We No Who U R Jubilee Street Do You Love Me? Tupelo Red Right Hand Mermaids From Her To Eternity West Country Girl God Is In The House Watching Alice Into My Arms Higgs Boson Blues The Mercy Seat Stagger Lee Push The Sky Away
Encore:
We Real Cool Papa Won’t Leave You, Henry Jack The Ripper Deanna (on request) Give Us A Kiss
Und übrigens: eine ähnlich verstörende Atmosphäre wie McCarthys Anti-Western versprüht Nick Caves notorisch unterschätztes Swamp-Delirium „Und die Eselin sah den Engel“. Cave schreibt wie im Rausch, rüstet seine Prosa immer wieder zu Feuerreden auf, die wie aus dem Mund eines wahnsinnig gewordenen Predigers gefallen wirken. Das literarische Äquivalent zu seinen frühen, völlig zerballerten Blues-Vergewaltigungen.
Aljoscha der Idiot / Christian Erdmann:
Diese Empfehlung kann ich nur unterschreiben, aber wenn’s geht, das Original lesen, „And the Ass saw the Angel“… „Sucked by the gums of this toothless grave, ah go“ rollt besser als „Der Gaumen dieses zahnlosen Grabs saugt mich hinab“, Swamp-Idiom, wo jedes „I“ zu „ah“, jedes „my“ zu „mah“ wird. Zerballerte Dramatik schon, aber ein erstaunlich strukturierter Roman, konzipiert mit einer Disziplin, die man Cave zur damaligen Zeit wohl nicht zugetraut hätte. Lohnt sich eben doch, wenn der Papa (Englischlehrer) dem kleinen Nick Dostojewski und Nabokov vorliest. Cave ist nicht nur musikalisch ein Meister im Heraufbeschwören einer unheilschwangeren Atmosphäre („The Carny“!) und wartet mit so alttestamentarischer Sprachgewalt auf, als hätten sie damals sein Kapitel aus der Bibel rausgeworfen. Ukulore Valley ist ein böser, böser Ort, wo bei der Geburt gestorbene Zwillingsbrüder (klar: God help Tupelo) in Pappkartons begraben werden, Junkyard-Göttinnen Cosey Mo heißen und vergöttlichte Mädchenheilige Beth, und wo die Krähen nicht einfach nur so kreisen.
Mixolydian:
Das „zerballert“ war auch eher auf den Inhalt bezogen: kaum eine Figur, die nicht wahnsinnig, vom Alkohol zerfressen, gewalttätig oder zutiefst bigott und böse ist. Caves Beschreibung des schrecklichen Todes der Mutter Euchrids („a scum-cunted, likkered-up, brain-sick swine“) hat mich damals um den Schlaf gebracht, so aufwühlend ist die Passage. Und das Zwiegespräch mit dem totgeborenen Bruder fand sein Echo kürzlich auf Scott Walkers „The Drift“ (im Song „Jesse“, in dem Elvis den Geist seines „stillborn brother“ anruft). Weitere Szenen von ähnlicher Intensität sollten folgen…
Cave hat einmal in einem Interview gesagt, dass das Schreiben ihm leicht von der Hand ging, aber dass es die Hölle war, Struktur in die Aufzeichnungen zu bringen. Deshalb lasse auch ein weiterer Roman immer noch auf sich warten: er, Cave, wolle sich diesen Wahnsinn nicht noch einmal antun. Das Interview hat er vor ca. 8 Jahren gegeben, mittlerweile arbeitet er mit Beamtenmentalität an seinen Alben, von Rock ’n‘ Roll-Exzessen keine Spur mehr. Das hat er alles durch. Eigentlich eine perfekte Ausgangsposition für kommendes Großschriftstellertum. So wie bei Cohen, nur anders herum.
Von einem neuen Buchprojekt habe ich aber leider noch nix gehört. Vieleicht nagt ja das Euchrow-Trauma immer noch allzu arg am Gemüt des Meisters…
Christian Erdmann:
Ich hatte das Vergnügen, einer Lesung von Cave beizuwohnen, als der Roman noch nicht erschienen war (unter anderem las er das „Atra Virago“-Kapitel), er las im Stehen, und klang wirklich wie der Wanderprediger zwischen Sumpfland und Strumpfband. Außerdem ist meine englische Ausgabe von Nick signiert – eines meiner kostbarsten Bücher fürwahr.
Mixolydian:
DAS lässt mich jetzt aber wirklich vor Neid erblassen! Gerade weil ich immer noch Trauer trage, da der Meister kürzlich auf Solotour auch meine Stadt beehrte, während ich mir grippekrank die Seele aus dem Leib kotzen durfte :-(.
Aber wenn man den Gerüchten Glauben schenken darf, geht er demnächst mit „Grinderman“ auf Tour.
Christian Erdmann:
Neues Buchprojekt wohl noch nicht, aber er hat ja jüngst das Drehbuch für „The Proposition“ geschrieben, ein Film, der im australischen Outback am Ende des 19.Jahrhunderts spielt. Nach eigener Aussage mit Skrupeln, da er das Narrative als seine Stärke ansieht und nicht wußte, ob er überzeugende Dialoge schreiben könne. Scheint aber gut gelungen, betrachten wir es als Fingerübung für sein Großschriftstellertum.
Bevor er dazu ansetzt, hat er sich selbst und drei der Bad Seeds aber ja nun erst einmal genötigt, für Grinderman wie Nebenfiguren aus einem Italo-Western auszusehen (früher oder später landen ja alle bei Morricone), und der hier besser nicht zitierte Text der ersten Single legt nah, daß Nick erst noch ein paar Dinge dringend ventilieren muß, die ihm in der Einsamkeit seines berühmten „Büros“ offenbar schwer zu schaffen machen.
Wünsche Dir jedenfalls, daß es klappt mit einem Konzertbesuch; ich habe ihn zuletzt auf der „Abattoir Blues / The Lyre of Orpheus“-Tour gesehen, mitsamt Frauengospelchor; wenn deren „Get Ready! Get Ready! Get Ready!“ durch den Rabatz von ca. 20 (gefühlten) Bad Seeds schnitt, während Cave „Praise Him till you’ve forgotten what you’re praising Him for!“ stöhnte, war klar: in den Zug zu Jesus steigst du niemals ein… aber du hängst hinten am Seil am ratternden Zug, polterst über die Gleise… und du genießt es. :)
Cave hat auch mal einen Essay zum Markus-Evangelium geschrieben, als Einleitung für eine Ausgabe der King-James-Bible, und es ist interessant, daß seine Lyrics von englischsprachigen Theologiestudenten mittlerweile zu seriöser Arbeit herangezogen werden.
[SPIEGEL ONLINE Forum „Literatur – Was lohnt es noch, zu lesen?“ März 2007]
Aber Caves Herzeleid galt einer Mary, und damit hatte es dem Weh Aljoschas eins voraus: es konnte auf einen Namen bluten. Aljoscha sah aus dem Fenster und hatte keinen Namen. Er hatte, wie jedes Mal, wenn SIE gegangen war, Angst, SIE nie mehr wiederzusehen. Er hatte, wie jedes Mal, wenn SIE gegangen war, ein Ich, das nur noch aus Höllenschmerz bestand, weil das, was SIE ihm hinterließ, mit Eisenzangen sein Geständnis forderte. Er hatte, wie jedes Mal, wenn SIE gegangen war, leere Augenhöhlen, die sich erst nach und nach wieder mit Augapfel und Sehkraft füllten.
[Christian Erdmann, „Aljoscha der Idiot“]
SPIEGEL ONLINE Forum
Juni 2009
*42*:
Sag mal, darf ich mal in Deinem Plattenschrank wühlen? :)
Christian Erdmann:
Gern! Gemäß der Chaostheorie könnte das etwas Ordnung hineinbringen. Gemäß meiner eigenen Chaostheorie jedenfalls. Gute Nacht, Nacht:
ray05:
Neuen Ordner anlegen, Nick draufschreiben, Nick reintun. :) Füllt sich wie von alleine, der Nickordner, OK, ab und zu mal Schnee aus der Mappe schippen.
Christian Erdmann:
Dieser Tracy Pew ist für Jugendliche unter 16 Jahren nicht geeignet. Aber gut, en route und von vorn, Aufräumaktion auf dem Junkyard.
ray05:
Der Geburtstagspartypunk ging damals komplett an mir vorbei; aufmerksam wurde ich erst, als mir ein Mädchen – jaaa! es gab so Perlen :) – eine MC aufnahm und schenkte. Seite 1: Pricks, Eternity, Tupelo, das ganz frühe BadSeedsZeug; Seite 2: Neubauten, Patient O.T. glaub ich.
Die zwei verschiedenen MC-Seiten sprachen damals für mich schon ahnungsvoll miteinander, bildeten aber leider mit dem unglaublichen „Swordfishtrombones“ den Regierungssitz von Kannitverstan. Recht froh wurde ich also nicht damit, vielleicht weil mir die Erfahrung der Lektüre von „Moby Dick“ und „Billy Budd“ noch fehlte. Dostojewski und Fontane allein scheint als Vorbereitung nicht ausreichend gewesen zu sein … Madness und Miles Davis auch nicht … :)
Christian Erdmann:
Aljoscha T entdeckte Nick Cave genau auf der Rückfahrt von Seite 83, eine auf dem Bahnhof erworbene Zeitschrift mit einem Artikel über ihn, der Titel eines Abschnitts hieß: „Der Einzelgänger agiert immer.“ Katherine Mansfield, Tagebücher. Schon diese Titelzeile wurde für den Protagonisten bedeutend.
Die Birthday Party habe ich zwar auch nur im Retroverfahren kennengelernt, und es bleiben mir abgesehen vom Bewundern des höllischen Strukturenschindens (aber dafür muß man Virtuose sein!) vornehmlich zwei Stücke, „Mr Clarinet“ und „Mutiny In Heaven“. Nick Cave aber war Literatur plus phantastische, dramatische Musik plus der Bad Seeds als Vertreter eines mir bis dahin unvertrauten Stils: der Outlaw als bestgekleidetster Mann der Welt. „Kicking Against The Pricks“ und „Your Funeral, My Trial“ werden im Buch ja auch erwähnt, schlugen genau dort ein, als Zeichengeber der „unwahrscheinlichen Mitwirkung“ (Breton).
Der besagte Artikel stammte von der großartigen Jutta Koether, aus einer Zeit und dem Hirn einer Frau also, die über Musik mit einer Mischung aus künstlerischer Kompetenz und unbedingtem persönlichem Einsatz schrieb, an der Oscar Wilde (Kunstkritik hat gefälligst selbst kreativ zu sein, sonst ist sie überflüssig) seine pure Freude gehabt hätte. Cave hatte zu der Zeit „seit eineinhalb Jahren“ an seinem Buch geschrieben: der Sänger, der sich als Künstler versteht, „der viel in seine Songtexte hineingesteckt hat“ und wußte, wie alles, was man als „Sänger“ tut, zu leicht trivialisiert wird. Und er erwähnte Dostojewski, ja. Genau da.
Die Bad Seeds, anmutig bis brachial in der überall spürbaren Verarbeitung von Einflüssen, aber mit einem neuen Gefühl für das alles, konzentriert und seltsam isoliert, vom Standpunkt der Nicht-Zugehörigkeit aus, im Grunde schon immer bereit, „one more town around the bend“ aufzusuchen, aufsuchen zu müssen, weil alles so schiefgeht wie bei William Blake dem Zweiten. Fünfmal live gesehen (mit „And The Ass Saw The Angel“-Lesung sechsmal), von der berüchtigten „Kings ov Independence“-Nacht, in der erstmal halb St. Pauli klirrte, bevor um 5 Uhr morgens tatsächlich noch Nick Cave und seine Kumpane erschienen, bis zum Gegenbeweis zur kolportierten Humorlosigkeit, als er im sonnigen Stadtpark bei „The Singer“ nicht „I pass a million houses“, sondern „I pass a million trousers“ sang. Blixa Bargeld kriegte sich nicht mehr ein. Zuletzt bei der „Abattoir Blues / Lyre of Orpheus“-Tour. Ich persönlich liebe ja Mädchenchöre am Rande der Hysterie, und Nick hat den Damen bestimmt vorher Dylans „Street Legal“ und „Shot Of Love“ nochmal vorgelegt.
ray05:
Aber ja. Nick ist aber auch einer von diesen Bußpredigern, die im Planwagen die öden Kaffs im Herrgottswinkel abklapperten. Zwar staubig aber bestens gekleidet. An den Crossroads verkauften sie dann Schnaps und verführten die jungen Dinger … :)
Christian Erdmann:
„Abattoir Blues / Lyre of Orpheus“, Tabelle nach dem 33. Spieltag: „Spell“ – „Nature Boy“ – „There She Goes, My Beautiful World“ – „Supernaturally“. Aber auch „Hiding All Away“, großartig, wie das Tretmühlengeschmurgel am Anfang erst Nicks Lachen und dann einen sardonisch polternden Rhythmus provoziert, und die Chormädchen genauso aufs Geratewohl einsetzen müssen wie seinerzeit die Damen bei Dylans „The Groom’s Still Waiting At The Altar“ und einmal dann ja auch ins Kichern kommen ob leicht versemmeltem Einsatz. Sehr schön.
Schon die weißen Hemden auf der Rückseite von „It’s Still Living“, Birthday Party. Alles hinter sich, Heuschrecken, Finsternis und Flut, Seitenstraßen voller Blut, geht der Mann seiner Extra-Plage entgegen, begleitet von einer Gruppe Typen, die aussehen wie unkommunikative Bestatter mit Extra-As im Ärmel. Und die Plage wird ein Strumpfband tragen, und hinter ihrem übernatürlich blassen Gesicht lauert irgendeine schöne Perversion. Was tut man, wenn man jedes Höllenfeuer exploriert hat? Man schaut, ob nicht doch noch eines übrig ist. Unsterbliche Obsession, irgendein Zustand der Verdammnis, der aussieht wie Erlösung, oder umgekehrt. Nicht mehr schlafen können, aber im Traum. Und noch im Traum die Frage – wird ein Herz mich überstehen?
(Aus einem Brief):
Sie hatten ungefähr 2500 Tickets verkauft, für einen Veranstaltungsort von 1200. Der Eintritt begann mit einer Verzögerung von zwei Stunden, die Leute mussten buchstäblich unter dem Gitter hindurch ins Knopfs hineinkriechen, Türsteher begannen, Leute zu schlagen, ein paar Flaschen wurden geworfen, ein paar Fenster eingeschlagen und die Polizeiautos kommen. Drinnen ist es höllisch heiß, viele Menschen versuchen wieder rauszukommen und fürchten den Tod durch Ersticken. Draußen sind all diese Leute, Tickets in der Hand, umgeben von der Polizei. Barrikaden brennen jetzt, überall Feuer. Reeperbahn für einige Stunden autofrei. Ich kann mich nicht erinnern, wie oder wann ich reingekommen bin. Eine meiner surrealeren Nächte. Es ist fünf Uhr morgens, als Nick Cave auftritt. Im Grunde steht man also da und sieht Nick Cave und erwartet, daß jeden Moment das Haus niederbrennt. Und es ist dir egal. So gut ist er.
SIE und ich waren nun ein Liebespaar, seit kurzem, sie hatte ein Ticket, ich nicht. Für business down the road fahre ich am Knopf’s vorbei, finde sie in der Menge, die vor verschlossenen Türen steht. Die Lage ist unübersichtlich, äußerst angespannt und IHR nicht geheuer. Um 21 Uhr 45 steckt sie mir das Ticket in die Jackentasche: „Es hat mir die ganze Zeit einen Stich versetzt, daß du ihn nicht sehen sollst!“ Ihn, Nick Cave.
Als ich zurückkomme zum Knopf’s, ist die Polizei schon da. Nach einer Weile wage ich mich unter dem Gitter hindurch in den Hexenkessel, niemand fragt nach meinem Ticket. Ein Mädchen sagt, drei Bands haben schon gespielt – Die Haut, Holy Toy, und leider auch Crime & The City Solution. Die Butthole Surfers sind auf der Bühne, projiziertes Bunt, eine tanzende Go-Go-Danseuse und Filmchen, ein brennendes Becken, oh well. Danach erklingt Klassik. Keine Chance, an die frische Luft zu gelangen. Ich sehe beim Aufbau der Swans zu, schaffe es dann, nach zwei Liedern der Swans, nach draußen. Alles ist abgesperrt, die Polizei bildet eine Kette. Weird scenes, unbehaglich, gefährlich. Ständig zerklirren Flaschen. An der legendären Tankstelle lassen sie nur noch drei Personen gleichzeitig hinein. Ein Polizist knurrt mich an: „Würden Sie hinter die Absperrung gehen, verdammt!“ – „Warum? Ich will ein Konzert hören!“ – Ein betrunkenes Paar tanzt am Knopf’s vorbei, Polizisten begleiten es mit Hohngelächter. Die Aggression eskaliert, einer der Polizisten stößt die Frau sogar zu Boden. Leute werden verfolgt und tatsächlich an die Wand gestellt. In einer Wohnung scheint eine Rauchbombe explodiert zu sein, auf der Straße gehen Feuerwerkskörper hoch. Die Polizisten heben ihre Schilder, ein Gegenstand fliegt, „Draufhauen!“ rufen die Cops. Das Geräusch der Stiefel, als sie auf uns zustürmen. Panik, kreischende Mädchen, Menschen versuchen in die Halle zu fliehen, das Gedränge ist entsetzlich, die Augen mancher Cops absolut hasserfüllt, irgendwie gelange ich zurück ins Knopf’s, ohne zertrampelt und zerquetscht zu werden. Inside, alles bleibt vollkommen surreal, erklingt Tschaikowskys opus 23. Dann The Fall mit Brix, und irgendwann im Herz der Finsternis tatsächlich der Bühnenumbau für Nick Cave.
Voyeuristische Anbetung, Paroxysmus des Verlangens, Paroxysmus der Lust, mädchenmörderischer Wahnsinn, „der dunkellichtige Schimmer von romantischer Anwandlung“ (spex 1990), bedingungslose romantische Liebe, tiefster Humanismus, spirituelle Sehnsucht, all diese Songs, die von allen Arten der Liebe handeln, von allen Arten des Himmels und von allen Arten der Hölle, „Sein ganzes Leben lang hat Cave über Tod und Mord und Schmerz geschrieben, über das Böse, über das unsägliche Dunkel im Zentrum des menschlichen Daseins. Es verwundert deshalb nicht, daß er sich jetzt auf einer spirituellen Suche nach dem Licht befindet.“ (Sylvia Patterson, Rolling Stone 04/1996). Und genau hier sehe ich ihn also zum ersten Mal leibhaftig, weißes Hemd, schwarze Weste, es ist 4 Uhr 30 und auf seltsame Weise der perfekte Ort und die perfekte Zeit für den Straßenräuber-Klassizismus der frühen Bad Seeds.
Hey Joe Saint Huck Jack’s Shadow Your Funeral, My Trial Stranger Than Kindness Sad Waters I’m Gonna Kill That Woman From Her To Eternity Long Time Man The Singer
SPIEGEL ONLINE Forum
Januar 2008
Christian Erdmann:
„I don’t know what it is but there’s definitely something going on upstairs!“
Was macht eigentlich Lazarus, nachdem er von den Toten erweckt ist? Er hollert „increasingly neurotic and obscene“ durch die Mean Streets der 70er.
Zum Schießen. Wie Grinderman mit Discosoul-Stringenz und dem Wundermittel Sleaze. Seit „Babe I’m On Fire“, dem endlosen Ende von „Nocturama“, hat der als Düstermann Verschrieene offenbar gesteigerte Lust daran, den Leuten den absurden Humor seines epischen Ansatzes so richtig vor den Latz zu hauen. Erst weicht man ein wenig zurück, weil man meint, dieser Pornofilmdarsteller fummelt einem gleich im Gesicht herum, und dann hört man’s rauf und wieder runter, und leichtes Befremden am Anfang ist immer ein gutes Zeichen.
kleintal:
Unglaublich! :-)) Allein mit diesem Song raucht der gute Nick sämtliche „wichtigsten CDs“ des letzten Jahres in der Pfeife.
ralfons:
Ja, da soll noch einmal einer sagen, Metal wäre langweilig, vorhersehbar und würde sich ständig selbst kopieren! Aber Nick Cave darf einen kompletten Song lang ein Riff runternudeln, das schon in Jugendzeiten meiner Oma maximal Gähnen ausgelöst hätte, und dazu ’nen 08/15-ich-wär‘-jetzt-gerne-lasziv-aber-es-klappt-gerade-nicht-Sprechgesang dahernölen? Ich war mal großer Nick-Cave-Fan, aber irgendwie löst er mittlerweile bei mir nichts mehr aus.
Christian Erdmann:
Leck‘ Deine Wunden bitte nicht auf dem Rücken eines Nick Cave-Songs. Zeig mir die, die in ihrem Oeuvre derartige Kontraste vorweisen können wie Cave zwischen Tosen und Toben der Hölle, heiliger Melancholie und unfaßbarer Zärtlichkeit.
Eine der Platten, die mit der Zeit immer besser werden. Wie auch Dylans SLOW TRAIN COMING. Sagte ich das schonmal? :)
Antirationalistischer Block / Christian Erdmann:
Möglich, kann man aber nicht oft genug sagen. :)
Er machte auch im Hause des Allerheiligsten zwei Cherubim nach der Bildner Kunst und überzog sie mit Gold. Er machte auch einen Vorhang von blauem und rotem Purpur, von Scharlach und köstlichem weißen Leinwerk und machte Cherubim darauf. Und er machte vor dem Hause zwei Säulen, fünfunddreißig Ellen lang und der Knauf obendrauf fünf Ellen. Und machte Ketten zum Gitterwerk und tat sie oben an die Säulen und machte hundert Granatäpfel und tat sie an die Ketten. Und richtete die Säulen auf vor dem Tempel. Und im Tempel verehrte er „Night Of The Lotus Eaters“, „We Call Upon The Author“ und „Hold On To Yourself“. 2. AljoschaChronik 3.
Böse zu- und ausgerichtet, mit dem linken Bein zuerst aufgestanden, unwiderstehlich, wie die Strandräuber bei Lautréamont, die mit ernster Miene irgendwas über die Gespenster mit den großen schwarzen Flügeln erzählen:
10.10.2010
Bellringer Blues. Verleiht einem in den ersten 30 Sekunden das Gefühl, mit den Ohren eines betrunkenen Pferdes zu hören.
14.10.2010
Mein Kandidat für den Literaturnobelpreis 2020.
22.10.2010
Grinderman Live Docks Hamburg 21.10.2010
„Palaces Of Montezuma“ ist ja von der Schönheit, die nur Cave inmitten surrealer Bösartigkeit so zu schaffen weiß, ich kann nicht beschreiben, warum mich aber gerade der Backgroundgesang von Ellis und Sclavunos bei diesem Song so rührt. – Gestern also live, trotz Erkältungs-Brummschädel, aber der Indolenzverwalter kommt noch früh genug. Es ist mir unverständlich, wie man bei dieser Musik, zumal im Konzert, nicht komplett die Motten kriegt. Cave sieht irgendwie jünger aus als in den letzten Jahren, das liegt nicht am makellosen Bond Street-Anzug und auch nicht daran, daß seine drei Mitschinder des schmeichelnden Wohllauts wirken wie drei rettungslos durchgeknallte Propheten aus dem Altem Testament. Warren Ellis muß man live gesehen haben, das läßt sich nicht beschreiben. „You know, they used to burn men like you alive.“ („From Hell“). Der Mann ist besessen, Pazuzu & Co bilden eine Wohngemeinschaft in dem Mann, wilder Blick und Bewegungsrepertoire direkt aus „Ich sage euch, ganz Babylon wird sich erheben und eine dreiköpfige Schlange, und es wird im ganzen Land ein Scheuern und Schleifen, ein Reiben und Schubbern von aneinanderklebenden Teilen geben! Diese Teile werden wieder auseinanderfallen! Und das Schwert wird schwingen über allen elenden Sündern, und das Horn soll auf dem Haupt sein, und es hat neun Spitzen. Und das Schwert wird alles enthaupten, zack und zack und zack…“ Zack und zack und zack, und der Katze noch auf den Schwanz treten, und hier noch draufhauen, und sich noch am Boden winden und „Evil!“ brüllen, und noch mit der Violine fuchteln und alle Verantwortlichkeit von sich weisen. Jim Sclavunos hatte Geburtstag, und es gab „(I Don’t Need You To) Set Me Free“ von Grinderman 1 als Publikums-Sonderwunsch, bislang noch nicht gespielt auf der Tour. Teuflisch, insane, und gerade darum so reinigend.
05.06.2012
Mein schönstes Serienerlebnis.
For me to hold echo loop like some kind of cosmic background radiation
Das Übernatürliche: die Religionsgeschichte kennt es als das Göttliche oder als Wunder, der Okkultismus kennt es als das Übersinnliche, die Filmwelt kennt es als Greta Garbo. Das, was wir das „Natürliche“ nennen, ist Teil eines Ganzen, das wir, würden wir es kennen, die „wirkliche Welt“ nennen dürften. „Übernatürlich“ wäre dann alles, was zwischen unserer „natürlichen“ Welt und dem Ende der „wirklichen“ Welt webt und lebt. Das Wunderwerk Push The Sky Away ist mit diesem Raum vertraut.
Das 15. Studioalbum der Bad Seeds ist das erste ohne Mick Harvey, und Nick Cave hat sich darauf besonnen, daß er seinen eigenen Eno hat, nämlich Warren Ellis. Ein Mann, der den Klang von fallendem Schnee kennt. Und Ellis sorgt als dominante Figur mit bewundernswertem Sinn für das präzis Diffuse, mit ätherischen und schemenhaften Klängen, mit seinen drones, mit unheimlichen Flötentönen, Orgelwellen und anderweltlichen loops ganz maßgeblich dafür, daß die Songs auf Push The Sky Away spukhaft heimgesucht werden; daß ein Hauch des Übernatürlichen über ihnen liegt.
Eine Textur, die Caves Lyrics auf diesem Werk virtuos komplementiert, in denen hinter dechiffrierbarer Aktion immer wieder ein ganz anderes Narrativ zu existieren scheint, oder, wenn man so will: ein Narrativ des Ganz Anderen.
The tree don't care what the little bird sings
Daß der Song, der das Album mit sinistrer Mattigkeit eröffnet, nicht „We Know Who You Are“ heißt, sondern WE NO WHO U R, Cave für den Titel die reduktionistische Schreibweise des Netzeitalters wählt, gab Anlaß, bei the little bird an Twitter zu denken. Schließlich hatte Cave ja auch erklärt, es fasziniere ihn, „how on the internet profoundly significant events, momentary fads and mystically-tinged absurdities sit side-by-side“; so fragen die Songs auch danach, „how we might recognise and assign weight to what’s genuinely important“. Vielleicht geht es um die Wirkkraft des Internet in WE NO WHO U R, vielleicht deuten Lyrics wie „We know who you are / We know where you live“ auf die Invasion der Privatsphäre durch die virtuelle Sphäre. Das Internet macht auch deshalb aus Menschen Furien, weil scheinbar allen alles offen liegt. Tatsächlich irren wir im Internet auch nur durch einen dunklen Wald.
Würde Clara WE NO WHO U R hören, es käme ihr ganz anderes in den Sinn.
Von Friedrich Schelling gibt es ein relativ unbekanntes Fragment namens „Clara. Über den Zusammenhang der Natur mit der Geisterwelt“. Verfaßt wohl recht unmittelbar nach Caroline Schellings Tod im Jahre 1809, wendet sich das philosophische Gespräch Clara den Dingen einer anderen Welt zu, um festzustellen: die andere Welt beginnt in dieser Welt, und diese Welt ist immer auch eine andere.
Clara, die Protagonistin, ist erfüllt von dem „Gefühl eines namenlosen Schrecklichen in der Natur“, von dem sie sich „mit schauerlicher Lust bald vielleicht angezogen, bald wieder abgestoßen“ fühlt. Betrachtung der Natur ist für Clara mit Grauen verbunden. Es grause ihr davor, wie in der Natur „alles Bezug hat auf den Menschen“. Die Natur scheine ein „geheimes verzehrendes Gift“ in sich zu haben, und würde nicht diesen „Schauern der Natur“ eine andere Macht in ihr das Gleichgewicht halten, sie müßte schier vergehen im Gedanken an „dies ewig ringende, nie seiende Sein“.
Clara fühlt, daß dieses Andere beständig auf sie übergreift, beständig eine Grenze zu überschreiten sucht, und das Wort vom ringenden, aber nie seienden Sein spricht als das Schreckliche der Natur nicht das Undurchdringliche ihrer Beschaffenheit an; es handelt sich vielmehr um die Ahnung, daß etwas in der Natur um eine andere Beschaffenheit ringt.
Der Zusammenhang des Menschen mit der Natur, den Clara einen „magischen“ nennen wird, werde wesentlich davon bestimmt, „wie viel von dieser Sinnenwelt selbst ganz Unsinnliches ist“.
Vielleicht sei dieses Unsinnliche ein unterschwelliges Aufbegehren der Natur gegen die unaufhörliche Gewalt des Todes, die in ihr herrscht. Vielleicht sehne sich die Natur danach, „von der Vergänglichkeit erlöst zu werden. Eben dies, daß nichts dauert, diese innere Notwendigkeit, nach der endlich alles zerstört wird, und die nur um so gräßlicher ist, je stiller sie ist, eben diese ist das Ängstigende in der Natur.“
Der Mensch als körperlich-geistiges Wesen ist Berührungs- und Übergangspunkt zweier Welten, und das namenlose Schreckliche in der Natur ist ihr Bestreben, diesen Übergangspunkt zu erreichen. Das Sein ist deshalb nie einfach seiend, weil eine strebende Macht in der Natur gleichsam ihrer Vorhut nacheilt, dem Menschen.
Als ob die Natur „wisse“, daß sie vor der Gegenwart des Menschen einen Abgrund von Vergangenheit darstellt, versucht sie im Menschen ihre eigene Zukunft zu erreichen. Sie scheint ihn mit stummem Seufzen anzuklagen oder stürzt sich auf ihn, richtet ihre Pfeile auf ihn, verschlingt ihn, sie verwüstet und vernichtet. Die eingeschlossene Kraft in der Natur, die sich „zu entwickeln bereit war“, so empfindet es Clara, teilt sich mit, weil sie, als noch bewußtloser, aber werdender Geist, ihr Potential zu entfalten sucht; alles an ihr sucht den Menschen und will sich seiner bemächtigen.
Darum also sehen die Dinge so aus, als ob sie bereit wären, „noch ganz andere Lebenszeichen von sich zu geben als die jetzt bekannten“. Das „Schreckliche“ ist das Maß ihrer Regung als Freiheitsdrang, die freie Reaktion der Dinge auf ihre Unfreiheit. Das Schreckliche ist Reaktion eines Innen auf ein Innen im Außen.
The trees will stand like pleading hands
We go down with the dew in the morning light
Nick Cave tat kund, zentrales Thema von „Push The Sky Away“ sei „the tension between the male and the female“. Aber, sagt Clara, es geht auch um das namenlose Schreckliche in der Natur und seine Interaktion mit dem Menschen. The trees all stand like pleading hands. Natur als Hieroglyphe für Geist, für das Eingeschlossensein einer sich gleichwohl regenden Freiheit.
WE NO WHO U R: im Video (Regie: Gaspar Noé)
folgen wir einem Schatten durch einen spärlich und unheimlich angeleuchteten Wald. Nichts geschieht. Grauen angedeutet, nichts explizit. Wir wissen nichts, nur, daß etwas Schreckliches geschehen ist, geschehen wird, geschehen muß. Daß wir ein Potential durchschreiten, das sich unserer zu bemächtigen sucht. Wer ist das „Wir“, das sich mit dem Morgentau auf die Welt senkt? Wer weiß im „We know who you are“, und was? Gespenstisch und sphärisch die Klänge, eine weibliche Stimme begleitet Cave durch seine ernste Ergebenheit wie in frühen Leonard Cohen-Songs, aus dem Nichts schwirren fragile, melancholische Flötenklänge heran, all das kündet von schwelender Bedrohung und ist doch von seltsam verzauberter Schönheit, Caves Stimme auf unbegreifliche Weise tröstlich, zu Beginn dieser intensiven Kommunikation zwischen Mensch und Mächten namens Push The Sky Away. Vielleicht spricht hier irgendwas mit einer kosmischen Stimme, vielleicht brütet irgendwas auf Rache, vielleicht begegnen wir auch einer Natur, die im Sinne Claras an Schönheit teilhaben möchte, es aber noch nicht kann („Tree don’t care what the little bird sings“), vielleicht ist die eingeschlossene Kraft in der Natur aber auch Erlösung. There is no need to forgive.
Bald werden uns die Bäume noch viel fremdere Zeichen geben, als Clara jemals ahnen konnte.
You wave at the sky with wide lovely eyes
WIDE LOVELY EYES klingt wie ein herzergreifendes, zärtliches Liebeslied, aber wide lovely eyes sind das, was jemand an einer Frau erkennt, die er aus der Ferne beobachtet: „And me at the high window watching“. Meerjungfrauen hängen mit ihrem Haar von Straßenlaternen, aber vielleicht gehören die auch zum Inventar des sicher Brighton-inspirierten „dismantled funfair“, den die Frau ebenso durchwandert wie einen Tunnel, der ans Meer führt. Und dort löst sie ihre Schnürbänder, arrangiert sorgfältig ihre Schuhe auf den Kieselsteinen und steigt ins Wasser, möglicherweise für immer („You wave and wave with wide lovely eyes / Distant waves and waves of distant love / You wave and say goodbye“). Aber war sie nicht schon immer im Verbund mit den Elementen? Wie sonst könnte sie dem Himmel zuwinken? Und wie sonst könnte der Himmel es verstehen, dieses Winken with wide lovely eyes, wenn er nicht, wie Clara es ausdrückt, Bezug hätte auf den Menschen?
Gehören die crystal waves und die waves of blue dem Meer oder den Augen der Frau?
„The night expands / I am expanding“: der magische Zusammenhang des Menschen mit der Natur, im vom Nick Cave abgestempelten Lyricsheet gar ohne /. Die zurückhaltende Gitarre, strummed throughout, schürt Spannung und klingt wie ablaufende Zeit. Und der Refrain klingt wie Wellen, unendlich sanfte Wellen.
All of you young girls where do you hide?
Down by the water and the restless tide
Das Wasserthema, bzw. das Thema Frau & Wasser, setzt sich fort in WATER’S EDGE. Mädchen kommen aus der Großstadt, um die local boys mit erblühender Laszivität um den Verstand zu bringen, nicht irgendwo, sondern on the water’s edge. Way down where the stones meet the sea. Rastlos pulsierender, voluminöser Bass und ominöse, mysteriöse Viola, dunkel und bedrohlich anschwellend, wie Wellen, die an den Strand schlagen. Die Mädchen with white strings flowing from their ears, vermutlich iPod, und a bible of tricks they do with their legs, aber alles in geisterhafter Atmosphäre, aus Caves voyeuristischer Perspektive. Vom will of love zum thrill of love zum chill of love: Warnung, während die Violinen ängstlich werden. Übergangsritus, erotisches Spiel mit dem Feuer, das Suchen nach einer Sprache, am Ende – auch wenn der Bass throb immer nur so tut, als käme gleich die Detonation – Bilder, die eine rape scene andeuten könnten, vielleicht kennt sich der Beobachter auch nur zu gut aus mit beflecktem Eros.
Dem a girl named Bee ausgeliefert war. Thema einer Schiffsladung von Nick Cave-Songs ist, daß Frauen zur Obsession werden können. Thema vieler Nick-Cave-Songs ist, daß es nicht immer ein gutes Ende nimmt. JUBILEE STREET spielt nach dem Mord an einer Prostituierten, aus der Perspektive eines Freiers, wohl des Mörders, der vom Red Light District, in dem Bee „a 10 ton catastrophe on a 60 pound chain“ anzog, nicht loskommt. Während die Akkordfolge des Songs immer intensiver wird, bewegt sich der Mann, dessen Name auf jeder Seite ihres kleinen schwarzen Buches stand, zwischen Scham und Euphorie, schließlich in eine übernatürliche Transformation: „I am alone now. I am beyond recriminations. The curtains are shut. The furniture is gone. I’m transforming. I’m vibrating. I’m glowing. I’m flying. Look at me now. I’m flying.“ Und er entschwindet in ein Crescendo, das die hypnotischen Linien von Ellis‘ wehmütig klagender Violine in einen majestätischen Streicherhimmel wandelt, ein unheimlicher Chor begleitet die Himmelfahrt.
„Niemand sonst steht mit so viel Eleganz und Stil im nebligen Eingang eines Bordells wie Nick Cave. […] „I got love in my tummy / And a tiny little pain“ singt er da, im Neonröhrenlicht, und es ist so zwielichtig, so gefährlich, so brutal, wie nichts anderes auf der Welt. Das Video der sinistren Vorabsingle ‚Jubilee Street‘, durch das Cave so herrlich großkotzig schlendert, ist keine sechzig Sekunden alt, da blickt man dem Abgrund auch schon ins Gesicht.“ [plattentests.de]
For I have seen your face
On the floor of the ocean
Auf dem Cover von Push The Sky Away wirkt Susie Cave, née Bick, wie eine langbeinige Meerjungfrau [Pirates of the Caribbean: On Stranger Tides hat gerade kanonisiert, daß MERMAIDS sich an Land mit Beinen versehen], die sich in das lichtdurchflutete Schlafzimmer verirrt hat und noch auf Zehenspitzen menschlichen Gang ausprobiert, erste vorsichtige Schritte auf festem Grund. Cave öffnet gerade die shutters, um Licht auf das zu werfen, was da erscheint. Doch, es ist tatsächlich seine Frau.
„Hey! Ho! / Oh baby don’t you go / All supernatural on me“, warnte Cave 2004 auf Abattoir Blues / The Lyre Of Orpheus. Andernfalls hole er den Grinderman. „Übernatürlich“ dort also Synonym für Unantastbarkeit, das erotisch Unerreichbare, „supernatural“ als Zustand verhinderter Erotik. Mittlerweile hat er ihr Antlitz jedoch wieder auf dem Meeresgrund gesehen („Die Vagina als Eingang in den Ozean, als Teil aller Ozeane …“ – Theweleit), verbindet in der Metapher das Sexuelle mit dem Übernatürlichen, was konfessionell in den Glauben an the Rapture mündet. Man kann an Gott, Meerjungfrauen oder 72 Jungfrauen an einer Kette glauben, why not why not. Außerdem sind sie unübersehbar da, die Nixen. „Fired from her crotch“, also aus dem Ozean der Einen, fällt Cave vornüber ins Narrativ des Ganz Anderen und kontempliert die Schönheit der Meerjungfrauen. Sie sonnen sich auf Felsen, unerreichbar für den Verstoßenen, sie winken und gleiten zurück ins Wasser.
Die Musik behauptet einfach, daß Cave den lockenden und gefährlichen Wasserfrauen tatsächlich zusieht. Eine schimmernd plätschernde Gitarre, so wie es nur in mythischen Welten plätschern und sprudeln kann. Blind, wer nicht das Sonnenlicht auf geheimnisvollem Wasser tanzen sieht. Ein klagender, sehnsüchtiger Klang ganz am Rande des Songs, vom numinosen Ende der wirklichen Welt. So ein Liebeslied, so einen Verschmelzungswunsch muß man erstmal schreiben können, betört von den erotischen Reizen der Nixen, also vom Ganz Anderen. Das Beste an beiden Welten ist, daß sie nur eine sind.
„I mean she’s so present within the record anyway. I think she’s walking in and out of that record all the time.“ – Nick Cave
Ein schabender Bass pocht bedrohlich auf einer einzigen Note, tief und mit niederträchtiger Beharrlichkeit. Flirrende, unheimliche Violinenklänge. Melancholisch funkelnde Pianospritzer. Im Keller des Songs, kaum hörbar, rumpelt ein wenig Percussion. Und Cave spricht wie zu sich selbst. Was das ergibt? Eine qualvoll schöne Ballade. Sie heißt WE REAL COOL (wie das Gedicht von Gwendolyn Brooks von 1959) und verachtet das Coole. Sie steht allein im Geisterhaften und will doch Ode sein an die Frau, mit der zusammen das Ende der wirklichen Welt erreichbar ist. Oder wäre. Wenn sie nur wüßte, was sie wissen müßte, nach all der Zeit, o Jesus. „The tension between the male and the female“ in Form eines bittersüßen Wer war es, der…? „Wrote you a book you never read“ – who was it? Yeah, you know.
„Who measured the distance from the planets / Right down to your big blue spinning world“. Der Liebende, der verzweifelt an cooler Gleichgültigkeit gegenüber Bedeutungen, die man in Herzschlägen und Tränen maß. „I hope you’re listening“, warnt Cave. „Who chased your shadow running out behind / Clinging to your high-flying heels / Who was it? / Yeah you know, we real cool.“
Real cool, die Bedeutungen zu negieren, ihnen gegenüber achtlos zu sein. Der Liebende kennt die Entfernung zu den Sternen, wie nur der Liebende sich in der wirklichen Welt auskennt, und warnt: nimm mir nicht das Wesen meines Wissens. Sonst bleiben nur die Faktoide der natürlichen Welt: „Sirius is eight-point-six light years away / Arcturus is thirty-seven“. Und „Wikipedia is heaven / When you don’t want to remember no more“. Wenn einem die Erinnerung genommen wird, an das Entfernungsmessen in der besten aller möglichen Welten.
And the sky will devour the children
FINISHING JUBILEE STREET beschreibt zunächst Poesie als die Macht von Bildern, neue Bilder zu beschwören. Ein Song, der davon handelt, wie sich nach dem Schreiben eines Songs eine Obsession in eine andere transformiert. „I had just finished writing Jubilee Street“, als er, Nicholas Edward Cave, in tiefen Schlaf fällt und beim Aufwachen davon überzeugt ist, daß er im Traum ein sehr junges Mädchen namens Mary Stanford zu seiner Braut gemacht hat. Und dann handelt der Song davon, wie die Traum-Information die Wirklichkeit verändert. Wieder schleicht sich ein Ganz Anderes ein, um die Instabilität der „natürlichen“ Welt zu dokumentieren. Die mädchenhafte Braut zieht Blitze aus dem Himmel, und Nicholas Edward Cave sucht Mary Stanford („I said Hey little girl where do you hide?“) in einer surreal gewordenen Wirklichkeit, die das Mädchen als numinose Macht zu durchweben scheint, irrationale Ängste auslösend. Der Himmel wird die Kinder verschlingen. Die Natur scheine ein „geheimes, verzehrendes Gift“ in sich zu haben, fand Clara. „Last night your shadow scampered up the wall / It flied and leaped like a black spider between your legs / And cried / ‚My children! My children! They are lost to us!‘ All of this in her dark hair! O Lord!“ Der unheimliche spoken-word account löst sich ab mit einem Refrain – „See that girl / Coming on down / Coming on down / Coming on down“ – auf die unfaßbar schönste, perplex machende Melodie, die je auf Erden zu hören war, vocals von Martha Skye Murphy. „Und von dieser phlegmatischen Frauenstimme, die sich da im Refrain ausbreitet, wird man nachts noch träumen“ [plattentests.de]. Und beim Aufwachen davon überzeugt sein, daß man im Traum…
HIGGS BOSON BLUES kennt keine andere Welt mehr als die surreale. „Can’t remember anything at all“ – ein halluzinatorischer road trip auf dem Lost Highway, unterwegs nach Geneva [Genf -> CERN], lange schwarze Straße, schwüle schwarze Nacht, am Kreuzweg Robert Johnson mit seiner 10-Dollar-Gitarre, und Luzifer, Johnsons Geschäftspartner, „a 100 black babies running from his genocidal jaw“. Robert Johnson und der Teufel, Mann, „Don’t know who is gonna rip off who“. Bäume stehen in Flammen. Im Lorraine Motel predigt ein Mann „in a language that’s completely new“. Ein Schuß, und alle bluten. Der da unterwegs ist mit dem Higgs Boson Blues, er will begraben werden mit einer mumifizierten Katze. Die Regenzeit ist nur noch simuliert. Miley Cyrus vollendet das Thema Frau & Wasser, sie treibt in einem kalifornischen Swimming-Pool. Tot oder lebendig. Es gibt nichts mehr zu erinnern außer: you’re the best girl I ever had. Regentage machen einen immer so traurig.
Freud bemerkt in seiner Studie zur Psychopathologie des Alltagslebens, daß Cave auf dem Textblatt nicht Miley Cyrus schreibt, sondern Mylie Cyrus (vgl. Kylie). Wie genau treibt das Starlet im Pool? Und warum?
„Well, I don’t know that she’s face down,“ sagt Cave. „Maybe she’s on a lilo. In some ways, if she is lying on a lilo then it’s even more of a devastating image, considering the nature of the song and the absolute spiritual collapse that’s happening all around her. No, let’s say she’s just on a lilo. Let me just say: I’ve got nothing particular against Miley Cyrus. The whole thing came about because I was in Madame Tussauds with my kids and they were hugging Miley Cyrus’s waxwork. Elizabeth Taylor as Cleopatra was in the next room. They were groping Miley Cyrus, and I’m going, well, hang on a second, you’ve got Elizabeth Taylor here. ‚Who?‘ And that had some impact on me, and that’s why she’s floating in the pool.“
Absolute spiritual collapse. Der da unterwegs ist, weiß nicht mehr, wohin noch und was tun; Geneva liegt am Ende eines Weges quer durch Zeit und Raum, irgendwo auf dem Weg epidemieverbreitende Missionare, im Lorraine Motel wurde Martin Luther King ermordet.
Joseph Lykken, am CMS-Experiment des Large Hadron Collider beteiligter Physiker, hat anhand der im Juli 2012 veröffentlichten Daten über das Higgs-Boson errechnet, daß das Universum instabil ist. Beim Jahrestreffen der AAAS (American Association for the Advancement of Science) faßte er seine Ergebnisse zusammen und formulierte dabei den Satz:
„The universe wants to be in a different state, so eventually to realize that, a little bubble of what you might think of as an alternate universe will appear somewhere, and it will spread out and destroy us.“
Woran erinnert der Satz, daß das Universum einen anderen Zustand annehmen will? Right. Lykken weiß aber wohl nichts von Claras Ahnung, daß etwas in der Natur um eine ganz andere Beschaffenheit ringt.
Die Odyssee durch die grotesken Szenen der spirituellen Katastrophe, der phantasmagorische und immer deliriösere trip, auf dem zwangsläufig alles durcheinanderwirbelt, erklärt nicht, warum Materie Masse hat. Aber wenn in der Erosion aller Wahrheiten deutlich wird, was der Welt Gewicht verleiht („you’re the best girl I ever had“), bleibt nur eins.
PUSH THE SKY AWAY. You’ve gotta just keep on pushing / Keep on pushing / Push the sky away.
„… assertion of self-belief in the face of uncertainty“ (Andy Gill). Nie war der psychosexuelle Feuer-und-Schwefel-Sermon so fern wie hier, wenn Nick Cave über diesem komplett anderweltlichen orgelartigen Klang mit einer der beseeltesten vocal performances seines Sängerdaseins schließlich sich selbst entsendet in den offenen Raum jenseits des Himmels.
Ein wunderschöner Anblick.
Alles Bekannte wandelt sich auf Push The Sky Away, etwas Ungreifbares, Traumgleiches verfremdet die Bilder, alles Ausgesprochene verweist auf Unausgesprochenes, seltsam schwerelos und schwebend bewegt sich alles hier, und so wie Mary Stanford Blitze aus dem Himmel zieht, so zieht Warren Ellis Klänge aus der Unergründlichkeit.
„Well, if I were to use that threadbare metaphor of albums being like children, then Push The Sky Away is the ghost-baby in the incubator and Warren’s loops are its tiny, trembling heart-beat.“ – Nick Cave
Was immer es war, es ging auf Mitternacht zu. Aljoscha saß am Bahnsteig 14 auf einem Gepäckwagen und sah in die Richtung, aus der die Lokomotive kommen mußte. Er sah, wie sich die beiden Silberlinien verloren in einem Korridor aus Nacht. Der irgendwo überging in den Fluß der Milchstraße. Wohin die entfesselten Dienerinnen des Dionysos den Kopf des Orpheus schleuderten.
SOMETHING’S GOTTEN HOLD OF MY HEART
Weil er von ihnen nichts wissen wollte, hatten die Mänaden Orpheus zerrissen.
KEEPING MY SOUL AND MY SENSES APART
In Aljoschas Walkman hatte dieses Stück begonnen, dieser Song, dieses 3-Minuten-45-Opus in epischer Breite, das seit Wochen alle Gründe in Abgründe stürzte, alles Sinnen und Sehnen begleitete, sein Treiben im Äther der süßen Melancholie,
SOMETHING’S GOTTEN HOLD OF MY HAND
sein langsames Entschwinden, seinen Tod im Leben.
DRAGGING MY SOUL TO A BEAUTIFUL LAND
Es war ein Lied voll hoffnungsloser Hoffnung, wie der Gesang von Matrosen nach der Seelenmesse,
TURNING ME UP AND TURNING ME DOWN
es ließ ein Licht aufgehen an dunklen Gestaden und verband alles mit allem,
MAKING ME SMILE AND MAKING ME FROWN
alles, wofür die Sonne scheinen mußte, alles, was der Mond viel besser wußte.
I’VE GOT TO KNOW IF THIS IS THE REAL THING
Und plötzlich war es die Hymne der Meuterei.
I’VE GOT TO KNOW WHAT’S MAKING MY HEART SING
Rebellionsgesang! Aufruhr vor der Admiralskajüte!
Die ganze Platte, Kicking Against The Pricks, war Leda eigentlich ein Greuel. Nick Cave & The Bad Seeds erschienen als Experten im Zerlegen gewohnter Strukturen, als Schinder des schmeichelnden Wohllauts, als Lästerer des Lieblichen, die mit fachmännisch gesenkten Köpfen einen Rhythmus zur Strafaktion erklärten und alle Melodien mit Stahlbürsten streichelten. Ausgerechnet dieses Stück nun gab sich betörend schön mit täuschend echter Harmonie und erhob sich strahlend, um auch Leda zu gefallen. Der Tod im Leben ist ein Meister der Ironie. Denn aus dem Wohlklang sprangen Würgeengel. Dieses Stück war die Verschwörung gegen das, was es zu sein schien. Dieses Lied wollte nicht nur herausfinden, was ein Liter Milch kostet. Es kippte Tod und Auferstehung in die Milchtüte.