich werde nie mehr heraufbeschwören können, welcher Film das war, aber wie unendlich traurig er war, werde ich nie vergessen. Sätze wie „Still haunts me to this day all these years later“ finden sich zu „On The Beach“ auf YT in Hülle und Fülle. Habe ich die USS 623 Sawfish umkehren lassen? Sure.
Danke dafür, daß Du mir diesen Film ans Herz gelegt hast. Took me a while but now I got it.
Kommentarsektion Antirationalistischer Block
03.06.2020
Moves:
20 Jahre, vermutlich noch länger (mein Zeitgefühl unterschlägt meistens mindestens 10 Jahre, wenn nicht die Hälfte) warte ich darauf, bei jemandem eine ähnliche Begeisterung für diesen Film zu wecken… nein, zu finden! wie ich sie selbst hege, seit ich ihn zum ersten Male sah. Welch Labsal, finally!
Normalerweise blicke ich in gelangweilte bis verständnislose Gesichter, wenn ich die Handlung grob umreisse: ein Katastrophenfilm, um Himmels Willen. Aber niemand soll sagen können, er habe von nichts gewusst, es sei ihm nicht ausführlich genug erklärt worden, wenn Armageddon anbricht und das große Sortieren losgeht. Also mache ich weiter und erzähle von meinen Lieblingsszenen, von dramatischen Abschieden, von leisen Abschieden, von einsamen Abschieden und von traurigen Abschieden, bei denen auch noch das Licht ausgeht.
„Hast Du On the Beach gesehen, und hat er Dich umgehauen?“ wird eine ohrenbetäubende Donnerstimme rufen, und ein großes Gestammel und Wehklagen wird anheben unter den Banausen.
Einer meiner besten Freundinnen erzählte ich begeistert von der Hotel-Szene, rezitierte Waltzing Matilda, schilderte Blicke und Gesten und zeigte ihr schließlich den Ausschnitt auf YT. Aber sie mag nicht, wenn Frauen Männer „auf diese Art anschmachten und anhimmeln“. Eine verlorene Seele. I did my very best!
In Erinnerung geblieben ist mir auch die Szene, als sich Dwight Lionel von Julian verabschiedet. Er besucht ihn in seiner Garage und teilt ihm mit, dass er am nächsten Morgen auslaufen wird. Beim Hinausgehen hält er kurz inne, ein letzter Gruß, Julian schaut nicht auf, „also dann“ (mein Gehirn liefert mir nur die Synchro, und auch die nur ungefähr). Es ist wohl die vollkommene Endgültigkeit dieses Abschieds, die mich so fasziniert, obwohl ich sie mir für mich selbst nicht wünsche. Ein einfaches „also dann“ muss und wird genügen für die Ewigkeit, soviel ist sicher, als hätte man die Worte einen Tag früher abgedreht als den Rest der Welt.
Ganz anders dann auf dem Kai. „IT’S BEEN EVERYTHING“, und man merkt, man fühlt, wie die Ewigkeit hier aufschreit vor Wut unter diesem Schlag, unter diesen Worten. Damit hat sie nicht gerechnet. Sie hat doch noch nicht einmal richtig begonnen, aber schon war etwas ALLES. Heul doch, Ewigkeit!
Ich haderte lange mit dem prosaischen Titel „On The Beach“, fand sogar das deutsche „Das letzte Ufer“ besser und passender und liebäugelte lange mit „From Here To Eternity“ als Alternativtitel, der war aber leider schon vergeben, eine Poesie-Bazooka, viel zu schade für Burts, Montys, Franks und Ernests Testosteronfestspiele. Nur wenn ich mir vorstelle, Deborah lässt sich nicht auf Hawaii, sondern auf einem Strand einer Insel in der Ägäis von Meeresbrandung umspülen, mit einem marmornen griechischen Tempel auf hohen Klippen im Hintergrund, die Säulen weiß im Mondlicht schimmernd und noch lange nicht jahrtausendschwer, ja, dann geht’s.
To a blind, blind world.
05.06.2020
Christian Erdmann:
Es gibt ein Ava Gardner-Museum in Smithfield, North Carolina, das auch einen Official Ava Gardner Blog betreibt. Fand da einen Auszug aus „Ava: My Story“, ein Buch, das ich dringend auftreiben muß, sie schreibt zu „On The Beach“: „Though I’d read the book, Stanley’s script made me weep. You couldn’t say it was marvellous – that was somehow the wrong word. It was compelling, tragic, moving, chilling… It was a fictional scenario, but my God, everyone in the cast and crew knew it could happen. And that added a dimension of reality to the unreal world of filmmaking that none of us had experienced before.“
Im Museum gibt es eine „On The Beach“ lobby card, auf die Gregory Peck geschrieben hat: „A gloomy film, but Ava at her best.“ – „The two were lifelong friends.“ – Tatsächlich war „On The Beach“ „one of Ava’s favorite projects, and in Ava: My Story she summarizes her feelings on the film: ‚I was proud of being part of this film, proud of what it said.'“ ♥
Ava Gardner: All I wanna know is… if everybody was so smart – why didn’t they know what would happen!
Gregory Peck: They did.
Deborah Kerr über die iconic beach scene: „It wasn’t about seduction – it was about two people finding one honest moment in a world built on lies.“
Anděl, die Metrostation, in der die Kosmonauten grüßen, und wo am Sonnabendnachmittag, als wir ankommen, mehrere Helfer Filmprops bewachen, die auf ihren Einsatz warten: Dreharbeiten für den Agententhriller „Child 44“, produziert von Ridley Scott, mit Tom Hardy, Noomi Rapace, Gary Oldman und Vincent Cassel. „Child 44“ spielt in der Sowjetunion der Stalin-Ära, und die Hollywood-Produktionsgruppe um Scott fand die Anděl-Ästhetik offenbar derart zweckdienlich, daß man die Prager Verkehrsbetriebe dazu überredete, an diesem Wochenende gleich die ganze Prager Metro-Linie B vorübergehend zum Stillstand zu bringen. „To enable a complex shooting, schedule services on line B will be restricted, especially at Anděl station … Metro services will be restricted between 23rd and 25th August, but only in the late evening and early morning.“ Puh. „Filming will take place on the stated dates, i.e. Fri-Sat and Sat-Sun from 10 pm – 8 am. During this time the Metro line between Smichovske nadraži – Florenc will be closed. Then from 8 am – 10 am Metro trains will pass through Anděl station without stopping.“
Wir erreichen unser Hotel, ohne auf Herrn Oldman oder Herrn Cassel zu treffen: das Red & Blue Design Hotel mit Blick auf den Kinsky-Garten, einer Maitresse beim Frühstück, die jeden Morgen auf hohen Absätzen knallend den Saal sortiert, die man aber mit aller Entschiedenheit strahlend anlächeln kann, bis sie einem zum Abschied zwei Schokoladentaler schenkt, und mehr Rot als Blau.
Der erste Weg führt zu Botanicus, wie immer ist Chinesisch die vorherrschende Sprache, mittlerweile beschäftigt Botanicus eigens Dolmetscher für die Invasion aus dem Reich der Mitte und der Mittel, in China selbst gibt es mittlerweile 10 Botanicus-Shops. Madame versieht sich mit Kleopatra-Essenzen, ich entscheide mich für Limette-Seife, die ich mir in meine Schreibtisch-Schublade legen werde. Die Lade gelegentlich aufziehen und sich am Duft berauschen, die alte Schiller-Strategie, nur daß Schiller bekanntlich mit verfaulten Äpfeln operierte.
Abendessen unter freiem Himmel und mit Xavier Cugat-Musik, böhmische Knödel mit Gulasch, was sonst, dann wandern wir den Hradschin hinauf. Die Goldene Stadt vergoldet sich an diesem Abend weiter oben.
Die erste Staffel der international koproduzierten Serie „Borgia“, mit John Doman als Rodrigo Borgia / Papst Alexander VI.,
Mark Ryder als Cesare Borgia,
dem wunderbaren Udo Kier als Rodrigos Vorgänger, Papst Innozenz VIII.,
sowie Isolda Dychauk als Lucrezia Borgia,
wurde in Tschechien gedreht; in den legendären Prager Barrandov-Studios entstand u.a. eine Kopie der Sixtinischen Kapelle. Als vor der Ausstrahlung der zweiten Staffel das ZDF im August die erste Staffel wiederholte, fragte ich mich eines Nachts, wie eigentlich John Doman Papst wurde, und fand dieses Interview:
Bei 5:10 erwähnt er den „Martinicky Palace“ – „… which we were able to actually paint, handpaint all the rooms that we needed in the palace. And they’re absolutely spectacular.“ Was war das für eine Geschichte?
Martinický palác, das Martinitz-Palais – erbaut, nachdem in den 1540ern eine Feuersbrunst den Hradschin und die Kleinseite verwüstet hatte – mit seiner Sgraffito-Fassade gilt als einer der schönsten Prager Renaissancebauten des 16. Jahrhunderts. Die aristokratische Familie der Martinitz war katholisch, und Jaroslav Borsita Graf von Martinitz überlebte 1618 als königlicher Statthalter nur mit Glück den zweiten der drei Prager Fensterstürze, der den Beginn des Dreißigjährigen Krieges markiert.
Nachdem der letzte Martinitz gestorben war, wurden im Palais Wohnungen vermietet. Vor einer Sanierung in den 1970ern lebten im Martinický palác ungefähr 200 Menschen. Die Räumlichkeiten waren in einem beklagenswerten Zustand. Der fehlende Mittelteil zu John Domans Ausführungen: bei der Renovierung hatte man die meisten der Innenräume mit kahlen weißen Wänden hinterlassen, und so waren sie verblieben, bis die Produzenten der „Borgia“-Serie auf den Plan traten – für ein ungewöhnliches Arrangement.
Der jetzige Eigentümer des Martinický palác, ein Italiener, verzichtete auf einen Teil der Summe, die im Filmbudget für die Palastmiete vorgesehen war, und kam dafür in den Genuß, fortan in der exquisiten Dekoration leben zu dürfen, die ein Team von Spezialisten für „Borgia“ nach Renaissance-Vorbildern in 8.000 Arbeitsstunden mit meisterhafter Präzision und so authentisch wie möglich an die Decken und Wände zauberte. „The basis for the wall paintings and trompe l’oeil paintings was a very precise survey of architecture in Rome, the Vatican, the Apostolic Palace, the Borgia apartments, original oil paintings and reproductions“, so Jindrich Kocí, tschechischer Art Director bei „Borgia“. Der Eigentümer hätte eigentlich im Sinn gehabt, das Palais zu verkaufen, nachdem es aber Raum für Raum in die Renaissance versetzt wurde, sei davon keine Rede mehr.
Das Martinitz-Palais ist nicht öffentlich zugänglich, aber da die Nacht hereinbricht, können wir noch ein wenig die Sgraffito-Fassade aus dem 16. Jahrhundert bewundern.
Links das Wohnhaus Mozarts in Milos Formans „Amadeus“.
Das Martinitz-Palais als Papstpalast – Screenshots aus „Borgia“:
25.08.2013
Sunday Morning, da in der Metro noch „Child 44“ zu Leben erweckt wird, schlagen wir uns mit Bus und Tram zum Busbahnhof Florenc durch, in Bus 150101 trage ich den Satz „Zwei Fahrkarten nach Mělnik, bitte“ in offenbar verständlichem Tschechisch vor, und so fährt uns Mister Jaroslav Stěpanek (auf allen listky tschechischer Überlandbusse steht der Name des Busfahrers) an den Zusammenfluß von Moldau und Elbe etwa 30 Kilometer nördlich von Prag.
Dort befindet sich auf einer Anhöhe das Schloß Mělnik, einst Pšov, nach dem slawischen Stamm der Pschowanen, der hier im 9. Jahrhundert eine Burgstätte errichtete. Der Sage nach soll die später heiliggesprochene Ludmilla von Böhmen auf der Burg geboren sein. Laut der Chronica Boemorum (Chronik der Böhmen) des Cosmas von Prag verkaufte Slavibor, der letzte der Pschowanenfürsten, seine Tochter Ludmilla um 880 dem christlichen Přemyslidenfürsten Bořivoj, und nach Slavibors Tod fielen dessen Besitzungen an die Přemysliden. Der Přemyslidenfürst Wenzel, der heilige Patron der Böhmen, war ein Enkel Ludmillas.
Ende des 10. Jahrhunderts wurde die ursprüngliche Holzfeste durch eine Steinburg ersetzt; Emma, die zweite Frau des böhmischen Fürsten Boleslav II. des Frommen, nahm hier ihren Witwensitz. Auf den Silbermünzen, die sie prägen ließ, erscheint erstmals der Name Civittas Melnic. Mělnik blieb Refugium der Gemahlinnen böhmischer Herrscher; zu Zeiten, als Eliška Přemyslovna im Zwist mit ihrem Gemahl Johann von Luxemburg lag, verweilte sie längere Zeit auf Mělnik, später war die Burg der Witwensitz u.a. der Barbara von Cilli, zweite Frau des Sigismund von Luxemburg, König von Böhmen seit 1419 und römisch-deutscher Kaiser seit 1433. Barbara, die sich den okkulten Wissenschaften und der Alchemie widmete, starb 1451 in Mělnik bei einer Pestepidemie.
Auch Elisabeth von Pommern, die letzte Gemahlin Karls IV., lebte bis zu ihrem Tod im Jahre 1393 auf Mělnik. Sie ließ die Burgkapelle errichten, die heute der heiligen Ludmilla gewidmet ist. Karl IV. war es, der an den Hängen von Mělnik Weinreben aus Burgund pflanzen ließ; heute ist Mělnik die bedeutendste Weinbaulage in Böhmen.
Zuletzt lebten hier die Frauen des Georg von Podiebrad, und nach dem Tod der Johanna von Rosental 1475 wurde Mělnik mehrmals verpfändet. 1542 war die Burg im Besitz des Zdislav Berka von Duba, der sie zu einem Renaissanceschloß umbauen und mit Sgraffito schmücken ließ.
Das im Dreißigährigen Krieg stark verwahrloste Schloß wurde 1646 an Hermann Czernin von Chudenitz verpfändet, 1687 kaufte Hermann Jakub Czernin das Schloß dem Kaiser Leopold I. ab. Unter den Czernin wurde das Schloß wieder bewohnbar gemacht und um den barocken Südflügel erweitert. Als 1753 die letzte Herrschaftserbin der Czernin, Maria Ludmilla, mit August Anton Lobkowicz (Lobkowitz) verheiratet wurde, ging das Schloß an die Lobkowitz über, in deren Besitz es bis zur Enteignung 1948 verblieb. 1992 ging das Schloß durch Restitution an die Lobkowitz zurück, die sich aus eigenen Mitteln um Rekonstruktion und Erneuerung der Schloßanlage bemühen. Jiři Jan (Georg Johann) Lobkowitz lebt mit seiner Lebenspartnerin Zdenka Belas, einer bekannten Opernsängerin, im linken Flügel des Schlosses.
Die Familie Lobkowitz gehört zu den ältesten böhmischen Adelsgeschlechtern. Die jüngere Linie trägt den Namen Popel, was sich aus dem Wahlspruch des Geschlechts der Lobkowitz herleitet: „Popel jsem a popel budu“, zu Deutsch: „Asche bin ich, Asche werde ich.“
In den Interieurs ist Fotografieren nicht erlaubt, der Rundgang beginnt im Schlafgemach von Georg Christian von Lobkowitz, ein bekannter Gentleman Driver, der 1932 im Alter von 25 Jahren mit seinem Bugatti T54 – von dem nur 9 Fahrzeuge gebaut wurden – beim Rennen auf der Berliner AVUS in der Südschleife tödlich verunglückte.
Das II. Zimmer ist August Longin von Lobkowitz (1797 – 1843) gewidmet, einem der ranghöchsten Beamten der Habsburger Monarchie, zugleich Gouverneur der Lombardei. August Longin war ein überaus kultivierter Mann; Goethe, der bekannte Schnorrer, hat ihn in Mělnik besucht und lobend den Mělniker Wein erwähnt.
Man wandert durch das Kinderzimmer (mit Spielzeug aus dem 19. Jahrhundert), das Speisezimmer (mit Antwerpener Barockaltären aus dem 17. Jahrhundert), den Großen Salon, überall die erlesensten Exponate, Boulle-Marketerie, Rokoko-Möbel, böhmische Glaskunst, Porzellan aus Delft, Vasen aus dem Orient, Gemälde; im Großen Saal eine Kollektion von Landkarten und Stadtansichten, vorwiegend das Werk von Amsterdamer Kartografen des 17. Jahrhunderts. Kettenhemden im Rittersaal, Militärtrommeln, Schloßkanonen aus dem 18. Jahrhundert, im Großen Speisesaal hängen Gemälde von Jusepe de Ribera und Paolo Veronese, in der Kapelle hängt ein ziemlich aufreizender Jesus, der heilige Wenzel backt Hostien.
But actually we came for something else. Ins Beinhaus von Mělnik geht es
In wunderbaren Antikvariat Josef Peitz, Kleinseite, Ujezd 26, erwerbe ich Band 19/20 aus der Bibliothek der Kunstgeschichte, Leipzig 1922, Oskar Wulff über Donatello, bei alten Fotos und Postkarten verweilen wir lange, aber der Rabbi ruft.
„Ohne Überlegung hingebaut standen sie da, wie Unkraut, das aus dem Boden dringt. An eine niedrige, gelbe Steinmauer, den einzigen standhaltenden Überrest eines früheren, langgestreckten Gebäudes, hat man sie angelehnt – vor zwei, drei Jahrhunderten, wie es eben kam, ohne Rücksicht auf die übrigen zu nehmen. Dort ein halbes, schiefwinkliges Haus mit zurückspringender Stirn – ein andres daneben: vorstehend wie ein Eckzahn. Unter dem trüben Himmel sahen sie aus, als lägen sie im Schlaf, und man spürte nichts von dem tückischen, feindseligen Leben, das zuweilen von ihnen ausstrahlt, wenn der Nebel der Herbstabende in den Gassen liegt und ihr leises, kaum merkliches Mienenspiel verbergen hilft. In dem Menschenalter, das ich nun hier wohne, hat sich der Eindruck in mir festgesetzt, den ich nicht loswerden kann, als ob es gewisse Stunden des Nachts und im frühesten Morgengrauen für sie gäbe, wo sie erregt eine lautlose, geheimnisvolle Beratung pflegen. Und manchmal fährt da ein schwaches Beben durch ihre Mauern, das sich nicht erklären läßt, Geräusche laufen über ihre Dächer und fallen in den Regenrinnen nieder – und wir nehmen sie mit stumpfen Sinnen achtlos hin, ohne nach ihrer Ursache zu forschen. Oft träumte mir, ich hätte diese Häuser belauscht in ihrem spukhaften Treiben und mit angstvollem Staunen erfahren, daß sie die heimlichen eigentlichen Herren der Gasse seien, sich ihres Lebens und Fühlens entäußern und es wieder an sich ziehen können – es tagsüber den Bewohnern, die hier hausen, borgen, um es in kommender Nacht mit Wucherzinsen wieder zurückzufordern. … Dann wacht in mir heimlich die Sage von dem gespenstischen Golem, jenem künstlichen Menschen, wieder auf, den einst hier im Getto ein kabbalakundiger Rabbiner aus dem Elemente formte und ihn zu einem gedankenlosen automatischen Dasein berief … “ – Gustav Meyrink, Der Golem
Jenes Viertel von Prag, das im 13. Jahrhundert durch königlichen Erlaß zur Judenstadt bestimmt wurde, ein abgegrenzter Bezirk, in dem die jüdische Bevölkerung zu leben hatte, wurde 1849 umbenannt in Josefstadt (Josefov), nach Kaiser Joseph II., der die Juden mit dem Toleranzpatent 1781 gefördert hatte. Mit der Verfassung von 1849 wurde es Prager Juden ermöglicht, das Ghetto zu verlassen, 1861 wurden den Juden sämtliche Bürgerrechte zugestanden. Wer es sich leisten konnte, ließ das Ghetto hinter sich, die Mehrzahl jedoch, die ärmere Bevölkerungsschicht, verblieb in den Häusern des noch immer überfüllten Viertels. Viele der alten und uralten Wohnhäuser im Gewirr der düsteren Ghettogäßchen verfielen, die hygienischen und sanitären Verhältnisse verschlimmerten sich dramatisch. Ein geheimnisumwittertes, verschachteltes Labyrinth, das die zwielichtigsten Gestalten des Stadtlebens anzog. Unzählige Spelunken neben Freudenhäusern, die Straßen voller Trödler und Verkäufer, komplett undurchsichtige Wohn- und Eigentumsverhältnisse; auf einen Hektar Wohnfläche kamen etwa 1.800 Bewohner, mehr als das Dreifache der Bevölkerungsdichte der Altstadt. Es gab keine funktionierende Kanalisation, über die Pflaster huschten tausende von Ratten, entsprechend hoch waren Infektions- und Seuchengefahr. Nachdem Kaiser Franz Joseph I. das Assanierungsgesetz unterzeichnet hatte, begann man 1893 mit dem fast kompletten Abriß des Viertels. Widerstand gegen diese radikale und tragische Lösung formierte sich erst spät; nur sechs Synagogen, der alte Jüdische Friedhof, die Zeremonienhalle und das alte Jüdische Rathaus blieben erhalten. Innerhalb von zwei Jahrzehnten wurden im Josefov mehr als 260 Gebäude abgerissen, sie wichen neuen, prachtvollen Jugendstil-Gebäuden.
„In uns leben noch immer die dunklen Winkel, geheimnisvollen Gänge, blinden Fenster, schmutzigen Höfe, lärmenden Kneipen und verschlossenen Gasthäuser. Wir gehen durch die breiten Straßen der neuerbauten Stadt. Doch unsere Schritte und Blicke sind unsicher. Innerlich zittern wir noch so wie in den alten Gassen des Elends. Unser Herz weiß noch nichts von der durchgeführten Assanation. Die ungesunde alte Judenstadt in uns ist viel wirklicher als die hygienische neue Stadt um uns. Wachend gehen wir durch einen Traum: selbst nur ein Spuk vergangener Zeit.“ – Franz Kafka
In der Josefstadt steht dieses Haus, Haštalská 1, und daß dieses Haus da steht, ist ein Mysterium.
Haštalská 1, eines der ältesten Häuser Prags – erste schriftlichen Erwähnungen für einen Bau an dieser Stelle datieren vor das Jahr 1000 -, hat das Verschwinden des sagenumwobenen Viertels erlebt, und warum das Haus noch existiert, weiß niemand. Es heißt, aus den Unterlagen gehe eindeutig hervor, daß es am Ende des 19. Jahrhunderts abgerissen werden sollte. Aber es wurde nicht abgerissen. Und weil Prag ein Mythengenerator ist, lautet die Erklärung: das Haus hat sich selbst geschützt.
Im Sommer 2002, als Prag die schlimmste Überschwemmung seit 500 Jahren erlebte, brachte das Wasser eine Mauer im Keller von Haštalska 1 zum Einsturz, und der Eigentümer bemerkte, daß die Kellerräume weit ausgedehnter waren als angenommen. Als Trümmer und Schutt beseitigt waren, hatte man ein alchemistisches Laboratorium aus der Zeit Kaiser Rudolfs II. entdeckt. Rudolf, der von 1576 bis 1612 regierte, war ein großer Förderer der Wissenschaften, der Künste und insbesondere der Alchemie. Unter seiner Herrschaft wurde Prag zu einem Zentrum für Alchemisten, Mystiker und Gelehrte aus ganz Europa. Schriftlichen Dokumenten zufolge bildeten diese verborgenen Räume im 16. Jahrhundert ein geheimes unterirdisches Labor, an dem Prager Alchemisten Experimente durchführten, Elixiere herstellten, sich an der Transmutation von unedlen Metallen zu Gold und an der Suche nach dem Stein der Weisen erprobten. Und das bedeutet, daß sich in diesen für Jahrhunderte nicht mehr zugänglichen Kellern einige bedeutende Persönlichkeiten aufgehalten haben: Tycho Brahe, John Dee, Edward Kelley, Thaddaeus Hagecius (Tadeáš Hajek, Astronom und persönlicher Arzt Rudolfs II.), der böhmische Alchemist Bavor Rodovsky, und auch der „kabbalakundige Rabbiner“ selbst – Rabbi Löw.
In den Katakomben hat man ein Elixier gefunden, das im Ladenteil des nun in Haštalská 1 beherbergten Muzeum Speculum Alchemiae als Elixier der ewigen Jugend verkauft wird. Der Inhalt der gefundenen Flaschen wurde analysiert, und das Elixir of Youth wird sorgfältig nach originaler Rezeptur hergestellt, abgesehen von einigen wenigen Komponenten wie Opium. Die Produktion ist kompliziert, die Rezeptur gibt für die verwendeten 77 Kräuter und Heilpflanzen (u.a. Milchdistel, Ginkgo biloba, Taigawurzel) exakte Mengen vor, ebenso die exakte Dauer der Mazeration. Der gesamte Prozeß nimmt etwa zwei Monate in Anspruch.
Wir kaufen Tickets für eine Führung in Englisch, die junge Dame bittet uns zu warten, bis weitere Teilnehmer erscheinen, entscheidet sich aber sogleich anders, sie geht einfach mit uns beiden los, schließt eine schwere Tür hinter uns, Schächte der Vergangenheit, unendliche Ferne.
Ein schmaler Gang (Tycho Brahe an der Wand), dann betritt man einen Raum, der, nach Stichen und Bildern des 16. Jahrhunderts rekonstruiert, mit Reproduktionen und einigen originalen Artefakten in die Zeit der Alchemisten zurückführt. Von der Decke hängt ein schwerer Kerzenleuchter, an dem drei gehörnte Masken befestigt sind, die nicht den Teufel repräsentieren, sondern Moses. Auch Michelangelo hat Moses mit Hörnern dargestellt, was auf einem Übersetzungsfehler der Vulgata beruht, für die Alchemisten symbolisierten die Hörner offenbar eine spezifische Macht, der Leuchter hängt über einer Stelle, an der die Alchemisten einen besonderen Kraftstrom vermuteten.
Der Mechanismus, der den geheimen Zugang in die Unterwelt öffnet, ist in einem Schrank versteckt, der sich wie in einem Film öffnet, und als unsere junge, charmante, überaus enthusiastische und kenntnisreiche Führerin den Schrank hinter uns wieder schließt, jagt es einem Schauer über den Rücken: dies ist der Weg hinab ins 16. Jahrhundert.
Das Laboratorium ist überdies Kreuzpunkt geheimer Tunnel, von denen einer zum Prager Schloß, ein zweiter zum Altstädter Ring führt, heimliches Kommen und Gehen ermöglichend. Obwohl man in diesem Haus offensichtlich schon im 15. Jahrhundert Kräuter und Tränke erwerben konnte, war Geheimhaltung ihrer Aktivitäten für die Alchemisten unabdingbar, zumal das mysteriöse Haus in keinem guten Ruf stand. Der Legende zufolge (ein zeitgenössisches Dokument berichtet davon) soll gelegentlich eine Gruppe feuerglühender und übelriechender Ziegenböcke an dem Haus vorbeigezogen sein.
Ofen zur Glasherstellung
Mit unserer Führerin, die von echter Leidenschaft für die Sache erfüllt ist, plaudern wir angeregt, von den Facetten der Alchemie zwischen ambitionierter, avancierter Wissenschaft und Scharlatanerie bis zu Stargazer Rudolf II. und Lovecraft. Und natürlich verlassen wir das 16. Jahrhundert mit zwei Flaschen vom Elixir věčneho mládi („Kräuterelixier mit verjüngender Wirkung“) in der Tasche.
Rudolf II. soll Rabbi Löw um diesen magischen Trank gebeten haben, der ihm irdische Freuden für Jahrhunderte ermöglichen sollte. Zusammen mit Tadeáš Hajek, anerkannter Experte für Kräuter, versuchte der Rabbi die bestmögliche Kombination von Kräutern zu finden, die den Körper reinigen sollte von schädlichen Substanzen und den Geist von negativen Gedanken. Schließlich entwickelten die Alchemisten jenes einzigartige Elixier, das den Alterungsprozeß anhalten sollte.
Die Legende sagt, daß Rudolf II. skeptisch war und den Rabbi Löw zwang, das Elixier zuerst zu trinken. Es wurde bis 1612 hergestellt, dem Jahr von Rudolfs Tod, worauf der Rabbi Elixier und Rezeptur im Laboratorium einmauern ließ.
Den Ort des Fundes kann man bewundern, die Steinplatte, die ihn verdeckte, ist allerdings eine Nachbildung, da das Original beim Versuch, es abzunehmen, zerbrach.
Rabbi Löw wurde steinalt, so there you go.
St. Nikolaus auf der Kleinseite. Die Kostel sv. Mikulaše ersetzte die Kleinseitner Pfarrkirche von 1283; 1704 – 1711 errichtete Christoph Dientzenhofer das neue Kirchenschiff mit der Westfassade, unter seinem Sohn Kilian Ignaz Dientzenhofer entstanden 1737 – 1752 der Chor und die 70 Meter hohe Kuppel.
In diesem Haus, Skořepka 1,
lebte Franz Kafkas Freund Max Brod bis zu seiner Heirat 1913 mit seinen Eltern und seinem Bruder. Hier las Kafka seinem Freund oft die gerade entstandenen Texte vor, und hier beginnt „die bedeutsamste und zugleich traurigste Liebesgeschichte in Kafkas Leben (…) Am Dienstag, dem 13. August 1912 betritt Kafka gegen 21 Uhr, eine Stunde später als verabredet, die Wohnung der Brods im Obergeschoß des stilvollen Eckhauses in der Schalengasse 1. Der stets nervöse Freund, der den Vertragsabschluß mit Rowohlt in die Wege leitete, hat ihn gedrängt, an diesem Abend die endgültige Anordnung der Manuskripte für die Betrachtungen festzulegen, die am folgenden Tag nach Leipzig geschickt werden sollen. Kafka fühlt sich unbehaglich, weil er den letzten Schritt zur Veröffentlichung, der eine verbindliche Fixierung bedeutet, fürchtet. Den gesamten Monat über bewegt er sich in einer tranceähnlichen Stimmung aus Lethargie und Träumerei, die ihn daran hindert, die Urlaubszeit seines Chefs zu konzentrierter literarischer Arbeit zu nutzen. Als er bei Brods ankommt, wirkt er unaufmerksam und zugleich angespannt. Rasch jedoch werden seine Lebensgeister durch eine fremde junge Frau geweckt, die vollkommen selbstverständlich am großen Eßzimmertisch sitzt. Trotz ihres bürgerlichen Habitus wirkt sie auf ihn, so hält das Tagebuch fest, ‚wie ein Dienstmädchen‘: eine Beobachtung, die bei Kafka eine deutlich erotische Komponente erhält.“ (Peter-André Alt, Franz Kafka, 262). Der Gast ist die aus Berlin stammende 24jährige Felice Bauer.
Die Familie Brod wohnte im obersten Stockwerk.
Auch diese wunderbare Szene hat sich hier abgespielt: Kafka, der eines Nachmittags Max Brod besucht, beim Weg durch das Wohnzimmer den auf dem Sofa schlafenden Vater weckt und, auf Zehenspitzen weitergehend, flüstert: „Bitte, betrachten Sie mich als einen Traum.“
In der Husova ein kleiner feiner Laden mit tausend Tafeln Schokolade. Jordi’s Chocolate wird liebevoll in Hradec Králové komponiert. Zur schönen Kommandantin gibt es Bitterschokolade mit Pfeffer und Meersalz.
„Then came a silence; and in October the Wards received a picture card from Prague, stating that Charles was in that ancient town for the purpose of conferring with a certain very aged man supposed to be the last living professor of some very curious mediaeval information. He gave an address in the Neustadt, and announced no move till the following January, when he dropped several cards from Vienna (…)“ – H.P. Lovecraft, The Case of Charles Dexter Ward
Am Karlovo náměsti steht das Faust-Haus, eines der geheimnisumwittertsten Häuser Prags. In der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts entstand dort ein gotischer Palast, der zunächst den Fürsten von Opava (Troppau) gehörte. Allein, das Faust-Haus wechselte seine Eigentümer nachgerade furios.
1441 trat Vaclav, Herr von Troppau, das nach den hussitischen Wirren stark beschädigte Gebäude an den Neustädter Schreiber Prokop ab, der das Haus renovieren ließ. Erhalten ist ein Brief des Vaclav von Troppau, in dem er Prokop schreibt: „Wir bitten dich, einen erwachsenen Gesellen zu finden, der sich in der Alchemie auskennt und den du uns hierher schicken könntest…“ – eine erste Spur der seltsamen Vorgänge im Faust-Haus. Vaclav von Troppau wie Prokop waren leidenschaftliche Adepten der Alchemie; man vermutet, daß Vaclav schon in seiner Jugend alchemistische Versuche im Palast durchführte.
Seit 1543 gehörte das Faust-Haus Jan Kop, dem Leibarzt Rudolfs II., der es im Renaissancestil umbauen ließ. Nächster Besitzer war der Astrologe Jakub Krucinek, auch er am Hofe Rudolfs II. tätig. Krucinek hatte zwei Söhne – der jüngere Bruder mordete den älteren, angeblich wegen eines Schatzes, der in dem Gebäude versteckt war, und wurde auf dem Rossmarkt hingerichtet.
Nach der Familientragödie erwarb Edward Kelley das Haus (1590), seines Zeichens Urkundenfälscher (ein Vergehen, für das man ihm noch in England beide Ohren abschnitt, eine in der Tudorzeit übliche Bestrafung), Okkultist, Duellant, Spiritist, gelegentlicher Nekromant, Prahler, Scharlatan, Urheber der henochischen Sprache, kurz, von Beruf Abenteurer und, auf Empfehlung des Wilhelm von Rosenberg, als Alchemist im Dienste Rudolfs II. mit okkulten Experimenten beschäftigt. Kelley trug erheblich zum finsteren Ruf des Hauses bei, nicht nur, weil er mit chemischen und pyrotechnischen Versuchen die Nachbarn verstörte. Nach seiner Einstellung am kaiserlichen Hof ließ die Herstellung von größeren Mengen Gold auf sich warten, was Kelley auf ungünstige Sternenkonstellationen oder verunreinigte Grundsubstanzen schob, bis sein Hochmut ihn zu Fall brachte: als sich die Gerüchte, er sei ein Betrüger, zu verdichten begannen, tötete er einen Zweifler. Kelley versuchte zu entkommen, doch die kaiserlichen Garden holten ihn auf der Flucht ein, und Kelley tauschte im Mai 1591 das Faust-Haus gegen das Gefängnis auf Burg Křivoklát.
Fürbitten der englischen Königin Elisabeth I. und des Wilhelm von Rosenberg vermochten den Kaiser zunächst nicht umzustimmen. Man verhörte Kelley zu seinen Tinkturen, zum Elixier der ewigen Jugend und zu jenen seltsamen Ziffern in symmetrischen Arrangements, die man unter seinen Papieren fand. Bei einem Fluchtversuch erlitt Kelley einen Beinbruch: unzulängliche Behandlung, schließlich eine schauderhafte Amputation. 1595 begnadigt, gelang es Kelley trotz seines Versprechens, nunmehr zu „kooperieren“, naturgemäß auch fürderhin nicht, Gold herzustellen, und er wurde ein zweites Mal eingekerkert. Bei einem weiteren Fluchtversuch aus der Burg Most verletzte Kelley auch das verbliebene Bein schwer, kurz darauf verstarb er in der Haft, vermutlich durch Suizid mit Gift.
Nachdem das Faust-Haus der Familie Netvorsky gehört hatte, ging es 1725 in den Besitz der Adelsfamilie Mladota von Solopisk über. Seit dem Umbau durch die Mladota präsentiert sich das Haus im Barockstil. Ferdinand Anton Mladota von Solopisk war ein weiterer berühmt-berüchtigter Bewohner des Hauses, ein Exzentriker, der nicht nur mit „metaphysischen“ Versuchen schockierte (mittels einer Reihe von Geräten, die auf den Grundlagen der Optik, des elektrischen Stroms und des Magnetismus arbeiteten); zusammen mit seinem Sohn, Experte in Mechanik, verblüffte er die Gäste mit Automatenfiguren, die sich mithilfe aufgezogener Federn bewegten, oder auch mit Türen, die sich scheinbar von selbst öffneten. Mladota stieg auf zum Meister des Unerklärlichen, und bald ging das Gerücht, er sei ein Magier und mit dem Teufel im Bunde. Nach einer alten lateinischen Überschrift im Faust-Haus, die aus den Zeiten der Mladota stammt, wird jeder, der das Haus unter Sklavenjoch bringen möchte, verflucht.
Im 19. Jahrhundert lebte ein gewisser Karl Jaenig im Faust-Haus, vormals Priester der benachbarten Kirche St. Johannes von Nepomuk am Felsen. Jaenig war besessen von allem, was mit dem Tod zusammenhängt. Er bemalte die Wände mit Begräbnisformeln, sammelte Grabschmuck, verzierte seine Räumlichkeiten mit einem Galgen und schlief in einem Holzsarg. In seinem Testament verfügte er, in diesem Sarg bestattet zu werden – mit dem Gesicht nach unten.
Und dann gibt es noch die Legende von dem armen Studenten, der in dem vorübergehend verlassenen Palast nicht nur eine Unterkunft, sondern auch Bücher über Schwarze Magie gefunden haben soll. Jeden Tag entdeckte er eine Münze auf dem Tisch. Als er auf die Idee kam, einige der schwarzmagischen Formeln laut zu lesen, holte ihn der Teufel – vermutlich durch jenes Loch in der Decke, das sich nicht schließen läßt. Daß Doktor Faustus höchstselbst das Buch dort hinterließ, ist natürlich eine mephistophelische Erfindung. Das ominöse Loch in der Decke scheint jedoch keine Legende zu sein, wird doch immer noch darüber spekuliert, ob es sich der preußischen Belagerung Prags im 18. Jahrhundert verdankt, oder ob es bei den Versuchen mit explosiven Mischungen entstand, die Kelley, Mladota et al. durchführten.
Das Faust-Haus – für die Öffentlichkeit nicht zugänglich – steht auf einem Areal, das in heidnischen Zeiten dem Opferkult für die dunkle, mit Winter, Nacht und Tod assoziierte slawische Göttin Morana diente. Die Gegend heißt noch heute Na Morani, ebenso eine Straße, die vom Karlsplatz Richtung Moldau führt.
Es waren die Romantiker des 19. Jahrhunderts, die das vermeintlich fluchbeladene Haus mit der Legende des Doktor Faustus verbanden, der „nit alleyn der artznei, sonder auch Chiromancei, Nigramancei, Visionomei, Visiones imm Christal, vnd dergleichen mer künst, sich höchlich berümpt.“ Durch das Loch, das sich nicht zumauern ließ, entführte der Teufel den Doktor Faustus in die Hölle, in einer anderen Version der Legende holt der Teufel Faust aus dem zweiten Stock des Eckturms, seitdem gebe es dort unerklärliche Schmierspuren an der Wand.
Im 19. Jahrhundert war das Faust-Haus ein Heim für Taubstumme, heute gehört das Faust-Haus der medizinischen Fakultät der Karls-Universität und beherbergt eine Apotheke. Daß man nach dem 2. Weltkrieg in den Hausfundamenten die Skelette von sieben Katzen fand, die dort eingemauert wurden, ist so ungewöhnlich nicht, auch im dänischen Schloß Nyborg kann man hinter Mauern mumifizierte Katzen bewundern – irgendein alter Baumeister-Brauch zum Schutz des Gebäudes. Im Sommer 2003 brach in der Bibliothek im rechten Flügel des Faust-Hauses ein Feuer aus. Bei den Renovierungsarbeiten fand man im Erdgeschoß des Eckerkers Malereien mit alchemistischen Zeichen und Symbolen aus dem 16. Jahrhundert.
Ah, Dear! So gorgeous again! Das Licht auf den Abendstimmungsbildern! Die blaue Stunde durch kerzenscheinähnliche Beleuchtung erhellt! So schön. Und mein favourite – Sie ahnen es, wissen es. Salieri in Verkleidung über den verschneiten Platz davon schreitend. Amadeus, erschrocken und erschöpft, aus dem Fenster auf ihn herunter schauend. Was für ein herrliches Bild. Habe in Kürze etwas mehr Zeit, um Neuigkeiten auszutauschen. Sie hören von mir. :)
Antirationalistischer Block / Christian Erdmann:
Hellgespannt auf Von-Ihnen-Hören! Aber entzückt, schon von Ihnen gehört zu haben derart! Wäre ich die gute Fee, die Ihnen meine drei Wünsche erfüllen könnte :), würde ich Sie genau dorthin versetzen, vor jene beiden Häuser zur blauen Stunde. Die anderen beiden Wünsche bräuchte ich, um Sie von dort wieder zurückzuholen. Ich will tot umfallen, wenn ich je ein Blitzlicht in Prag verwende, ach, ich vermute, die ständige Überlagerung von Zeitschichten, die ich an diesem mythengenerierenden Ort immerzu wahrnehme, würde mir Blitze einfach auspusten.
02.10.2013
Catherine:
Sie brauchen zwei Wünsche, um mich zurück zu holen?? Möglich. Aber dass Sie Ihre drei Wünsche selbst erfüllen dafür, mich hin und her zu wünschen, wünsche ich Ihnen! Obwohl. Was man mit drei Wünschen machen könnte, Sie und ich! Gibt ja nicht mal mehr ordentliche Glühbirnen. Schön aber, wenn man kleine verrückte Ladenbesitzer findet, die mehrere tausend altmodische Birnen lagern. Zeitschichtenüberlagerung nur allzu gern, mein Hirn schickte mich erst kürzlich auf eine Hintertreppe in einem Wiener Altbau. Kleine Fenster im Orkan des Alltags. Prager Unterwelt. Werde den großen schwarzen BBC-Schirm bereit halten, falls Staub rieselt. :)
Antirationalistischer Block / Christian Erdmann:
Zwei Wünsche, ja. Weil nur einer gegen Ihr „Hinfort mit Euch!“, gegen Ihre Weigerung, Prag wieder zu verlassen, machtlos wäre. Zugegeben projiziere ich da vielleicht etwas zu sehr. Ich würde ja, wenn ich Tschechisch könnte, da leben wollen, aber niemand kann Tschechisch außer Tschechen. Ein Professor sagte mal: wenn Sie eine echte Herausforderung suchen, lernen Sie Tschechisch.
Etwas in die Schatten gesunken ist der Film, den Carol Reed nach „The Third Man“ machte und den ich auch überaus beeindruckend fand – „Der Verdammte der Inseln“ („Outcast of the Islands“). An diesem Film ist gar nichts perfekt, er wird Joseph Conrad nicht gerecht, er kann sich für nichts entscheiden, und man kann die Darbietungen von Robert Morley und Ralph Richardson in diesem Film als komplett verunglückt ansehen. Oder aber sie, als pure Ereignisse (Morley!), zu den besten ihrer Karriere zählen. Was zweifellos für Trevor Howard gilt.
Man erliegt der brütenden Üppigkeit des an exotischen Schauplätzen gedrehten Films, obwohl es ein Schwarzweißfilm ist. Man findet niemanden sympathisch, es wird einem unwohl von der ganzen Intensität, und trotzdem wartet man auf Kerima, die Darstellerin der Aissa, den wandelnden Untergang Trevor Howards ohne eine Zeile Dialog, damit man auch endlich komplett in diesem faszinierenden Desaster untergeht. Einer der seltsamsten Filme, die ich kenne. Die dramatisch dahinwehende Filmmusik von Brian Easdale kündigt an, was einem bevorsteht: der „spell of the East Indies“, so wie Jacques Tourneurs „I Walked With A Zombie“ den „spell of the West Indies“ beschwor.
[SPIEGEL ONLINE Forum „Lieblingsfilme – Was ist ‚großes Kino‘?“]
Kommentarsektion Antirationalistischer Block:
28.05.2017
Moves:
Alles ist so lange her, verschmilzt im Zurückblicken zu einer winzigen, verschwommenen Unwahrscheinlichkeitswelle. Wo ist der Beobachter, der durch sein Bewusstsein die Welle kollabieren lässt? Die alles entscheidende Frage ist allerdings: wenn die Vergangenheit so absurd weit weg ist, wo befinde ich mich dann jetzt? Was sehe ich, wenn ich mich um 180° drehe und nach vorne blicke anstatt in den Tunnel des Vergangenen?
Anyway… dieser Unwahrscheinlichkeitswelle ist es geschuldet, dass ich nicht weiß, ob ich mich an dieser Stelle schon einmal über die Schlussszene des Dritten Manns ausgelassen habe. Ich vermute: ja. Aber da ich mir grundsätzlich nichts glaube, lautet die Antwort wohl eher: nein.
Na gut, Der dritte Mann. Kam vor drei Tagen auf 3sat, und natürlich habe ich ihn mir nochmals angesehen. Mit dem herrlichen Trevor Howard, ein Gesicht wie aus britischem Sattelleder geschnitten. Aber es ist die Schlussszene, stupid. Holly Martins hat sich von Major Calloway absetzen lassen, um neben der Straße, an einen Handkarren gelehnt, auf Anna Schmidt zu warten, die auf dieser ewig langen, schnurgeraden Friedhofsstraße auf den Zuschauer zugeht. Endlich ist sie auf gleicher Höhe mit Martins, doch sie würdigt ihn keines Blickes, geht einfach an ihm vorüber und aus dem Bild. Jetzt hat Martins das Bild für sich alleine. Er holt seine Zigaretten aus der Manteltasche, zündet sich eine an, und… und… ja, da möchte man sofort Raucher werden, er wirft das Streicholz mit einem Schwung zur Seite, in dem der ganze Film Platz hat, zusammengefasst wird. Und mehr noch. Das ganze Leben. Erst ein Ausholen, wie ein stummes Luftholen, dann mit Schmackes zur Seite. Nichts weiter, kein „Aufschrei und kein Gebet“ (Die Nacht des Leguan), „und ohne ein Verzweiflungszeichen“, nur eine ausholende Bewegung, und Ende. Welche Zigarettenmarke dafür wohl am besten taugt?
Antirationalistischer Block / Christian Erdmann:
Yes, totally yes. Nicht zwei, drei Dinge sind unendlich, die Dummheit, das All und die Richtigkeit von allem an „Der dritte Mann“. Einer meiner absoluten Lieblingsfilme, aber es muß ja absoluter Lieblingsfilm von jedem sein, der auch nur halbwegs bei Verstand ist. Die Synchronfassung auf ihre Art brillant und liebgewonnen, aber das Original natürlich unabdingbar. Im Deutschen sagt der Portier (Paul Hörbiger) im Treppenhaus zu Holly, „Er ist schon im Himmel… oder in der Hölle“ und zeigt dabei in die uns vertrauten Richtungen. Tatsächlich zeigt er im Original bei „already in hell“ nach oben und bei „or in heaven“ nach unten. Wenn alles upside down ist, weiß immerhin der französische Vertreter der internationalen Polizeipatrouille noch, was sich gehört: als sie Anna abholen und er ihr rasch noch reicht, was unverzichtbar ist – „Mademoiselle, your lipstick.“
Und jeder Mann kommt irgendwann bei dieser Zigarette an, auch wenn er keine mehr dabei hat, wie ich seit Januar. You can’t figure her out. Can’t get close. Fräulein Schmidt, die schöne, mysteriöse, traurige, todernste Tschechin, zu der Harry einst sagte, sie lache zuviel. „I couldn’t do a thing to harm him.“
Die Vergangenheit ist absurd weit weg, wenn jemand behauptet, daß sie ganz anders war. Was sehe ich, wenn ich nach vorne blicke? Zwei Bilder, die sich übereinanderlegen.
Zufällig werde ich diesen Sommer nach Wien reisen. Auch den Hauseingang in der Schreyvogelgasse suchen, in dem Harry Lime stand. Wiens Wunden wirken so faszinierend in der atemberaubenden cinematography von „The Third Man“.
Jack White hat ein eigenes label namens Third Man Records. Ob der Name ausschließlich auf den Film zurückgeht, weiß ich nicht, sicher ist aber, daß „Der dritte Mann“ auch davon handelt: Love is Blindness.
Dies sind die ersten vier Zeilen aus „Marlene Dietrich’s Favourite Poem“ – „O lieb‘, so lang du lieben kannst“ von Ferdinand Freiligrath. Am 20. Juli 2025 entdeckte ich sie als Grabinschrift auf dem Ohlsdorfer Friedhof.
Freiligrath schrieb das Gedicht als Neunzehnjähriger im Jahre 1829.
O lieb‘, so lang du lieben kannst! O lieb‘, so lang du lieben magst! Die Stunde kommt, die Stunde kommt, Wo du an Gräbern stehst und klagst!
Und sorge, daß dein Herze glüht Und Liebe hegt und Liebe trägt, So lang ihm noch ein ander Herz In Liebe warm entgegenschlägt!
Und wer dir seine Brust erschließt, O thu‘ ihm, was du kannst, zu lieb! Und mach‘ ihm jede Stunde froh, Und mach‘ ihm keine Stunde trüb!
Und hüte deine Zunge wohl, Bald ist ein böses Wort gesagt! O Gott, es war nicht bös gemeint, ― Der Andre aber geht und klagt.
O lieb‘, so lang du lieben kannst! O lieb‘, so lang du lieben magst! Die Stunde kommt, die Stunde kommt, Wo du an Gräbern stehst und klagst!
Dann kniest du nieder an der Gruft Und birgst die Augen, trüb und naß, ― Sie sehn den Andern nimmermehr ― In’s lange, feuchte Kirchhofsgras.
Und sprichst: O schau‘ auf mich herab, Der hier an deinem Grabe weint! Vergib, daß ich gekränkt dich hab‘! O Gott, es war nicht bös gemeint!
Er aber sieht und hört dich nicht, Kommt nicht, daß du ihn froh umfängst; Der Mund, der oft dich küßte, spricht Nie wieder: ich vergab dir längst!
Er that’s, vergab dir lange schon, Doch manche heiße Thräne fiel Um dich und um dein herbes Wort ― Doch still ― er ruht, er ist am Ziel!
O lieb‘, so lang du lieben kannst! O lieb‘, so lang du lieben magst! Die Stunde kommt, die Stunde kommt, Wo du an Gräbern stehst und klagst!
Ein Versuch der Übertragung ins Englische von mir:
Oh, love, as long as love you can! Oh, love, as long as love you may! The hour is coming, the hour is coming, When you will stand at graves and mourn.
And make sure to let your heart glow Let it cherish love and carry love As long as there’s another heart Beating for you with love so warm
And whoever opens up his heart for you, Oh, to him, do all you can, in love! And make his every hour happy, And make no hour sad for him!
And guard your tongue with care, Too soon an evil word is spoken! Oh God, it wasn’t meant to hurt ― But the other goes away in grief.
Oh, love, as long as love you can! Oh, love, as long as love you may! The hour is coming, the hour is coming, When you will stand at graves and mourn.
Then you kneel down at the tomb And hide your eyes, all cloudy, wet, – Him they’ll never see again – In the churchyard’s tall damp grass.
And you say: Oh, look down upon me, Who weeps here at your grave! Forgive me please for hurting you Oh God, I didn’t mean you harm
But he doesn’t see you, doesn’t hear you, Won’t come for you to embrace him joyfully The mouth that often kissed you speaks No more: I forgave you long ago!
He did; he forgave you long ago, Yet many a hot tear has been shed Over you and your harsh words ― But quiet now ― he’s resting, he has reached the end!
Oh, love, as long as love you can! Oh, love, as long as love you may! The hour is coming, the hour is coming, When you will stand at graves and mourn.
Über die Bedeutung von Peter Murphy in meinem Leben: Ich wüßte nicht wo anfangen. In „Eliza“ von „Lion“ (2014) singt Peter Murphy die Zeile: „I’m a painter on the hearts of those I sing for.“ Der vierte Track auf dem Album „Deep“, das Peter Murphy im Dezember 1989 veröffentlichte, ist „Marlene Dietrich’s Favourite Poem“, und auch mit diesem Song hat er auf mein Herz gemalt, eines der allerschönsten Gemälde.
Marlene Dietrich. Für die Liste meiner 111 Lieblingsfilme wählte ich „Shanghai Express“, aber ich hätte auch „Morocco“, „Dishonored“, „Blonde Venus“, „The Scarlet Empress“, „The Devil Is A Woman“, „Knight Without Armour“, „Destry Rides Again“, „A Foreign Affair“, „Witness for the Prosecution“ oder „Touch of Evil“ hinzufügen können. Wenn es im Himmel kein Hinterzimmer gibt, in dem Marlene Dietrich-Filme laufen, ist es nicht der Himmel.
„Marlene“ ist ein Film von Maximilian Schell aus dem Jahre 1984. Marlene Dietrich und Maximilian Schell kannten und schätzten sich seit den Dreharbeiten zu „Urteil von Nürnberg“ (1961), und Schell hatte häufig den Wunsch geäußert, mit ihr einen Dokumentarfilm über ihr Leben zu drehen. 1982 willigte sie schließlich ein unter der Bedingung, daß sie nur zu hören ist, aber nicht im Bild erscheint. Schell war einverstanden und dachte vielleicht, irgerndwann würde sie seinem Charme erliegen und ihre Meinung über das Filmverbot ändern, aber Marlene blieb eisern.
„Das ist es wahrscheinlich, was sie geheimnisvoll macht: daß eine so schöne und begabte Frau, die tun kann, was sie will, nur tut, was sie für unbedingt richtig hält, und daß sie so klug und mutig war, die Regeln aufzustellen, die sie befolgt.“ – Ernest Hemingway
Schell besucht die legendäre Schauspielerin in ihrer Wohnung in der Pariser Avenue Montaigne für vertraglich vereinbarte 40 Stunden Interview, und die ursprüngliche Absicht Marlenes, möglichst wenig von ihrem Innersten preiszugeben, schmilzt vor allem in der Szene gegen Ende des Films, als Schell und Marlene zusammen Teile von Freiligraths Gedicht rezitieren.
Bei der Zeile „Der Andre aber geht und klagt“, die sie mitspricht, bricht sie in Tränen aus, wir hören es in ihrer Stimme. Schell zitiert weiter, zuletzt schluchzt Marlene:
„Ich kann das ja leider nicht sagen. Dann muß ich heulen. Kann nicht, kann nicht… o Gott, o Gott… es ist… es ist vielleicht ein kitschiges Gedicht, aber ich weiß nicht, nein… meine Mutter liebte das sehr. Das sagen doch so viele Leute, es war nicht bös gemeint… und was die schönste Zeile darin ist… Der Andre aber geht und klagt… vielleicht heutzutage zu sentimental… vielleicht.“
Ich habe mein Leben mit einem Capricorn Girl verbracht, und ich habe keine Ahnung, ob Astrologie nur Spielerei ist oder nicht, aber ich weiß, daß dieser Satz von Marlene – „Ich weigere mich einfach, auf jegliche Art von Humbug hereinzufallen und nachzugeben.“ – einen Wesenszug des Steinbockmädchens perfekt beschreibt. Ebenso: „Da ich Dilettantismus hasse, würde ich mich nie an etwas wagen, das ich nicht eines Tages beherrschen könnte.“ Kenneth Tynan über Marlenes Stil: „Es ist das, was übrigbleibt, wenn man auf jede Anbiederung, Sentimentalität und alle Arten herzergreifenden Kitsches unbarmherzig verzichtet. Da bleiben nur noch Stahl und Seide, schimmernd und unverwüstlich.“
Marlene fragte Josef von Sternberg, wie sie in der letzten Szene von „Dishonored“, als ein Erschießungskommando Marie Kolverer hinrichtet, in den Schnee fallen soll. „Ich kann doch nicht falsch fallen!“ Kriegswitwe, Prostituierte, Spionin X-27 und als Verräterin Angeklagte: Maries Bestehen auf Haltung, Eleganz und darauf, vor den Schüssen noch einmal die Lippen nachzuziehen und die Strümpfe zu richten, ist ein letzter Triumph über das Schicksal; nicht einmal dem Tod ist es erlaubt, sie ihrer Würde zu berauben.
Sie ist hart gegen sich selbst und streng mit anderen, äußerst diszipliniert und auf die exzentrischste Weise ausschweifend, sie trägt ihre Träume trotzig durch die Wüste, ihre Loyalität, einmal gewonnen, widersteht jeder Gefahr bis in den letzten Winkel der Unterwelt, und man könnte sagen, sie ist hart im Nehmen. Ich sah, wie über ihrem Haar der Regen zögerte zu fallen, und wenn ein Capricornmädchen in Tränen ausbricht, dann hat die Welt gerade kurz aufgehört, sich zu drehen.
Und dann ist der Schutzwall um diese Seele plötzlich nicht mehr da, hot tears flow as she recalls her favourite worded token – und wir weinen mit ihr. Daß Peter Murphy, von dieser Szene ergriffen, diese Hommage an Marlene schreibt – the beauty of humanity. „Marlene Dietrich’s Favourite Poem“ hat einen verzauberten Klangteppich aus Akustikgitarren und Harfe, die verhallte elektrische Gitarre prophezeit ominös einen sich öffnenden Abgrund. Die 10 Sekunden ab 4:35, wenn Murphys Stimme sich erhebt für „Forgive me please for hurting so, don’t go away heartbroken, no“ – das ist der Moment, in dem er uns nochmals in Tränen hat. Mich jedenfalls.
Und nein, Freiligraths Gedicht ist nicht „sentimental“, nicht kitschig. Wie können wir so gedankenlos sein gegen das Beste, das uns im Leben zuteil wird? You get one shot at life. Irgendwann ist es zu spät für Verzeihen.
My mother loved it so, she said.
Im toten Winkel meines Lebens liegt ein Sternberg, letzte Szene: Nordlicht fällt auf eine nie falsch fallende Marlene.
My mother loved it so, she said Sad eyed pearl and drop lips Glancing pierce through writer man Spoke hushed and frailing hips Her old eyes skim in creasing lids A tear falls as she describes Approaching death with a yearning heart With pride and no despise
Hot tears flow as she recounts Her favourite worded token Forgive me please for hurting so Don’t go away heartbroken no
Just wise owl tones no velvet lies Crush her velvet call Oh Marlene suffer all the fools Who write you on the wall And hold your tongue about your life Or dead hands will change the plot Will make your loving sound like snakes Like you were never hot
Hot tears flow as she recounts Her favourite worded token Forgive me please for hurting so Don’t go away heartbroken no
Mother loved it so, she said Sad eyed pearl and drop lips yeah Glancing pierce through writer man Spoke hushed and frailing lips yeah Old eyes skim in creasing lids A tear falls as she describes Approaching death with a yearning heart With pride and no despise
Hot tears flow as she recounts Her favourite worded token Forgive me please for hurting so Don’t go away heartbroken no
Manchmal, wenn Aljoscha aufs Meer hinaus sah, meinte er sich an sein Schiff erinnern zu können, an das Ächzen und Knarren der Planken und Spanten, an das verzerrte Gesicht des Steuermanns, an Admiral Nelson, der nachts bei rauher See bisweilen aufstand, um die Schiffskatze zu trösten. Das ließ seine erste Ehe scheitern.
Es war ihm selber ein Rätsel, aber wenn er wollte, konnte Aljoscha nahezu waschechtes Cockney-Englisch sprechen. Und in einem verschämten Winkel seines Herzens glaubte er, daß er in einem früheren Leben hinter einem der Fenster aufgewachsen war, unter denen die Huren von Whitechapel Wünsche weckten und nicht selten auch an Ort und Stelle erfüllten, daß er dann ausgerückt war zu den Docks von Bristol oder Plymouth, in Moloneys Bar seine Seele für ein paar Silbermünzen und eine Blasphemie verkauft hatte und dann an Bord gegangen war. Dafür sprach unbedingt, daß die alten Lieder aus England, Irland oder Schottland, die vom Leben der wehmütigen Seemänner und der tapferen Fabrikmädchen handelten, von blutigen Schurken wie Long Lankin, von der toten Braut, die als Geist zurückkehrt, oder von Thomas The Rhymer, den die Elfenkönigin ins Elfenland entführt, in Aljoscha stets den ungereimten Wunsch weckten, in der Zeit dieser Lieder gelebt zu haben – bis er sich eben sagte: das habe ich dann ja wohl, verflucht.
Oft war es Musik, bei der die Melodie sich über einem einzigen beständig durchgehaltenen Akkord erhob; schon das machte Aljoscha völlig widerstandslos. Wie ein fester Blick, in dem die Macht von tausend Worten liegt. Eine Weite tat sich auf zum Auf-die-Knie-Sinken, und jede Melodie darin klang wie das erste oder letzte Lied auf Erden. Und wenn dann auch noch D-Dur die Tonart war! A Sailor’s Life, ein ganzes Seemannsleben in D-Dur… Aljoscha konnte keine Noten lesen, aber sobald er Musik hörte, bei der er sich wünschte, daß sie niemals aufhört, konnte er 100 Guineas darauf setzen, daß D-Dur im Spiel war.
Wenn er also in einem früheren Leben Seemann gewesen und ertrunken war, wenn ihn die Undinen auf den Meeresgrund gezogen hatten, wenn in diesem Leben nun sein Ohr so überaus empfänglich für D-Dur war, und wenn das Meer uns ein Gedächtnis gibt für das letzte, was man hört nach einem Schiffbruch, dann konnte das zusammengefaßt nur eins bedeuten: die Undinen sangen in D-Dur.
[Christian Erdmann: Aljoscha der Idiot]
Sandy Dennys Stimme geleitet dich zurück in vergangene Zeiten. Wenn sie Fotheringay singt, siehst du ein letztes Mal die Sonne untergehen mit den Augen der Maria Stuart, am Abend vor ihrer Hinrichtung. Du spürst den Stein der alten Burgmauer, an den sie ihre Hand legt, als sie in der Fensternische steht. Ich würde jeden verstehen, der, wenn er zum ersten Mal diese Stimme hört, das Gefühl hat, er habe noch nie eine schönere Stimme gehört. Tatsächlich kennen viele Menschen ihre Stimme, dank eines beeindruckenden Gastauftritts auf einem Album einer begnadeten Band, von dem bislang 37 Millionen Exemplare verkauft wurden. (Sie hat nie einen Penny dafür erhalten und nie um einen Penny gebeten). Sehr viel weniger Menschen kennen ihre Arbeit mit Fairport Convention oder ihr Solowerk. Als einer ihrer signature songs gilt Who Knows Where The Time Goes; und diese sechs Worte beschreiben, was aus Sandy Dennys Stimme spricht. Ihre Stimme beschwört das Vergehen der Zeit, sie ist voll winterlicher Melancholie und tiefer Traurigkeit, sie ist aber auch die Schönheit im Verfließenden; sie ist Wehmut, Abschied, sie hat irgendein undurchschaubares Verhältnis zur Zeit, wie es Capricornmädchen eignet; sie kennt Geheimnisse der Vergangenheit. Greil Marcus schrieb einmal, Sandy Denny singe über Adelige und Leibeigene, als singe sie über everyday life; „and she sang about everday life as if from a perspective of a woman a thousand years gone.“
Fairport Convention spielen eine Art American Folk, bis Sandy Denny in die Band kommt und ihre Liebe für „die alten Lieder aus England, Irland oder Schottland“ mitbringt. Sie singt „A Sailor’s Life“, eine traditionelle Folkballade, von der es zahllose Variationen gibt, im dressing room zum Aufwärmen. Am 26. Februar 1969, backstage im Adam und Eve Club in Southampton, beginnen die anderen Bandmitglieder, sie dabei zu begleiten, und an diesem Abend spielen Fairport Convention den Song zum ersten Mal auf der Bühne. Der große Joe Boyd – der Produzent, der auch Nick Drake protegierte, und ohne den Nick verloren war -, geht hinter die Bühne und sagt: Das müssen wir aufnehmen, das ist phantastisch. Band: Was, wenn wir noch einen traditional musician dazunehmen, jemanden wie Dave Swarbrick? Boyd: Gut, ich rufe ihn an. Verblüffte Band: Oh, you know Dave Swarbrick?!
Boyd sagt, es habe vielleicht einen run-through mit Swarbrick gegeben vorher, aber was wir in diesen unvergleichlich wunderbaren 11 Minuten hören, ist one single take, direkt aufgenommen, keine Nachbearbeitung, keine Overdubs.
Die LP „Unhalfbricking“ entsteht zwischen Januar und April 1969. Kurz nach dieser Aufnahme von „A Sailor’s Life“ verunglückt am 12. Mai 1969 nach einem Auftritt in Birmingham der tour van der Band auf der M1 schwer; bei dem Unfall kommen Schlagzeuger Martin Lamble und Jeannie Franklyn, die Freundin des Gitarristen Richard Thompson, ums Leben. (Farewell, Farewell von „Liege & Lief“ ist auch Thompsons Abschied von den beiden). Martin Lamble ist bei seinem Tod erst 19 Jahre alt.
Das brillante Können dieser blutjungen Musiker – Richard Thompson ist bei den Aufnahmen 19, Simon Nicol 18, der zu diesem Zeitpunkt bereits legendäre Dave Swarbrick ist gerade 27 -, das sich auf „A Sailor’s Life“ entfaltet, fließt in eine der großartigsten Instrumentalpassagen aller Zeiten, und Sandy Denny – niemand sang wie sie.
„Sandy had a way of really living a song. And I think she was able to do it because she had a very acute imagination. You could almost describe Sandy as someone who didn’t have any skin. She was so hypersensitive to every little thing in the world, it was as if she lived more vividly than the rest of us. And I think that ability to get right inside a song, inside the persona of a song, was really quite extraordinary.“ – Richard Thompson.
„No one came anywhere near Sandy. She was the best. She just had that very special quality when she sang a beautiful song. It broke your heart.“ – Ashley Hutchings.
„A Sailor’s Life“ hat mir tausendmal das Herz gebrochen. Sandy Denny singt untröstliche Verzweiflung mit kristallklarer Stimme; emotionale Intensität von absoluter Reinheit, ohne gesangliche Tricks, erhaben, tief berührend, haunting.
Das qualvolle Warten der Geliebten auf ihren sailor boy: Thompson, Nicol, Swarbrick, Hutchings und Lamble sind das Meer, das noch ruhig ist, aber schon drohend, mit Martin Lambles crashing waves. Sie macht sich auf die Suche nach ihm, mit ihrem bonny boat, und die Musik beschreibt die gefährliche, aber zunächst noch hoffnungsvolle Fahrt. Sie fragt die Seeleute eines vorbeifahrenden Schiffes, und sie antworten ihr: wir haben ihn aus den Augen verloren, wir fürchten, er ist ertrunken. Vom Schmerz gebrochen, ohne ihren William mag sie nicht leben, steuert sie ihr Boot gegen einen Felsen. Wie die Musik sich ab etwa 6:10 zu überwältigender Dramatik steigert, die den stürmischen Verlauf der schicksalhaften Seefahrt illustriert, wie das unglaubliche, scheinbar telepathische Zusammenspiel aller, besonders von Thompsons Gitarre und Swarbricks klagender Violine, die Verzweiflung des Mädchens und das aufgewühlte, tosende, immer wütendere Meer illustriert, das alles zu vernichten droht – ganz groß, das Werk von Genies. Zuletzt beruhigt sich das Meer, aber nach der Tragödie, die wir gerade miterlebt haben, kann uns auch die anbrechende Dämmerung nach dem Sturm nicht trösten.
Der einzige Trost ist, daß wir gerade eine unbegreiflich grandiose historische Aufnahme gehört haben.
Und es ist die Geburtsstunde des britischen Electric Folk Rock. Dave Swarbrick bleibt gleich in der Band und bereits im Dezember 1969 veröffentlichen Fairport Convention „Liege & Lief“, und das Album gilt noch heute als der Klassiker des Genres. Sandy Denny verläßt Fairport Convention nach den Aufnahmen für „Liege & Lief“, auch Ashley Hutchings, für den diese alten Songs zur Obsession geworden sind, nimmt seinen Hut und gründet Steeleye Span. Steeleye Span mit Maddy Prior und Fairport Convention mit Sandy Denny sind die beiden Bands, deren Musik die Passage in „Aljoscha der Idiot“ inspirierte, und noch immer können diese beiden Stimmen mit mir machen, was sie wollen.
A sailor’s life, it is a merry life He robs young girls of their heart’s delight Leaving them behind to weep and to mourn They never know when they will return. „Well there’s four and twenty all in a row My true love he makes the finest show He’s proper tall, genteel withal And if I don’t have him, I’ll have none at all.“ „Oh father, build for me a bonny boat That on the wide ocean I may float And every Queen’s ship that we pass by There I’ll enquire for my sailor boy.“ They had not sailed long upon the deep When a Queen’s ship they chanced to meet „You sailors all, pray tell me true Does my sweet William sail among your crew?“ „Oh no, fair maiden, he is not here For he’s been drownded we greatly fear On yon green island as we passed it by There we lost sight of your sailor boy.“ Well she wrung her hands and she tore her hair She was like a young girl in great despair And her little boat against a rock did run „How can I live now? My sweet William is gone.“
Sandy Denny, Gesang. Richard Thompson, Leadgitarre. Simon Nicol, Gitarre. Dave Swarbrick, Violine. Ashley Hutchings, Bass. Martin Lamble, Schlagzeug.
Ich besaß einmal ein klassisches Matrosenhemd. Eines Tages kam ich in diesem Matrosenhemd und weißer Seemannshose verspätet zu einer Philosophie-Vorlesung in den vollbesetzten Hörsaal, und der Professor unterbrach kurz seinen Vortrag, um zu bemerken: „Ah, die Marine ist auch schon da!“
Natürlich hatte so ein Matrosenhemd Konnotationen, die nicht dazu paßten, daß ich Hand in Hand mit IHR ging. Ich hatte offenbar sowieso eine Ausstrahlung, die auf manche Schwule anziehend wirkte, ich fühlte mich geehrt und verneinte freundlich. Für mein Matrosenhemd gab es andere Gründe. Dieses Video. Und „A Sailor’s Life“. Weil ich in einem früheren Leben… und so weiter.
Der See, über den bei Nacht der große Nordbär kommt, durchschwommen an einem glitzernden Morgen. Ein Füchslein pirscht um unser Zelt. Wolfsmond, dann nur noch Meilen und Meilen geradeaus, Sandstraßen auf dem Weg zur Mitternachtssonne. School’s out forever.
Pjotr saß hinten, ich auf dem Beifahrersitz, Yuri am Steuer. Etwas Unheimliches lag plötzlich über diesem Tag. Keine Menschenseele mehr da draußen, seit Stunden kein Auto mehr hinter uns, niemand kam uns entgegen, nur noch dieser orangefarbene Käfer irgendwo in einer grünen Waldhölle in Mittelschweden. Der Himmel bewölkte sich, später Nachmittag. Irgend etwas schien an den Nerven zu zerren. Yuri hatte uns schon mit einem kleinen Schlenker aus der Trance gerissen, und wir blickten mit gespannter Konzentration umher. Irgendwas Beunruhigendes war in Yuris Augen gekrochen. Seltsam starrer Blick. Eine Doors-Cassette lief. Ich hörte die Doors zum ersten Mal. Yuri schien nicht zu spüren, daß er zu schnell fuhr, oder er spürte es, konnte aber nicht mehr dagegen ankämpfen, weil der endlose Weg tatsächlich in die Ewigkeit führte und Geschwindigkeit, Zeit und Raum eine Illusion waren. Jedenfalls in seinem Kopf. Wahrscheinlich wurde es einfach zu unwirklich, ein Gaspedal runterzutreten. Die Angespanntheit, das Erwarten von irgendwas, das nicht kam, schien ihn zu lähmen, und sicher fühlte er, daß sich unter der scheinbaren Beiläufigkeit von „He, fahr mal nicht ganz so schnell“ ein ungutes Gefühl verbarg, das alles nur noch schlimmer machte – es war, als gerieten wir in einen unheilvollen Sog. Dieser Song hatte begonnen, den ich ganz besonders phantastisch fand, und ich sagte: „Das ist ja besonders phantastisch.“ Und Pjotr sagte: „Das ist ja auch The End.“
Und dann kam diese Linkskurve, der Sekundenbruchteil, in dem man es weiß, daß wir zu schnell sind, daß wir es nicht schaffen. Yuri brachte das Auto schliddernd aus der Kurve, und vielleicht wäre alles gutgegangen, wenn der Weg geradeaus weiterverlaufen wäre, aber der Wagen beginnt sich querzustellen, rutscht auf dem Sand, und Yuri muß das Steuer rumreißen, um uns in die Rechtskurve zu kriegen, die plötzlich auch noch da ist, was er auch schafft, aber die Geschwindigkeit ist zu hoch, der Wagen ist außer Kontrolle jetzt und wir krachen in die Büsche, ich weiß, daß ich sehr ruhig dachte, jetzt könnte es eigentlich mal aufhören, es sah so aus, als würden wir uns überschlagen oder um einen Baum wickeln, aber Yuri hielt Zwiesprache mit seinem persönlichen Gott, zwei Sekunden lang, zwei Sekunden, in denen er nicht viel mehr tun konnte als das, dann hatte er sich mit seinem Gott auf irgendwas geeinigt und den Käfer wieder soweit unter Kontrolle, daß er ihn messerscharf an den hohen Bäumen vorbei dirigieren konnte. Wir pflügten Büsche um, kleine Bäume, schrammten über Steine und Geröll, bis der Wagen an Geschwindigkeit verlor, das Rumpeln wurde sanfter, Yuri brachte uns auf den Weg zurück, all das dauerte nur ein paar Sekunden, aber der innere Film machte eine Ewigkeit daraus, der Käfer rollt aus, eine Ölspur hinterlassend, seine Blutspur, Stillstand, Käfer tot. Nur die Doors-Cassette lief noch immer. Noch immer lief, and it’s the fucking truth, „The End“.
Ich wanderte los, um das Warndreieck aufzustellen, vollkommen sinnlose Tat, ich ging weiter, immer weiter zurück, betrachtete den Ort, der beinahe mein Todesort gewesen wäre, ich machte ein paar Fotos mit der Schepperkamera, to avoid the shakes, und wanderte noch weiter, bis ich dachte, die Wildnis würde mich verschlucken, plötzlich fühlte ich mich unendlich einsam, ich lief zurück, und als ich Yuri und Pjotr sah, wie sie betont sachlich und geschäftig den Schaden immer wieder untersuchten, wußte ich, sie taten dasselbe wie ich, sie versuchten, die Nerven zusammenzuhalten, truerealization comes later.
Ein Jahr später saßen Pjotr und ich in einem Kino in Marseille.
ein mir vor ewigkeiten sehr gut bekannter käfer war weiß. diese herbies haben auf jeden fall ein eigenleben. und sie betätigen sich dann und wann als schutzengel. vor allem dann, wenn im auto auf irgendeine art und weise ‚the end‘ läuft. :-)
Antirationalistischer Block / Christian Erdmann:
You’re right, die HATTEN ein Eigenleben, und wahrscheinlich hat ER uns den Hals gerettet, niemand sonst. :) Du kennst die Schutzengelfunktion aus eigener Erfahrung?
Er, als Käfer, hatte auch die seltsame Fähigkeit, traurig auszusehen danach. Bei Einbruch der Dunkelheit beschlossen wir, AND ALL THE CHILDREN eine Expedition in den nächsten Ort zu starten, von dem wir aber nur ungefähr ahnten, ARE INSANE wie weit er entfernt war, und packten Proviant zusammen. Wir hatten den niedergeschlagenen Käfer ein wenig vom Weg geschoben und waren ein paar Schritte mit unserer Funzel gegangen, da hörten wir DESPERATELY IN NEED OF SOME STRANGER’S HAND Motorengeräusch. Flackernde Scheinwerfer in der Ferne, wußtest Du, daß die wie eine göttliche Erscheinung wirken können? :) Drei Hobbits in Mordor, das wär’s gewesen.
AndersSehend:
ja, aus eigener erfahrung. :-) dieser käfer hat im winter 89/90 mit seinen scheinwerferaugen radfahrer angestrahlt, die ich ansonsten höchstwahrscheinlich über den haufen gefahren hätte, weil ich sie nicht früh genug oder überhaupt gesehen habe. danach schock für alle beteiligten, auch der käfer hat traurig ausgesehen. fast so, als hätte er geahnt, dass dieses erlebnis bei mir eine erkenntnis und eine konsequenz anstoßen würde. inzwischen wüsste ich gern, ob es diesen speziellen käfer noch irgendwo gibt.
Antirationalistischer Block / Christian Erdmann:
Oh, I remember. Ja, Du hattest schon erwähnt, daß es ein Käfer war, when you told me of the day you parted ways. Da sogar Bowie in „Lady Grinning Soul“ vermerkt: She’ll drive a beetle car, steht uns wohl die Schlußfolgerung zu, daß jeder Trottel Schicksalhaftes in irgendeinem Auto erleben kann, aber nur die Auserwählten in einem Käfer! – Besteht denn die Möglichkeit, daß dieser spezielle Käfer noch irgendwo existiert? – By the way, going to Sweden, back then, it was a kind of time-out, too, a hiatus in a chain of events, I had to make up my mind about something up there and I wasn’t the only one involved. And even if that accident seems like a proof that a break in the chain of events is full of events too, there’s been places up there that made me listen, and I listened until the rain in my heart had stopped. Until the „Train wheels runnin‘ through the back of memory“ had stopped. So… well you know.
AndersSehend:
ob man von einer realistischen möglichkeit der existenz dieses speziellen käfers bis in dieses jahr hinein sprechen kann, weiß ich nicht, denn er hatte zum damaligen dekadenwechsel bereits einige jährchen auf dem buckel, hoher einstelliger oder sehr kleiner zweistelliger bereich. hmm, wahrscheinlich würde ich ihm gerne die kofferraumhaube schütteln und mich endgültig von ihm mit einem „hey danke noch mal, kugelfreund, für damals“ verabschieden wollen.
… and I listened until the rain in my heart had stopped. Until the ‚Train wheels runnin‘ through the back of memory‘ had stopped. So… well you know. – bin mir noch nicht hundertprozentig sicher, ob ich jetzt bereits weiß. was ich hingegen weiß, ist, dass diese auszeit dafür gedacht ist, mein persönliches schweden zu finden, wo ich herzberuhigend lauschen und zuhören kann, oder zumindestens schon einmal eine karte für den weg dorthin aufzutreiben. und irgendetwas sagt mir, dass das auch klappen kann.
21.05.2011
Antirationalistischer Block / Christian Erdmann:
Das meinte ich mit „well you know“… daß ich Dir genau das wünsche, einen Ort, one that’s real or one that’s in your mind, wo eine kommt wie Wehmut („Was hatte sie denn angelockt? Was hatte Wehmut hier zu tun? Die Rede von Wahrhaftigkeit, die Rede von Wahrhaftigkeit.“), oder eine andere, die Dinge wispert wie „Whatever needs to happen, let it happen, let it be, through all you are protected, grace is effected over you“. Well you know. :)
„Kugelfreund“, that’s beautiful. :) Mysteriös am Käfer war auch seine Fähigkeit, Dinge aufzunehmen, die normalerweise nicht in einen Käfer passen, ein Gefühl, das man gerade auch im hinteren Teil des Kugelfreunds hatte, zwischen den Schlafsäcken, dem Klimbim, der Gitarre, dem Cembalo, der Bibliothek, der Gemäldesammlung, den hängenden Gärten von Babylon, dem Waldesdickicht, Schneewittchen und den sieben Zwergen. Unglaublich, was da reinging. :)